Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Freitag, 26. März 2021

Rezension: Der große Sommer (Ewald Arenz)

 





Deutschland 2021


Der große Sommer
Autor: Ewald Arenz
Veröffentlichung: 26.03.2021
Genre: Coming of Age Roman
Format: Hardcover, E-Book


"Ich war in einger ganz eigenen Stimmung, wie ich sie vorher noch nicht erlebt hatte. Die halbe Nacht hatte ich an Beate gedacht und war früh aufgestanden. Dann die Urlaubsaufregung der anderen, ihre Abfahrt und ich allein an diesem ersten Ferienmorgen. Es war ein Gefühl wie ... als wäre man ein Instrument, das gestimmt wurde. Sechs Saiten. Aufregung. Verliebtheit. Angst vor dem Sommer. Freude am Sommer. Sich bei Nana zu Hause fühlen. Sich in Großvaters Haus verloren fühlen. Die Töne stimmten noch nicht. Aber da drin geschah irgendwas. Ich hörte Nana weiter zu."


Ich denke, ob bewusst oder unbewusst, waren wir alle schon einmal nach ihnen auf der Suche. Entweder nach der Murakami-Frau (oder Mann) oder aber diesen einen perfekten Sommer. Oder auf der Suche nach beidem. Das eine schließt das andere nicht aus denn dieser eine große Sommer ist eigentlich immer mit der ersten großen Liebe verbunden. Dieser einzigartigen Verliebtheit, die einen um den Schlaf bringt. Ich muss nur den Titel des neuen Romans von Ewald Arenz verinnerlichen: "Der große Sommer". Ich gehe tief in mich und muss überlegen, ihn je erlebt zu haben. Meine Generation kann man wohl als Zwischending ansehen. Geboren 1987 bin ich weder ein Kind der 80er, aber auch kein richtiges Kind der 90er. Leute, die am Ende eines Jahrzehnts geboren werden durchleben irgendwie alles und nichts. In dem Sinne sehe ich mich als Zwischending wo Technik wie Handys und das Internet langsam anfingen, das Leben der Menschen zu beeinflussen. Aber Sommer für mich noch immer bedeute, draußen eine gute Zeit mit Freunden zu haben. Und mit etwas Glück mit Mädchen über Dinge zu quatschen, die nicht in typisches "Ihr Jungs seid so doof" ausarteten. Der Protagonist in "Der große Sommer" muss sich mit zumindest mit der Technik noch nicht befassen. Friedrich (von seinen Freunden Frieder genannt) ist 16 Jahre alt und die Geschichte spielt zu Beginn der 80er. Da waren Begriffe wie Handys und Internet in Deutschland noch sehr weit entfernt. Aber mit 16 hatte man auch in den 80ern halt andere Probleme und vermutlich war man damals noch mehr als heute auf der Suche nach diesem einzigartigen, einmaligen Sommer und der ersten großen Liebe.

Der große deutsche Coming of Age Roman ist in der heutigen Zeit nicht mehr ganz so präsent. Die meisten Stories dieser Art bei neueren Romanen haben zu häufig auch noch historische Bezüge und die Teenager-Probleme des Protagonisten, seine Sorgen, Ängste und Gefühle sind dabei dann eher zweitrangig. Eine Rückkehr zu diesem klassischen Coming of Age Roman, wo wir als Leser zurück in unsere eigene Jugend katapultiert werden, weil wir uns, in welcher weise auch immer, mit den Figuren im Buch verbunden fühlen, ist Ewald Arenz hier mit absoluter Brillanz gelungen. Arenz, 1965 geboren (und wenn ich mich zurecht zurückerinnere, das gleiche Jahr, in dem auch der Protagonist in seinem neusten Roman geboren ist), gilt zumindest als Schriftsteller (denn er ist auch noch als Bühnenautor für das Theater aktiv) trotz all der Erfolge bei vielen Lesern noch als Geheimtipp, obwohl der Lehrer aus dem Süden Deutschlands eine mehr als beachtliche Vita vorzuweisen hat. Ich selbst bin erst durch den zuletzt veröffentlichten Roman "Alte Sorten" (2019) auf ihn aufmerksam geworden. Und ganz selten vermochte es ein deutschsprachiger Autor bisher, mich so sehr von seinem Schreibstil einfangen zu lassen. Wer meinen Blog verfolgt, der weiß, ich befasse mich hier zum größten Teil mit Literatur aus dem asiatischem Raum. Aber in den vergangenen Jahren haben es auch immer wieder sehr gelungene Romane aus dem Raum Deutschland/Schweiz zu mir geschafft.

