Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Mittwoch, 29. November 2023

Rezension: Seid friedlich mit Loriot

 



Deutschland 2023

Seid friedlich mit Loriot
Text und Illustration: Loriot
Herausgeber: Susanne von Bülow und Peter Geyer
Genre: Satire, Kunstbuch
Format: Hardcover



100 Jahre Loriot. Die älteren unter uns werden ihn sich mehr als je zuvor zurückwünschen, ein Stoßgebet an höhere Mächte senden ihn in solch unruhigen Zeiten noch einmal ins Leben zurückzurufen. Die etwas jüngere Generation wird sich vielleicht fragen, wer oder was Loriot ist und ob er, sie oder es einen TikTok Account besitzt. Wundern würde es vermutlich keinen, wenn diese Frage gestellt werden würde. Deutschlands vermutlich größter Humorist ist 2011 im Alter von 87 Jahren verstorben. Vor einigen Tagen wäre er 100 Jahre alt geworden. Die Berichterstattung war groß, zudem gab/gibt es anlässlich des Geburtstages noch einige Ausstellungen zu Ehren Loriots. Eine gute Gelegenheit, Loriot zu diesem Anlass wiederzuentdecken oder erstmals für sich zu entdecken.

Doch wer war eigentlich Loriot? Üblich sind solche kurzen Pseudonyme eher für frankobelgische Künstler. Hinter Loriot versteckt sich Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow. Die meisten werden ihn wohl eher unter der Kurzform des Namens kennen, Vicco von Bülow. Übersetzt wird das französische Wort Loriot zum deutschen Pirol, ein Vogel und auch das Familienwappen der von Bülows.




In dem kompakten Hardcover-Büchlein "Seid friedlich mit Loriot" widmet sich Loriot Themen, die aktueller nicht sein könnten. Geopolitisch aber auch lokal erleben wir schwere Zeiten, wie schon lange nicht mehr. Es herrschen weltweit kriegerische Konflikte und die Lage in der guten alten Bundesrepublik ist so angespannt wie lange nicht mehr. In frechen Illustrationen nimmt sich Loriot den Krieg vor, die Armee, die Raumfahrt und Altkanzler Adenauer. Die kleinen Comics sind thematisch herrlich überzeichnet, surreal und dennoch auf den Punkt gebracht. Loriot nimmt hier ernste Themen nicht unsensibel aufs Korn, er geht den Kern der Sache an und fertigt Karikaturen der weltlichen Probleme. Doch die Botschaft kommt immer unmissverständlich an: Seid friedlich zueinander. Loriot besitzt nur eine Waffe und diese heißt Humor, kaum wer beherrschte diese mächtige Waffe mehr als er.

Doch Loriot nimmt sich nicht nur den schweren Themen in diesem Band an. Er zeichnete auch immer die kleinen Menschen, die nicht täglich im Rampenlicht stehen. Dich, den Leser dieses Artikels. Mich, den Verfasser dieses Artikels und deine Eltern, deinen Friseur und alle Leute, die du vermutlich noch so kennst. Loriots Karikaturen, Sketche und Comics richteten sich immer auch an die Durchschnittsbürger unserer Gesellschaft. Die chronisch unzufriedene, meckernde Bevölkerung. Hier gibt in diesem Band mit der Firma Poppe & Co. einige herrlich überspitzte Firmenideen und Situationen. "Für einen Poppe gibt es kein Unmöglich". So wird gerne mal provisorisch das ausgesessene Sofa von Senioren sabotiert repariert, den einzig verfügbaren Klempner für einen tropfenden Wasserhahn aus seinem Urlaub in Ägypten zu entführen einfliegen zu lassen und ein ganz besonders ausgeklügelter Personenschutz für den Bundeskanzler. Bei den Poppe-Comics wird schnell klar, worum es geht: Sinnlose Verschwendung oder einfach nur eine herrliche Präsentation der sogenannten Rube-Goldberg-Maschine.

Das Hardcover-Buch umfasst 130 Zeichnungen, einige davon teilweise koloriert und etliche mit humoristischen Texten unterlegt. Was ich mir hier vielleicht noch gewünscht hätte wäre ein Vor- und Nachwort gewesen (vielleicht ein älterer Text von Loriot oder etwas aktuelles aus dem Umfeld von Loriot), um das Buch zum 100. Geburtstag des Künstlers noch etwas persönlicher zu gestalten. Ein paar chronologische Angaben zu den Illustrationen wären ebenfalls noch ganz nett gewesen, viele davon kann man bei ihrer Thematik aber auch problemlos einem Jahrzehnt zuordnen.



