Spanien
Papyrus
Originaltitel: El infinito en un junco. La invención de los libros en el mundo antiguo
Autorin: Irene Vallejo
Veröffentlichung: 27.04.2022
Verlag: Diogenes
Übersetzung: Maria Meinel und Luis Ruby
Genre: Sachbuch, Antike Literatur
"Niemand hat die Farben Alexandrias und die körperlichen Eindrücke, die der Ort in ihm auslöste, präziser beschrieben als er. Die erdrückende Stille und den hohen Sommerhimmel. Die Tage in sengender Hitze. Das strahlende Blau des Meeres, die Wellenbrecher, die gelben Ufer. Im Landesinneren der Mariout, zuweilen konturenlos wie eine Fata Morgana. Zwischen den Wassern des Hafens und des Sees unzählige Straßen voller Staub, Bettler und Fliegen. Palmen, Luxushotels, Haschisch, Trunkenheit. Die trockene, vor Elektrizität knisternde Luft. Abende in Zitronengelb und Lila. Fünf große Ethnien, fünf Sprachen, ein Dutzend Religionen, das Spiegelbild von fünf Flotten im öligen Wasser. In Alexandria, schreibt Durrell, erwacht das Fleisch zum Leben und rüttelt an den Gitterstäben seines Gefängnisses. Im Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt schwere Zerstörungen. Im letzten Roman des Quartetts beschreibt Clea eine melancholische Landschaft. Gestrandete Panzer am Meeresufer, die Dinosaurierskeletten gleichen, die großen Kanonen wie umgestürzte Bäume in einem versteinerten Wald, die Beduinen, die sich in Minenfelder verirren. Die Stadt, schon immer ein Ort der Perversionen, schließt er, ähnelt jetzt einem riesigen öffentlichen Pissoir."
Ich habe hier schon etliche interessante Sachbücher besprochen. Es ist noch gar nicht so lang her, da besprach ich mit Life Lessons auf dem Amazonas bereits ein unglaublich gelungenes Sachbuch, welches sich nicht trocken mit einem Thema auseinandersetzte sondern sich beinahe schon so abenteuerlich wie ein richtiger Roman las. Obwohl thematisch auf einem komplett anderen Ufer angesiedelt, schlägt die Spanierin Irene Vallejo mit "Papyrus" in eine ähnliche Kerbe. Der Titel ist Programm. Ein Buch über Bücher. Auf über 700 Seiten (in der deutschen Übersetzung) verteilt könnte das Thema also so staubig wie ein antiker Papyrus sein, doch die Philologin mit einer Liebe für die Antike hat es vollbracht, aus dieser Thematik etwas einzigartiges zu erschaffen. Dies wird direkt im Prolog deutlich, der auch zum Auftakt eines großen, historischen Romans gehören könnte.
Die Autorin stellt sich nach dem abenteuerlichen Prolog vor. Vor lauter Büchern weiß sie in ihrer Wohnung manchmal gar nicht, wo sie hin tritt. Sie berichtet über die riesige Überwindung, die es kostete, dieses Buch zu verfassen. Die schier unendliche Recherche und dazu noch die Gabe zu besitzen, die antike Thematik in eine flotte, moderne Sprache umzuwandeln sehe ich jedoch als größte Hürde, wenn man sich so ein ambitioniertes Projekt vornimmt. Beim hervorheben meines Eröffnungszitats für diese Rezension konnte ich mich kaum bremsen und beinahe noch den Rest der Seite hier hinzugefügt.
Irene Vallejo nimmt uns hier mit auf eine Zeit- und Weltreise durch die Geschichte der Bücher. Angefangen im antiken Griechenland, hin zu der Bibliothek von Alexandria, weit hinaus über den Eroberungsfeldzuges von Alexander dem Großen der zum einschlafen keinen Teddybär brauchte, sondern sein Exemplar der Ilyas. Der Weg dieser langen Reise geht bis in unsere Moderne Gegenwart, wo das E-Book mittlerweile ein alter Hut ist und gedruckte Buch aber bis heute nicht abgelöst hat. Die Autorin verpackt all diese verschiedenen Epochen des Buches in kleine, unterhaltsame Geschichten, die historisch alle großartig recherchiert wurden. Mit einer lockeren Sprache garniert blättern sich die einzelnen Seiten dieses doch recht umfangreichen Buches wie von selbst.
"Das ägyptische Alexandria wurde, wie könnte es anders sein, aus einem literarischen Traum geboren, einem homerischen Wispern. Im Schlaf sah Alexander, wie ein grauhaariger alter Mann an seine Seite trat. Der rätselhafte Unbekannte rezitierte einige Verse aus der Odyssee, in denen von einer Insel namens Pharos die Rede ist, die umgeben vom Meeresrauschen vor der ägyptischen Küste liegt. Die Insel gab es wirklich, nahe der Schwemmebene, in der sich das Nildelta mit den Wassern des Mittelmeers vereint. Alexander sah in dieser Vision, wie damals üblich, ein Vorzeichen und gründete dort die vorbestimmte Stadt."
Von Unordnung, antikem Chaos oder babylonischer Sprachverwirrung ist in Papyrus keine Spur. Die junge Autorin geht im Schongang von einem Thema zum nächsten und erzählt jede historische Anekdote wie eine kleine Kurzgeschichte. Die Hingabe, die in dieses Buch geflossen ist liest man an genau dieser präzisen Ordnung, die man auf jeder Seite, in jedem Kapitel vorfinden wird.
Abschließende Gedanken
In einer schönen Hardcover-Ausgabe wird der Diogenes Verlag dem Papyrus gerecht. Es ist eine schöne Edition für das Bücherregal. Auch die beiden Übersetzer haben hier eine hervorragende Arbeit abgeliefert, indem sie eine flüssige Sprache präsentieren und den Wortwitz der Autorin gut in die deutsche Sprache übertragen haben. Für mich als einstigen Sachbuch-Muffel erlebe ich derzeit ein wunderschönes Repertoire an gelungenen Titeln. Für jemanden wie mich, der selbst seit Ewigkeiten wissbegierig ist was die Antike angeht, hat diese ausführliche Weltreise eine menge Spaß gemacht. Im Anhang gibt es noch ein riesiges Quellenverzeichnis. Ich hätte es ganz schön gefunden, wenn es in einem separaten Abschnitt im Buch vielleicht noch ein paar bebilderte Seiten gegeben hätte, die sich mit antiken Schriftrollen auseinandersetzen. Ich kenne die Originalausgabe nun nicht und kann daher nicht mit einer Bestimmtheit sagen, ob solche Abbildungen dort vielleicht enthalten sind.
Irene Vallejo hat hier nicht nur eine Liebeserklärung an ihren Hang zur Antike abgeliefert, es ist auch eine Liebe an die Bücher selbst. An das Papier. An den Druck, An alles, was so ein Buch nun einmal ausmacht. Doch ein Buch ist eben nicht nur das von mir aufgezählte, ein Buch ist auch unsere Weltgeschichte. Hinter jeder noch so kleinen Anekdote steckt ein Stück unser Weltgeschichte. Irene Vallejo hat hier ihren Beitrag geleistet, diese kleinen und großen Geister der literarischen Vergangenheit zu sammeln und uns von ihnen zu erzählen.