Die Geschichte selbst ist schnell erklärt und sie kommt auch enorm schnell zum Punkt. Statt Sommerferien steht lernen an. Frieder muss zu den Nachprüfungen und da er schon einmal zuvor sitzengeblieben ist, ist dies seine letzte Chance auf einen Schulabschluss. Die Eltern der Großfamilie beschließen: Frieder bleibt diesen Sommer bei den Großeltern und lernt dort für die Nachprüfungen. Ebenfalls daheim bleibt Frieders Schwester Alma, die ein Praktikum absolvieren muss. Doch ist das nicht schon schlimm genug für einen Teenager, ist der neue Nachhilfelehrer ausgerechnet der unnahbare Großvater, ein hochrangiger Professor in der Bakteriologie. Der Großvater ist der Stiefvater der Mutter und bewandert auf seinen Gebieten, menschlich gesehen wirkt der Großvater aber eher wie ein Eisblock. Bis vor einiger Zeit mussten sowohl seine Stieftochter wie auch all seine Enkelkinder ihn noch siezen. Als sich Frieder dann auch noch in die extrovertierte Beate verliebt, gerät sein Hormonhaushalt komplett durcheinander. Was für Frieder als Horrorsommer beginnt, entpuppt sich aber immer mehr zu einer einmaligen Zeit in seinem Leben. Ein Sommer, wie es ihn nie wieder geben sollte.

"Nana nickte. Das Zimmer hatte ein Fenster nach Osten. Die Läden waren halb geöffnet und das Licht fiel in Streifen in den Raum und auf Nanas Kleid, und zum ersten mal sah sie nicht wie Großmutter aus, sondern wie eine Frau. Siebenundfünfzig, überlegte ich. Das hörte sich einerseits echt alt an. Ich hatte auf keinen Fall vor, so alt zu werden. Aber siebenundfünfzig war anderseits für Nana nicht alt. Die Omas der anderen waren siebzig oder achtzig oder hundertzehn oder tot."

Der Schreibstil von Ewald Arenz ist Sprache zum anfassen. Wenn er etwas beschreibt, dann bauen sich die Bilder auch in meinem Kopf auf. Es scheint ganz natürlich zu sein, als würde ich einen Film schauen. Alleine wenn er die Sommerszenerie beschreibt bekomme ich das extreme Verlangen danach, mich in Sommerkleidung zu werfen, den Hund fertig zu machen und einen langen Spaziergang durch den Wald zu machen. Was im Umkehrschluss allerdings eine schlechte Idee ist, wir haben noch März, es ist relativ kühl und der Sommer scheint aktuell noch so weit entfernt zu sein wie ich von einem erfolgreichem Studium in Theologie oder Literaturwissenschaften.

Das Trio rund um Friedrich, seinem besten Kumpel Johann und Frieders Schwester Alma wird einem schnell sympathisch. Es ist ein Dreiergespann und dennoch fühlt man sich, als gehöre man zu ihnen und erlebt diesen Sommer gemeinsam mit ihnen. Verspielt und mit viel Wortwitz begleitet der junge Ich-Erzähler den Leser durch die Geschichte. Doch, wie Frieder selbst sagt, so ein einmaliger Sommer ist eben was einzigartiges. Die Geschichte selbst wird nicht von dem Teenager-Frieder erzählt sondern von dem erwachsenen Friedrich, einem Mann im mittleren Alter, der etwas geistesabwesend an einem trostlosen Herbsttag einen Friedhof besucht und anscheinend vergebens nach einem bestimmten Grab sucht. Friedrich erinnert sich zurück an seine Jugend, immer wieder mal schwenkt die Geschichte aber zurück zur Gegenwart und wir als Leser werden aus dieser sommerlichen Idylle zurück in die Realität gezogen. Zurück in die Welt der Erwachsenen. In eine Welt, wo Pflichten auf uns warten und der Tod, je älter wir werden, ein Teil unserer Gedankengänge und Zukunft wird. So verspielt der Autor in den Erinnerungen des Ich-Erzählers auch ist, genau so schnell findet er auch zu einem ernsteren Tonfall zurück. Dieser Stil richtet sich frei nach dem japanischen Sprichwort "Mono no aware" (Der Pathos der Dinge). Genau genommen bedeutet das übersetzt, alles ist vergänglich und wir erinnern uns wehmütig zurück, haben uns mit der Vergänglichkeit der Dinge aber abgefunden. Und so kam es nicht selten vor, dass ich mich beim lesen öfters an den Film "Tränen der Erinnerung" des Studio Ghibli (Regie Isao Takahata) zurückerinnern musste.