 


Abschließende Gedanken

"Seid friedlich mit Loriot" ist ein gelungenes kleines Buch zum 100. Geburtstag des großen Humoristen. Frech, witzig aber sich auch immer der ernsten Lage bewusst zu sein - dies war eine der Stärken von Loriot und all diese Eigenschaften machen sein so umfassendes Werk auch heute noch so zeitlos. Loriot ist ein Künstler, der in 1-2 Bildern und wenigen Sätzen eine komplette Geschichte erzählen kann. Manchmal ist der Text dazu nicht einmal nötig. In dieser Hardcover-Ausgabe (von der es auch noch weitere Bände gibt) bekommt man einen perfekten Einblick in die Welt, die uns Loriot hinterlassen hat. Der Titel des Buches erzählt in zwei Wörtern dann nochmal eine ganz eigene Geschichte, die heutzutage wohl eine so große Bedeutung hat wie nie zuvor: Seid friedlich.




Rezension verfasst von Aufziehvogel

Mittwoch, 15. November 2023

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer: Der neue Roman von Haruki Murakami erscheint am 12.01.2024 bei DuMont

 




Japan 2023

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
Originaltitel: Machi to Sono Futashika na Kabe - The City and its Uncertain Walls
Autor: Haruki Murakami
Übersetzung: Ursula Gräfe
Veröffentlichung: 12.01.2024
Formate: Hardcover (34 Euro), E-Book (27,99 Euro)
Seitenzahl: 672



Inhalt (Pressetext)

Die Erinnerung an das Mädchen und die ummauerte Stadt lässt ihn nicht los. Schließlich kündigt er und nimmt eine Stelle in einer alten Bibliothek in der Präfektur Fukushima an. Die Realität gerät knirschend ins Wanken – und der Erzähler muss sich fragen, was ihn an diese Welt bindet.


Erst am 10. Oktober berichtete ich darüber, Haruki Murakami habe im April dieses Jahres in Japan einen neuen, langen Roman veröffentlicht und kaum jemand wüsste davon. Doch bereits kurz nach meiner Rezension zu Honigkuchen habe ich von der freundlichen Frau Zimmermann vom DuMont Verlag erfahren, dass die deutsche Übersetzung zum Roman "Machi to Sono Futashika na Kabe - The City and its Uncertain Walls" bereits am 12.01.2024 in Deutschland erscheint. Ein mehr als schönes nachträgliches Geburtstagsgeschenk für mich, der in der kalten, trüben Winterjahreszeit am 09.01 feiert. Aber der 12.01 ist natürlich nicht gewählt worden, um mir nachträglich eine Freude zu bereiten - am 12.01 feiert Japans bekanntester zeitgenössischer Autor seinen 75. Geburtstag.

Mit knapp 700 Seiten erwartet uns hier mal wieder ein wahres Schwergewicht. Übersetzt wird die deutsche Fassung wie immer von der großartigen Ursula Gräfe, die den Großteil sämtlicher Werke von Murakami bereits in die deutsche Sprache übertragen hat.

In meinem verlinkten Artikel vom 10.10 habe ich ein wenig über die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte des Romans geplaudert.

Der Januar fängt also gar nicht so trüb diesmal an, wie ich vermutet habe. Der Roman erscheint zeitgleich bei DuMont als Hardcover und als E-Book.

Sonntag, 12. November 2023

Lost Media: Der verlorene Zeichentrickfilm zu Asterix und die goldene Sichel

 



Erst vor wenigen Wochen erschien mit "Asterix und die Weiße Iris" das neuste Asterix-Album Nummer 40, erstmals getextet vom neuen Schreiber Fabcaro (Fabrice Caro). Doch kehren wir zurück ins Jahr 1962, als das zweite offizielle Asterix-Abenteuer (bei uns erst als fünfter Band erschienen) in Frankreich erschienen ist: "Asterix und die goldene Sichel" (Astérix et la Serpe d'Or). Im direkten Vergleich zum Erstling "Asterix der Gallier" etablierte das zweite Abenteuer bereits etliche bekannte Stilmittel, die die Comicreihe über Jahrzehnte noch prägen sollten. Allen voran war es das erste Abenteuer, wo Obelix als zweiter Hauptcharakter neben Asterix etabliert wurde.