"Wenn sie mich nicht sehen wollte, dann wäre ja alles klar. Und das wäre wahrscheinlich viel besser, als immer nur aus der Ferne verliebt zu sein. Das glaubte ich mir nicht mal selbst. In Wirklichkeit war es tausendmal besser, nicht Bescheid zu wissen und immer wieder hoffen und träumen zu können. Scheiß auf die Realität. Ich würde es lassen. Um dann doch kurzentschlossen zu klingeln."



Abschließende Worte

"Der große Sommer" von Ewald Arenz ist ein Roman, der mich tief bewegt hat. Auch wenn ich nicht aus der gleichen Generation stamme wie der Ich-Erzähler Frieder, so sehe ich die behandelten Themen in dem Roman als völlig zeitlos an. Er ist vielleicht aktuell sogar noch wichtiger. Er erinnert uns an bessere Zeiten. An Freiheit, an Unbeschwertheit und den Teenager ins uns, der nie ganz verschwindet sondern als ungezähmtes, wildes Tier in uns weiterlebt. Und da ist er wieder, der große deutsche Coming of Age Roman, der sich ein wenig rar gemacht hat. Von Beginn an wird man hier in eine wundervolle Geschichte gesogen und wird Teil dieser so vertrauten Clique. Ewald Arenz ist ein großer Erzähler, der uns hoffentlich mit weiteren Romanen dieses Kalibers bereichern wird.

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"Und, klar, es roch nach Regen und warm nach Diesel, als ein Bus vorbeifuhr. Das erinnerte mich ans Meer und die Schiffe. Da roch es manchmal genauso. Dieser ölig-warme Geruch, zusammen mit dem von Wasser. Reisen. Woanders sein. >>Abenteuer. Sansibar oder der letzte Grund.<< Das hatte ich bestimmt fünf Mal gelesen und ich hatte immer gedacht, dass ich auch so ein Junge sei: einer, der einen Kutter auch allein über die Förde steuern könnte. Aber für heute reichte es, einfach durch die Nacht zu fahren, und keiner wusste, wo ich war."

"Wir hatten es geschafft! Wir hatten es wirklich geschafft und auf einmal fühlte sich alles großartig an, und Beate schnaufte atemlos neben mir: >>Jetzt sollst du mich küssen.<<
Ich glaube, dass ich nie wieder so geküsst habe. Dass es nie wieder so einen vollkommenen Augenblick des Rauschs gegeben hat, so eine perfekte Berührung. Beates kühle Lippen, ihr glatter, nasser Körper, ihre lachenden grünen Augen. Wir ließen uns im Kuss untergehen und es war in Wirklichkeit ein Schweben durchs Wasser auf den Grund zu; küssend, bis wir absolut keine Luft mehr bekamen und zusammen aufstiegen. Das war der wirkliche Anfang dieses verrückten Sommers."

Dienstag, 16. März 2021

Review: Cherry

 

Apple TV+








USA 2021

Cherry
Alternative Titel: Avengers im Golfkrieg, Spider-Man Homecoming
Deutscher Titel: Cherry - Das Ende aller Unschuld
Regie: Anthony Russo, Joe Russo
Originalvorlage: Nico Walker 
Darsteller: Tom Holland, Ciara Bravo, Jack Reynor, Michael Gandolfini, Jeff Wahlberg
Genre: Drama, Kriegsfilm, Dark Comedy
Verleih und Stream: Apple TV+
Premiere: 12.03.2021 (DE)
Laufzeit: Circa 142 Minuten
FSK: Ab 18 (laut Apple TV+)




Während ich mir bei den Alternativtiteln des Films einen kindischen Spaß erlaubt habe, so ist der deutsche Titel aber echt. "Cherry - Das Ende aller Unschuld". Während der englische Titel so knackig kurz wie eine Kirsche selbst ist, so ist der deutsche Titel mal wieder eine Vollkatastrophe, der bei unserer an sich schon viel zu ausufernden Landessprache einfach nur unnötiger Ballast ist. Wer auch immer sich diese zusätzlichen Titel ausdenkt; nicht machen, hört sich völlig bescheuert an und schreckt eher interessierte Abonnenten ab, die von dem Film im Vorfeld noch nichts gehört haben. Disney würde vermutlich sagen, hierbei handle es sich um eine sehr verföhnte und unverfrorene Angelegenheit.