Als 1967 die erste Zeichentrick-Adaption zu einem Asterix-Album erschienen ist (Asterix der Gallier), waren die beiden Asterix-Schöpfer Goscinny und Uderzo außer sich. Der Film ist ohne irgendeine Kontaktaufnahme zu den beiden Machern der Comics entstanden und beide erfuhren von der Existenz des Filmes erst kurz vor dessen Fertigstellung. Der Film entstand mithilfe des Comicverlags Dargaud (benannt nach seinem Gründer Georges Dargaud) und für die Animationen zeichnete sich das Studio Belvision aus. Das Fazit von Goscinny und Uderzo fiel bei einer Testvorführung mehr als verhalten aus und beide waren sich einig darüber, so sollen zukünftige Asterix-Adaptionen nicht aussehen.

Was den beiden zu dem Zeitpunkt da schon klar gewesen sein muss, es war nahezu komplett die Filmadaption zum zweiten Album abgeschlossen sowie bereits ein dritter Film in Auftrag gegeben, der später als "Operation Hinkelstein" bekannt werden würde, was jedoch erst viele Jahre später (1989) und nach dem Tod von Goscinny realisiert wurde. Die Verfilmung zu "Die goldene Sichel" sollte mit rund 68 Minuten eine originalgetreue Umsetzung des Comics werden und war laut Aussagen der Verantwortlichen weit in der Produktion fortgeschritten. Erneut war Belvision für die Animationen verantwortlich, diesmal fiel das Fazit der beiden Schöpfer aber noch gnadenloser aus. Goscinny und Uderzo sollen außer sich gewesen sein. Etliche Dekaden später wurde Uderzo noch einmal nach der verworfenen Adaption gefragt worden sein und schmunzelnd soll dieser beteuert haben, dass die Animationsqualität des Films unterirdisch war.

Goscinny und Uderzo ordneten bei ihrem Verleger Dargaud an, sämtliches Material zur Verfilmung zu beseitigen, der anschließend den kritischen Schöpfern gegenüber nachgab.

Es heißt, bis auf einige wenige Negative, die präserviert werden konnten (und in Belgien auf einer Ausstellung namens "Astérix: le Monde Miroir" vorgestellt wurden), sei von dem fertiggestelltem Material nichts mehr übrig geblieben. Zudem muss man bedenken, die komplette Produktion war schon damals noch nicht zu 100% abgeschlossen und der Film wurde vor seiner Fertigstellung bereits abgesägt.

Ob es nicht wirklich noch irgendwo bewegtes Material gibt, kann man nicht mit Gewissheit sagen. Aber bedenkt man, wie ernst es dem Duo war, kann man davon ausgehen, dass diese verlorene Adaption waschechtes Lost Media Material ist.

Die Frage, ob man sich noch einmal an eine Adaption wagen wird, steht ebenfalls in den Sternen. Die meisten der 40 Asterix-Comics wurden nie adaptiert. Und die vorhandenen Adaptionen sind häufig Eigenkreationen die entweder lose auf mehreren Comic-Abenteuern basieren oder komplett aus Originalmaterial bestehen, wie auch schon die neuen 3D animierten Filme, wo lediglich zu Beginn "Asterix und die Trabantenstadt (2014)" relativ authentisch der Comic adaptiert wurde. Da aber besonders die neuen Filme auf Spielfilmlänge setzen und die Comics mit ihren 45-47 Seiten pro Album nur selten genug Material für einen kompletten Spielfilm bieten ohne Lückenfüller-Material einbauen zu müssen, sind weitere originalgetreue Adaptionen der Comics eher auszuschließen.

Aber das soll die Sache nicht schmälern, immerhin kann das wundervolle Original als Comic weiterhin druckfrisch genossen werden. Und durch die vielen Filme kann man sich zumindest seine Lieblingsstimmen aus den deutschen Synchronfassungen zu den Textblasen denken!