Und somit bleibt es ganz einfach bei "Cherry". Da ist er endlich, der erste Post-Avengers Film der Russo Brüder (Anthony und Joe). Ein Kreis schließt sich, der Begriff "Homecoming" ist hier gar nicht so absurd. Geboren und aufgewachsen in Cleveland, kehren die Brüder nach einer Weltenodyssee der Marvel Studious zurück in die Heimat. Und mitgenommen haben sie Adoptivsohn Tom Holland. Obwohl die vielen Superhelden Anspielungen zu Cherry relativ lahm sind, so drängen sie sich förmlich auf. Nicht nur fühlt sich Cherry teilweise wie eine bunte, furiose Adaption eines Comics an, die komplette Botschaft dahinter ist deutlich. Um eine andere Adaption eines bekannten Comics zu zitieren: "Entweder du stirbst als Held, oder du lebst lang genug um der Böse zu werden". Rund 1 Million Dollar sollen es sich die Russo Brüder haben kosten lassen, Autor Nicholas Walker die Filmrechte abzukaufen. Das gleichnamige Buch erschien 2018 und entwickelte sich zum Geheimtipp. Das Buch selbst basiert größtenteils auf den eigenen Erlebnissen von Walker, einem Kriegsveteran der nach der Heimkehr unter PTSB litt, den Drogen verfallen ist und zum Bankräuber wurde, um seine Süchte zu stillen. Walker wurde für seine Vergehen zu 11 Jahren Haft verurteilt, kam aber aufgrund guter Führung 2019 wieder frei. Aktuell arbeitet er sogar an seinem zweiten Buch. Interesse, als Produzent bei der Verfilmung dabei zu sein, gab es nicht, Walker geht sogar noch weiter, er plane nicht, sich den Film anzusehen (wer's glaubt).

Seien wir aber mal ganz ehrlich. Walkers Buch ist Fiktion und nicht autobiografisch. Die Liebesgeschichte gab es meiner Recherche zu urteilen nie und sehr wahrscheinlich wird sich das Leben des sechsunddreißigjährigen nicht wie ein Comicbuch abgespielt haben. Allerdings ist genau dieses Buch der Stoff für Hollywood. Eine amerikanische Geschichte über gefallene Helden und wie sie wieder rehabilitieren. Und genau hier kommen die Russo Brüder ins Spiel die einen Exklusivvertrag mit Apple abgeschlossen und einen Big Budget Film für den Streamingdienst Apple TV+ produziert haben. Dass die Russos zum kleinen Independent-Film zurückkehren würden, dürfte also vermutlich die Übertreibung des noch jungen Jahrzehnts sein, denn Cherry ist auf Hochglanz getrimmt und vermutlich sind die Kapiteleinblendungen im Film bereits so teuer wie ein kleiner Indie-Film. Mit einem Budget von nur 40 Millionen Dollar allerdings auch schon wieder irgendwo ein Schnäppchen, der letzte Film der Brüder war knapp 9 mal so teuer.

Doch wo kann man Cherry denn genau nun einordnen? Die Frage stelle ich mir, seitdem der Abspann lief. Man könnte beinahe meinen, die Russos hätten heimlich das Script von WandaVision gelesen. Denn ungefähr das ist der Stil von Cherry. Hier werden mehrere ikonische Werke als Vorlage genommen, um etwas eigenes zu erschaffen. Der Film beginnt ähnlich wie Trainspotting mit einer Vermählung eines Teenager-Dramas (kurioserweise ist Cherry, sobald die harten Drogen ins Spiel kommen, kein bisschen wie Trainspotting). Beim Kriegsfilm-Segment geht es weiter mit Full Metal Jacket. Bei den Szenen in der Grundausbildung präsentieren die Russo Brüder das Bildformat in bester Kubrick-Manier hier sogar im 4:3 Format. Der Film wird anschließend zu einem waschechtem Drogendrama (aber nicht, bevor Protagonist Cherry noch einmal wie Frank Underwoord aus House of Cards direkt und sarkastisch mit den Zuschauern spricht). Mit einer Laufzeit von rund 142 Minuten (inklusive Abspann) prescht der Film von einem Ereignis zum nächsten. Es gibt praktisch keine Minute im Film, wo nicht irgendwas passiert. In dieser doch beachtlichen Laufzeit hat der Film überraschenderweise wenig bis gar keinen Leerlauf zu bieten, was gleichzeitig die größte Stärke und die größte Schwäche des Films ist. Cherry hat ein ausgesprochen gutes Film-Pacing, allerdings ist dieses so rasant, es schadet dem Film dabei. Besonders holprig wirken hier die einzelnen Charaktere, die trotz des bunten Looks des Films relativ farblos daherkommen. Eine wirkliche Entwicklung der Charaktere gibt es einfach nicht. Sie schlittern von ein Segment in das nächste. So entwickelt sich auch die Beziehung zwischen Cherry und seiner langjährigen Freundin Emily mehr kurios als glaubhaft. Während die Liebe auf den ersten Blick noch halbwegs glaubhaft ist, geht es anschließend so mit den beiden weiter: "Ok wir sind jetzt zusammen, lass uns Sex haben", "Emily macht mit mir Schluss. Es kann nur eine Lösung geben, ich werde mich noch heute und bei der Army einschreiben", "Alles klar, wir steigen von Beruhigungsmitteln auf Heroin um und sind nun Junkies". Natürlich kann sich ein Film für all diese Entwicklungen nicht jedes mal 30 Minuten Zeit nehmen, bis sie für die Zuschauer nachvollziehbar oder glaubhaft sind. Aber Cherry hat dann doch schon ein wesentlich größeres Problem überhaupt auch nur ein Fünkchen Authentizität rüberzubringen. Bis zu einem gewissen Punkt ist das sogar weniger auffallend und fällt nicht negativ ins Gewicht. Sobald das Segment rund um den zweiten Irakkrieg allerdings vorbei ist (welches ruhig hätte länger gehen können und man dafür bei dem Drogen-Segment eingespart hätte) und die beiden Protagonisten zu Vollzeit-Junkies werden, da hat der Film auf einmal große Probleme, sich für eine Richtung zu entscheiden. Und in diesen Momenten hat man große Schwierigkeiten, die Entwicklungen der Charaktere glaubhaft zu erklären.

In diesem letzten Abschnitt schaffen es die Russos nicht, sich für einen bestimmten Stil zu entscheiden. Soll es weiter derben Humor zu ernsten Themen geben oder driften wir in ein schonungsloses Larry Clark Teenager-Drama* ab (obwohl die Charaktere in Cherry glaube ich Twens sind*)? Die Russos haben sich hier eher für den düsteren Stil entschieden, was dem Film eher nicht gut getan hat. Wenn ich die Wahl hätte, ob ich Larry Clark oder Danny Boyle kopieren soll, würde die Wahl für mich nicht schwer fallen wenn mein Film bereits ähnlich wie Trainspotting beginnt.

Schauspielerisch haben die Russos fast ausschließlich auf eine neue Generation an Darstellern gesetzt. Leider kommen auch diese im Film dann, wie schon die Protagonisten, zu kurz. Besonders interessant fand ich Cousin Joe, der hier von James Gandolfinis Sohn Michael gespielt wird (und von dem wir hoffentlich noch viel sehen werden). Mit Jeff Wahlberg hat es auch ein Neffe von Mark und Donnie Wahlberg in den Cast geschafft. Forrest Goodluck kannte man zum Beispiel bereits aus The Revenant oder Dontnod's aktuellem Videospiel Tell Me Why. Aber der Fokus liegt hier natürlich auf die beiden Protagonisten Cherry und Emily, gespielt von Tom Holland und Ciara Bravo. Es hieß vorab, Tom Holland bräuchte mal eine Rolle, wo er mehr aus sich herauskommen könnte. Erst einmal muss ich sagen, ein so junger Darsteller wie Tom Holland hat noch nicht den Druck, sich in solch komplexen Rollen beweisen zu müssen. Als der zweite Golfkrieg losging war Tom Holland vermutlich nicht älter als 7 Jahre alt. Wenn man mich nach der Sichtung des Films aber nun fragen würde, ob Tom Holland Cherry mehr braucht als Cherry Tom Holland, würde ich ohne zu zögern Antwort Nummer 2 wählen. Cherry braucht Tom Holland, denn ohne Tom Holland wäre Cherry vermutlich nur ein sehr verspielter Film, der in der Masse dieses Genre untergehen würde. Der gebürtige Brite hat das Maximum aus dieser Rolle rausgeholt, etwas, was ihm vermutlich viele nicht zugetraut hätten. Ähnlich erging es mir da aber auch bei Ciara Bravo, die hier eine sehr starke Performance abliefert. Die Macken, die der Film hat, sind nicht die Schuld der Darsteller. Zum Beispiel, selbst in den übelsten Drogenexzessen wirkt Cherry leider nie auch nur ansatzweise so dreckig wie beispielsweise Trainspotting. Oder wie wäre es mit einem aktuellerem Beispiel, Climax von Gaspar Noé, der ebenfalls sehr bunt aber für einen Drogenfilm immer noch sehr dreckig und schonungslos ist. Der auf Hochglanz getrimmte Look von Cherry hat seine positiven Aspekte, aber genau wie das Pacing kann man diesen Aspekt dem Film im letzten Abschnitt noch als Kritikpunkt auslegen.