 


Alle Bilder stammen aus der Lost Media Wiki. Dort ist zudem noch ein kompletter Artikel zur Adaption (auf Englisch) sowie weiteres seltenes Bildmaterial verfügbar: Lost Media Wiki Eintrag (Link öffnet ein separates Fenster)


Nachtrag 17.11
Wenn schon, dann auch richtig! Als ich gerade in meine eigene kleine Asterix-Sammlung geblickt habe, habe ich sehr häufig auf den Covern von ein paar Sonderausgaben "Dargaud" gelesen. Hierbei handelte es sich nie um die Filmproduktionsfirma, die die Rechte an den Filmumsetzungen besaßen, Dargaud, benannt nach seinem Gründer George Dargaud, ist der Verleger der Asterix Comics in Frankreich und übernahm später das wohl bekannteste Comic-Magazin Frankreichs, Pilote.
Für die Ungereimtheiten bitte ich zu entschuldigen, der Text wurde bereits angepasst. Getrennt hat man sich vom Animationsstudio Belvision.

Donnerstag, 2. November 2023

Aufziehvogel fragt nach: Eine kleine Tasse Tee mit Clarissa Bühler

 



Es ist schon wieder weit über 5 Jahre her, wo ich meinen letzten Gesprächsgast hier auf "Am Meer ist es wärmer" in Empfang nehmen durfte. Eine junge Autorin, die mich mit ihrem Debütwerk begeistern konnte, hat sich mit mir auf eine virtuelle Tasse Tee getroffen und sich meinen Fragen gestellt. Die Rede ist von Clarissa Bühler, der Autorin von "Wechselbalg". Meine Rezension zu dem Buch findet man hier: Wechselbalg Rezension (Link wird in einem neuen Fenster geöffnet)

Ich konnte mit Clarissa in der vergangenen Zeit viele interessante Gespräche führen und habe mich dementsprechend gefreut, sie gleichzeitig als Autorin wie auch als Mensch kennenlernen zu dürfen. In diesem Sinne möchte ich mich noch einmal an dieser Stelle bei Clarissa bedanken, dass sie diesem Interview zugestimmt hat.

Und ohne viel drumherum gehört die Bühne nun der Autorin. Viel Spaß mit dieser kleinen Fragerunde.!
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Aufziehvogel: Hallo Clarissa. Bitte erzähl uns doch etwas von dir und deinen Werdegang als Self-Publishing Autorin.

Clarissa Bühler: Lieber Marcel, erst einmal ganz herzlichen Dank dafür, dass du mir die Gelegenheit gibst, mich auf deinem Blog vorzustellen! Deine und Lavandulas Rezensionen habe mich vom ersten Moment an durch ihren Tiefgang sehr beeindruckt. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass du bereit warst, auch mein Buch zu lesen. 


Zu meiner Person: Ich bin Jahrgang 1989, gebürtige Deutsche, lebe allerdings seit sieben Jahren im schönen Norden Englands. Ich bin als Schreiberin selbstständig und verfasse u. a. Artikel für die "Heimzeitung" der exzellenz Miller GmbH (Köln). Weil das zum Broterwerb allerdings leider nicht reicht, jobbe ich nebenher in einem kleinen Café. 

Geschichten haben mein Leben schon immer begleitet. Bereits im Kindergartenalter, noch bevor ich überhaupt schreiben konnte, habe ich sie mir ausgedacht. Ich habe sie dann meiner Tante diktiert, die sie für mich zu Papier gebracht hat. 

Als Jugendliche habe ich begonnen, an meinem ersten Roman zu arbeiten. Damals noch zu einem ganz anderen Thema und mit anderen Charakteren als "Wechselbalg", aber ich habe meine Geschichten schon immer in voller Länge vor mir gesehen. Ich könnte keine Kurzgeschichten schreiben - ich denke mir immer sämtliche Hintergründe der Personen aus, ihre Vorgeschichten, etc. und möchte so viel davon zu Papier bringen, dass ich das niemals auf nur ein paar Seiten zusammenfassen könnte. (Du hast ja bei "Wechselbalg" gesehen, dass nicht mal ein ganzes Buch dazu reicht! 😅)

Ich habe sehr viele verschiedene Romane angefangen und an ihnen gleichzeitig geschrieben. Früher hatte ich allerdings nie das Durchhaltevermögen, um einen von ihnen tatsächlich zu vollenden. Ich musste erst langsam lernen, dass zum Schreiben nicht nur gehört, meine Lieblingsszenen zu Papier zu bringen, sondern auch all die vielen, "alltäglichen" Szenen dazwischen darzustellen, die für das Verständnis der Geschichte so wichtig sind. 