Fazit

Cherry wurde von Kritikern und Zuschauern mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Und so ergeht es auch mir. Meine Zeit mit dem Film habe ich auf keinen Fall bereut, allerdings stehen sich die Russo Brüder hier manchmal zu sehr selbst im Weg, da sie sich nicht von ihren filmischen Spielereien trennen können, wenn es angebracht wäre. Hier steckt einfach noch zu viel Marvel in ihnen, was vermutlich nach so vielen Jahren Avengers (die mit Endgame den kommerziell erfolgreichsten Film aller Zeiten hervorgebracht haben) nicht einmal verwunderlich ist. Schaut man sich die kommenden Pläne der beiden Filmemacher an, gehören sie wohl zweifellos noch immer zu den wohl gefragtesten Blockbuster-Regisseuren, die Hollywood derzeit zu bieten hat. Cherry hat und wird daran nichts ändern. Und wieso sollte man darüber auch diskutieren, denn Cherry ist weit entfernt davon, ein schlechter Film zu sein. Es war eine bewusste Entscheidung, die Brüder haben sich schon vor einiger Zeit für diesen Film entschieden. Was bleibt, ist ein interessantes Konzept über einen gefallenen Helden der seine Geschichte in einer Zeitspanne von knapp 20 Jahren erzählt, es der Geschichte aber zu oft an Relevanz fehlt. Die Darsteller hingegen holen aus den doch recht dünnen Figuren das Maximum raus und wissen durchgehend zu überzeugen. Insgesamt dürfte es schwer werden, Cherry richtig einzuordnen. So wird am Ende die Frage bleiben, ob die Russo Brüder hier ein ernstes Kriegs- und Drogendrama abgeliefert haben, oder eine weitere Comic-Adaption. Wer sich eine eigene Meinung bilden möchte, der Film ist seit dem 12.03.2021 frei verfügbar für alle Abonnenten von Apple TV+.

Dienstag, 9. März 2021

Einwurf: Evangelion 3.0+1.0 - You Can Not Watch It

 

Foto: Studio Khara



Mit einer zarten Verspätung von nur knapp 6 Jahren ist endlich der Film in den japanischen Kinos angelaufen, der unter Fans schon mehr oder weniger nur noch ein Mythos aus vergangenen Tagen Jahren war. "The Rebuild of Evangelion"; eine Neuinterpretation eines modernen Anime-Klassikers. Mehr Fortsetzung als Reboot. Ambitioniert, ja, vielleicht ausgestattet mit Überambitionen eines ambitionierten, emotionalen Filmemachers. Die Superlativen könnten ewig so weitergehen und dennoch könnte es der Entstehungsgeschichte dieser neuen Spielfilmreihe von Neon Genesis Evangelion nicht gerecht werden. Studio Khara hat es aber geschafft, sie haben diesen Film, an den schon keiner mehr geglaubt hat, in die Kinos gebracht. "Evangelion 3.0+1.0 Thrice Upon a Time" hat es mit einer brachialen Lauflänge von 155 Minuten in die japanischen Kinos geschafft (sogar minimal früher als vorgesehen). Dies war eigentlich schon für 2020 geplant, aber wir wissen ja, woran das scheiterte. Sind wir aber ganz ehrlich, der sollte eigentlich schon 2015 in die Kinos kommen. Die ambitionierten Pläne von Serienschöpfer Hideaki Anno gingen in die folgende Richtung: Geplant waren 4 bis 5 Filme die in einem Zeitunterschied von 2-3 Jahren erscheinen sollten. Evangelion 3.0 ist in Japan 2012 erschienen. Was wir nun also haben ist keine Lücke von 3 Jahren, nein, wir sind nun alle fast 10 Jahre älter, aber kein Stückchen weiser geworden, was die große Auflösung von NGE angeht. 

Und mit diesen Worten möchte ich zu James Bond schwenken, der keine Zeit zu sterben hat, denn es stehen noch teure Nachdrehs für die Sponsoren an.

Das Kino befindet sich derzeit in einer wenigen komfortablen Position. Auch vor der Pandemie stand das Kino aufgrund seiner teuren Preise natürlich in der Kritik, aber leer waren die Kinosäle sicherlich nie. Die zwei größten Sorgenkinder die Unmengen an Budget bereits gefressen haben und schon Anfang letztes Jahr hätten in den Kinos anlaufen sollen: Black Widow von Marvel Studios und Daniel Craigs letzter Einsatz als 007 - No Time To Die. Der gleichnamige Titelsong von Billie Ellish feierte kürzlich sein einjähriges. Das Marketing für den neuen Bond ist schon jetzt ein absolutes Fiasko nach den ganzen Neuansetzungen des Kinostarts. Doch als dann auch noch die Sache mit den teuren Nachdrehs öffentlich wurde, die teilweise hauptsächlich für Sponsoren in Auftrag gegeben wurden weil die Protagonisten im Film nicht mit einem Handy unterwegs sein sollen, welches aus der Mode gekommen ist, lösten unterschiedliche Reaktionen bei den Fans aus, hauptsächlich auf die Zwerchfellmuskulatur. 20:0 für COVID. Das Virus ist nicht nur gefährlich und beraubt uns unseres alltäglichen Lebens, es macht den mächtigsten Geheimagenten und Ex-Macho der Welt auch zu einer Lachnummer. Selbst Hideaki Anno wischt sich vermutlich gerade den Schweiß von der Stirn, denn der neue Bond hat das beste Potential dazu, ebenfalls erst 8 Jahre nach Ankündigung in die Kinos zu kommen (falls es die dann noch gibt).

Warum bringt man die Filme dann nicht zu Streaming-Anbietern, die derzeit ihre wohl größten Erfolge feiern? Sowohl Netflix, Disney+ sowie auch HBO Max stehen bereit. Aber so einfach ist es nicht da sowohl Disney+ als auch HBO Max zu Disney (Duh) sowie Warner gehören. Netflix würde niemals so viel Geld für den neusten 007 ausgeben wollen und allen voran wollen die Filmemacher und Studios ihre teuren Filme nicht direkt ins Heimkino bringen. Die Filme werden schließlich für die ganz große Leinwand gemacht. Christopher Nolan's Tenet sollte der Film werden, der uns alle zurück in die Kinos bringt. Er sollte sich irren, Tenet wurde letztendlich auch von COVID besiegt, obwohl der Film noch mit einem beachtlichen Einspielergebnis davonkam, welches aber selbstverständlich nicht ausreichte, um die erheblichen Kosten der Produktion einzuspielen.

Wenn Christopher Nolan bereits resigniert und uns nicht zurück in die Kinos bringt, was viele Studios nun auch eingesehen haben, bringt uns sicherlich derzeit keiner dorthin zurück. Und nicht anders verhält es sich aktuell wohl auch mit eine der wohl kostspieligsten japanischen Kinoproduktionen des Jahres 2021. Der finale Evangelion Spielfilm ist in den japanischen Kinos angelaufen..... und wir können ihn nicht sehen.



Kein Zutritt: Die Vorstellung läuft gerade


GIF: Gainax/Studio Khara


Ob die japanischen Fans gerade die heimischen Kinos stürmen, nun, ich bezweifle es. Während die Japaner aber zumindest eine Option haben, bleibt der Westen vorerst komplett ausgesperrt. Deals mit bekannten Streaming-Anbietern scheint Toei nicht gemacht zu haben. Wäre ein direkter Release auf Netflix eine Option gewesen? Die haben mit viel Pomp und Getöse ja die Originalserie sowie die beiden Kinofilme Death & Rebirth und The End of Evangelion in ihr Programm aufgenommen. Aber auch nur die Serie und die alten Kinofilme, die neue Spielfilm Trilogie befindet sich nicht beim Streaming-Anbieter. Überhaupt war die Veröffentlichung von Netflix als relativ kontrovers anzusehen. Das ikonische "Fly me to the Moon" Ending-Theme aus der Serie wurde entfernt, da Netflix entweder nicht die Rechte an den Song bekommen konnte oder aber nicht die Lizenzgebühr dafür zahlen wollte. Der Song wurde durch ein anderes Instrumental-Theme aus der Serie ausgetauscht (Rei I soweit ich mich recht erinnere). Die größte Kontroverse bestand jedoch in den Neuvertonungen, die Netflix in sämtlichen Sprachen mit Ausnahme der japanischen Originalstimmen vorgenommen hat. Netflix holte so einige Anime-Klassiker in sein Programm, aber bei keiner Serie hatte man zuvor solch drastische Änderungen vorgenommen.