Außerdem kam natürlich erschwerend hinzu, dass es sehr anstrengend ist, sich neben einem normalen Job noch hinzusetzen und an einem Buch zu arbeiten. Dazu braucht man nämlich einiges an Kraft und vor allem auch innerer Ruhe, die einem nach einem anstrengenden Arbeitstag oft fehlen. In der Hinsicht war Lockdown für mich ein Segen, weil ich zum ersten Mal Zeit hatte, mich ganz auf meine Bücher zu konzentrieren. 

Dass ich mein Debütwerk einmal als Selfpublisherin herausbringen würde, war eigentlich nicht geplant. Ich hatte mich an mehrere Verlage gewendet und wollte es eigentlich auf traditionelle Art veröffentlichen. Ich denke, es träumt wohl jede*r Autor*in davon, sein / ihr Buch in gedruckter Form im Buchhandel zu sehen! Leider hatte ich damit kein Glück und musste daher den etwas unkonventionellen (allerdings immer beliebteren) Weg des Veröffentlichens im Eigenverlag einschlagen. Inzwischen bin ich für diese Entwicklung sehr dankbar, denn dadurch kann ich als Schriftstellerin viel freier sein, als wenn ich den Vorgaben eines Verlages folgen müsste.


Aufziehvogel: Wechselbalg ist selbst für ein Debütwerk ein unglaublich forsches, komplexes Buch. Woher kommen all die Inspirationen für die Geschichte? Besonders die verschiedenen Erzählstile im Buch,die für eine Menge Abwechslung sorgen.

Clarissa Bühler: Wenn ich das wüsste. 😅

Der kreative Prozess ist etwas schwierig zu beschreiben, vor allem, weil viele Faktoren dabei eine Rolle spielen. Aber grundsätzlich ist es so, dass ich in meinen Geschichten immer Ereignisse verabeite, die mir selbst wiederfahren sind, nur eben in abstrakter Form. Wenn ich durch eine schwierige Phase in meinem Leben gehe, finde ich es leichter, mir vorzustellen, dass jemand anderes sie durchlebt. Dadurch kann ich sie quasi von außen betrachten und sie fühlt sich weniger schlimm an. 

Viele Sachen zusammengenommen haben zu der Entstehung von "Wechselbalg" geführt. Aber der Haupteinfluss waren die Charaktere, die das Buch inspiriert haben und ohne die ich es nie aufgeschrieben hätte. Durch sie entstanden auch die unterschiedlichen Erzählperspektiven, die die Leser*innen in ganz verschiedene Lebenswelten einführen sollen. Ich finde es spannend, mit verschiedenen Blickwinkeln und Ausdrucksweisen zu spielen und gerade dadurch auch meine Personen zu charakterisieren. Alle drei Charaktere entsprechen Teilen meiner Persönlichkeit, und mir gefällt es, sie mal stärker hervortreten zu lassen, sie auf die Spitze zu treiben und mit ihnen zu spielen.


Aufziehvogel: Eine Frage, die mich ganz besonders interessiert: Du präsentierst hier mit Mo, Joe und Marie 3 sehr verschiedene Charaktere. Charaktere, die alle sehr eigenständig sind und auch alle ihr eigenes Gepäck mitbringen. Wenn man ein Buch dieser Größenordnung schreibt, wie geht man solche Charaktere an? Schreiben sie sich von selbst während die Geschichte ihren Lauf nimmt oder aber hast du vor der Geschichte da schon einen Plan entworfen, wie sie sich entwickeln?

Clarisa Bühler: Was die Hauptfiguren angeht, so sind sie alle eines Tages einfach in mein Leben getreten. Ich weiß, das klingt vermutlich absurd, aber ich habe sie mir nicht im Vorhinein auf dem Reißbrett ausgedacht, sondern sie haben sich einfach zu mir gesellt, so, als hätte ich eine neue Bekanntschaft gemacht. Ich habe sie so lebendig vor mir gesehen, als wären sie "echte Menschen", habe ihre ganz individuellen Eigenschaften gefühlt, ihre Macken und Stärken, ihre Wünsche und Träume, ihre Vorlieben und Ziele. 