Und dennoch, die Hoffnung war da, Netflix könnte sich am Ende als Retter in der Not entpuppen. Die Fans würden den Film vermutlich sogar derzeit ohne Tonspur konsumieren..... auch wenn dies natürlich keine richtige Option wäre. Als Evangelion: 3.0 You Can (Not) Redo 2012 in Japan erschienen ist, war das Internet noch immer nicht dieser zentrale Mittelpunkt, wie es heute der Fall ist. Mit einer weltweiten Fanbase die sich über 25 Jahre lang aufgebaut hat, ist ein Lockout mehrerer Kontinente für das finale der neuen Spielfilmreihe schwer zu erklären. Da ist auch die nette Geste von Studio Khara, die ersten 12 Minuten des langen Films für alle zugänglich zu machen, nur ein schwacher Trost. Man hat damit sogar, natürlich ungewollt, das Gegenteil erreicht. Die Leute wollen nun den kompletten Film, sind sehr hungrig (vielleicht auch etwas durstig, allerdings aus anderen Gründen) auf das vollständige Produkt und begehen nun den Fehler, sich spoilern zu lassen. Sie wollen wissen, wie diese Geschichte endet und in den sozialen Netzwerken rüsten sich die Troll-Weebs hungrige und aus etwas anderen Gründen durstige Evangelion-Fans zu verarschen und auf eine falsche Fährte zu locken. Megumi Ogata (Synchronsprecherin von Shinji Ikari) mahnte schon auf Twitter, Trolle oder Spoiler-Nutzer zu blockieren, damit diese weniger Schaden anrichten können. Doch noch einmal: Wir haben das Jahr 2021 und nicht 2015. Einen Film mit so einer großen Fanbase mehr oder weniger zu verheimlichen ist kaum möglich. Bereits Disney kam mit der ersten Staffel zu "The Mandalorian" in diese unschöne Lage. Als die Serie bereits lief, das Web fleißig darüber diskutierte, aber der Service rund um Disney+ in den meisten Ländern aufgrund der (beispielsweis) EU-Regularien überhaupt noch nicht an den Start gehen durfte. Die Piraterie rieb sich die Hände. Auch wenn der Mandalorianer mit Staffel 2 wieder Rekorde für illegale Kopien gebrochen hat, so ist die Mehrheit der Interessenten noch immer von ehrlicher Natur und zahlt brav sein Disney+ Abo.

Doch wie geht es für Evangelion 3.0+1.0 Thrice Upon a Time nun weiter? Die Antwort darauf zu geben ist nicht einfach. Es wurden vermutlich schon im Vorfeld sehr wahrscheinlich Lizenzen ausgehandelt. In den USA sollte es sogar einen limitierten Kino-Release geben, was daraus nun aber geworden ist, vermag ich nicht zu sagen. Lizenzen werden wohl auch an Filmfestivals vergeben worden sein, doch auch hier dürfte es relativ düster aussehen. Anime und Lizenzrechte, ein Thema für sich da viele Lizenzgeber immer noch recht stur sind. Japan First. Und so ist es auch bei Evangelion 3.0+1.0 Thrice Upon a Time. Wenn es den normalen Weg geht, dann bleibt der Film nun erstmal exklusiv in den japanischen Kinos, erscheint in circa 6 Monaten für das Heimkino und irgendwann 2022 wird er dann auch bei uns zu sehen sein. Die vorherigen Filme erschienen in Deutschland bei Universum (mittlerweile heißen diese Leonine, wieder sieht man einmal, wie viel Zeit seit dem letzten Film vergangen ist) mit einem knapp 1 jährigem Delay nach japanischen Kinostart.

Ob es in Sachen Streaming-Anbieter vielleicht doch noch einen Retter in der Not geben wird und man sich westlichen Fans erbarmen wird, bleibt abzuwarten (und besonders, ob auch Europa davon profitieren könnte, da die lizenzrechtliche Lage aufgrund der vielen Anbieter hier ein einziges Chaos ist). Eine optimale Situation ist es nicht, aber wenn man schon knapp 8 Jahre gewartet hat, auch hier können wir wieder ganz ehrlich sein, kommt es auch darauf nicht mehr an. Extrahieren wir aber den positiven Effekt aus der Misere: Es wird keine teuren Nachdrehs für die Sponsoren gegeben haben, denn Shinji benutzt seit 1995 den gleichen Sony Walkman (im laufe der Zeit wurde aber in den neuen Filmen das Logo der Deutschen Post durch DHL ersetzt. Zu sehen auf Asukas Umzugskisten)!

Mein Tipp an alle Wartenden (zu denen ich auch zähle): Spoiler-Geschossen am besten aus dem Weg gehen, indem man das Stromkabel vom Router entfernt und bis nächstes Jahr nicht ins Internet geht. So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe, da man hier endlich den seit mindestens 5 Jahren geplanten Internet-Detox mitnehmen kann. Cheers, dankt mir bitte 2022!


Update 10.03.2021: Laut aktuellen Meldungen ist der Film sehr erfolgreich in den japanischen Kinos gestartet!



Hikaru Utada: One Last Kiss (Evangelion 3.0+1.0 Thrice Upon a Time Titelsong