Das Spannende war, dass ich sie im Laufe des Schreibprozesses immer besser kennengelernt habe und sie auch einiges mitzureden hatten. Ich kam mehrmals an Stellen, an denen ich die Geschichte eigentlich in eine bestimmte Richtung lenken wollte, bei denen ich dann aber merken musste, dass das überhaupt nicht zu meinen Charakteren gepasst hätte und dass für sie, zu dem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben, etwas ganz Anderes wichtig war. 

Ich bin keine Autorin, die den gesamten Ablauf eines Buches bereits im Vorhinein methodisch festlegen würde, Kapitel für Kapitel, sondern ich lasse mich von der Geschichte mittragen. Ich habe mir im Vorhinein also nicht überlegt, dass meine Personen diese oder jene Eigenschaft mitbringen müssen, damit ich mit der Geschichte diesen oder jenen Effekt erzielen kann. Tatsächlich stand die Storyline für mich anfangs gar nicht im Vordergrund, sondern ich habe vielmehr die drei Charaktere kennengelernt, und aus ihnen hat sich dann die Geschichte entwickelt. So, als ob sie mich in ihre Welt mitgenommen hätten und mir erzählt hätten, was ihnen passiert ist.


Aufziehvogel: Planst du eine Fortsetzung zu Wechselbalg? Die Geschichte endete, zumindest für mich, relativ offen.

Clarisa Bühler: Ja, eine Fortsetzung ist auf jeden Fall geplant. Wenn ich die Geschichte so, wie sie derzeit ist, nach diesem ersten Buch, enden lassen würde, wäre sie unfertig und würde mehr Fragen offen lassen als beantworten. Ich habe im Buch ja sehr viele verschiedene Themen angesprochen und Story-Stränge begonnen; die möchte ich alle noch logisch zusammenführen und für meine Leser*innen in ein Gesamtbild aufgehen lassen. Dir ist sicher beim Lesen aufgefallen, dass es noch einige scheinbar losen Enden und Widersprüche gibt sowie auch einige Szenen, von denen du selbst sagtest, dass man sie hätte kürzen und die Story dadurch straffen können. Die meisten von ihnen haben tatsächlich eine Bedeutung, auch wenn sie erst später klar werden wird. Du darfst also gespannt sein. 😉 

Auch hier muss ich allerdings zugeben, dass mich der Schreibprozess überrascht hat. 😅 Anfangs hatte ich geplant, nur ein einziges Buch zu schreiben, weil der ganze Spannungsbogen in meinem Kopf relativ kompakt war. Aber mir ist während des Schreibens aufgefallen, wie viel es eigentlich zu den Charakteren und ihren Geschichten zu sagen gibt, und wie viel in ihren Leben passiert, und dabei habe ich gemerkt, dass ich das unmöglich alles in einem Buch abhandeln konnte. Das hätte sonsten epische Ausmaße angenommen. 😂

Ich bin mir derzeit noch nicht sicher, wie viele Bände ich insgesamt benötigen werde, um alles zu erzählen, aber vermutlich werden es um die vier werden.


Aufziehvogel: Zum Schluss erzähl mir doch bitte, wie es für dich als Autorin weitergehen wird? Allen voran aber auch von deinen bisherigen Erfahrungen als Autorin, die ihr Debütwerk veröffentlicht hat. Das Leben als Schriftstellerin - ist es ein Traum, der hier in Erfüllung gegangen ist oder ein Mittel dazu, sich vielleicht einen ganz anderen Traum zu erfüllen?

Clarisa Bühler: Mein großer Traum ist es, eines Tages als Autorin Erfolg zu haben und vom Schreiben meiner Bücher leben zu können. Davon bin ich leider noch weit entfernt. Ich muss zugeben, dass der Weg für mich bisher sehr steinig war. Der Prozess, mein erstes eigenes Buch zu schreiben und zu veröffentlichen, war sehr von der Ernüchterung geprägt, dass das Leben eben doch ganz anders verläuft, als man es sich vorher ausgemalt hat. 

Derzeit stehe ich vor der Herausforderung, dass es noch lange nicht reicht, ein Buch zu schreiben - wenn es fertig ist, beginnt die nicht weniger anspruchsvolle Phase, es zu vermarkten. 😅 Das ist typischerweise natürlich etwas, das einem ein Verlag abnehmen würde. Als Selfpublisherin muss ich das allerdings selbst erledigen, und das fällt mir nicht leicht, denn ich bin von Natur aus eigentlich sehr schüchtern und halte mich im Internet eher bedeckt. Zumal ich von Marketing und Social Media keine Ahnung habe. 😅 Ich habe zum Glück sehr viele nette Blogger*innen kennengelernt, die bereit waren, mir auch als unbekannte Autorin eine Chance zu geben und mein Buch zu lesen. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. 

Ein Mittel dazu, mir einen anderen Traum zu erfüllen, könnte das Schreiben für mich nie sein - denn ich kenne nichts Schöneres, als Geschichten zu Papier zu bringen, neue Charaktere kennenzulernen, in ihre Welten einzutauchen und zu versuchen, das mit ihnen Erlebte für andere wiederzugeben. Schreiben ist das Einzige, was ich in meinem Leben wirklich tun möchte; das Einzige, was mir wirklich Erfüllung schenkt. Kein anderer Traum könnte für mich größer sein als der, eine professionelle Schriftstellerin zu sein. 

Für mich heißt es daher weiter durchhalten, weiterhin in meinem normalen Tagesjob arbeiten und nebenher weiter schreiben, bis sich mein Wunsch eines Tages hoffentlich erfüllen wird. 

Vielen Dank für das Interview, und ich wünsche dir und Lavandula alles Gute für euren Blog!

Herzliche Grüße,
Clarissa



Eine Zugabe, die ich auswählen durfte. Eine kleine Anekdote von Clarissa Bühler, wie sie eigentlich zum Schreiben kam:


Geschichten haben in meinem Leben schon immer eine große Rolle gespielt. Ich weiß noch, wie ich sie mir immer ausgedacht habe, als ich noch ein kleines Kind war (bevor ich zur Schule gegangen bin). Weil ich damals noch nicht schreiben konnte, habe ich sie immer meiner Tante diktiert! 

Zum Schreiben an sich gekommen bin ich, als ich ungefähr in der sechsten Klasse war. Ich habe mich eines Nachmittags zu Hause einfach hingesetzt und meine erste Geschichte geschrieben. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich dazu kam, und wieso ausgerechnet an dem Tag. Aber von da an hat mich das Schreiben immer begleitet, und ich habe eine Geschichte nach der anderen geschrieben. 

Ein eigener Roman stand bei mir schon immer auf der Agenda; also es ist nicht so, als ob mich etwas Besonderes dazu veranlasst hätte, damit anzufangen. Ich habe meine Geschichten immer als vollständige Bücher in mir gesehen und deshalb auch schon als Sechzehnjährige an meinem ersten Roman gearbeitet. Ich habe sehr viel daran geschrieben, aber ich hatte damals noch nicht die Fähigkeiten und das nötige Handwerkszeug, um ihn fertigzustellen. (Spannungsbogen, Ausdauer, etc.)

Auch später habe ich das Roman-Schreiben für eine lange Zeit aufgeschoben, weil ich immer auf den richtigen Zeitpunkt wartete - als ich noch jünger war, dachte ich immer, dass ich mich eines Tages in Lebensumständen befinden würde, die es mir erlauben würden, mich da einfach mal dranzusetzen, also Tage, Wochen, Monate am Stück zu schreiben und mich darauf zu konzentrieren. 
Dazu braucht es auch eine bestimmte Art von innerer Ruhe, die ich eigentlich nicht habe - also, dass man sich keine Sorgen um die Miete machen muss, um Stress mit den Arbeitskollegen, um unschöne Erlebnisse bei der Arbeit, etc. 
Und dann habe ich natürlich auch immer auf den Kuss der Muse gewartet, denn auch wenn ich die Geschichte vor mir sah, sie zu Papier zu bringen, ist dann noch mal ein anderes Ding. Ich habe zwar viele einzelne Szenen geschrieben, aber nichts Zusammenhängendes. Da gab es noch sehr viel dazwischen, das noch ausgefüllt werden musste.
(Anmerkung Aufziehvogel: Dieser Abschnitt stammt aus einer privaten Konversation, die ich mit der Autorin führte)


Wechselbalg ist als Kindle E-Book erhältlich: Amazon
(Kein Affiliate-Link)



Foto: Privat