Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Montag, 26. Februar 2024

Review: Der Junge und der Reiher



Japan 2023

Der Junge und der Reiher
Originaltitel: 君たちはどう生きるか (Kimitachi wa Dō Ikiru ka)
Produktion: Studio Ghibli
Regie: Hayao Miyazaki
Soundtrack: Joe Hisaishi
Japanischer Sprecher-Cast: Soma Santoki, Masaki Suda, Aimyon, Ko Shibasaki, Takuya Kimura
Laufzeit: Circa 124 Minuten
Genre: Animationsfilm, Fantasy
FSK: Ab 12



Ein kalter Januarabend neigt sich dem Ende. Während aus einem der Nachbarsäle unerträglicher Lärm eines anderen Films donnert und mein mir unbekannter Sitznachbar 120 Minuten lautstark Popcorn in sich hineinschaufelte wie ein Bagger Erde aufwühlt, erscheint der Abspann zum ersten neuen Studio Ghlbi Film seit über 4 Jahren und über 10 Jahre seit "Wie der Wind sich hebt", bei dem Animationsmeister, Nikotin Yo-Kai und "Never-Ending Man" Hayao Miyazaki, Regie führte. Streng genommen. Blickt man aber weiter zurück, war der letzte große Studio Ghibli Spielfilm der im Jahr 2014 veröffentlichte "Erinnerungen an Marnie" von Hiromasa Yonebayashi. Es folgten der teilweise extern produzierte "Die rote Schildkröte" aus dem Jahr 2016 sowie der recht maue 3D-Animationsfilm "Aya und die Hexe" aus dem Jahr 2020, bei dem Miyazakis Sohn Goro erneut Regie führte.

Die Lichter gehen an und ich blicke mich im Kinosaal um. Da es schon nach 20 Uhr ist, befinden sich in dem ziemlich vollen Kinosaal ausschließlich Erwachsene. Mein Blick in alle Richtungen will den Stimmungscheck einfangen. Von Begeisterung über Unglauben war alles dabei. Für Miyazakis Rücktritt nach dem Rücktritt nach dem Rücktritt sind sie alle noch einmal versammelt, um zu sehen, was der Altmeister aufs Zelluloid gebannt hat. Und in dem Moment, als Hayao Miyazaki sich entschieden hat, dass es keinen Sinn mehr macht, immer wieder seinen Rücktritt zu verkünden, dachte er sich, könne er auch einfach für immer weiter machen. So ist "Der Junge und der Reiher" nicht der von vielen Kinoprogrammen zitierte Abschiedsfilm eines legendären Filmmagiers, sondern der erste Schritt in die Unsterblichkeit. Und das, obwohl "Der Junge und der Reiher" durchaus auch ein Werk sein könnte, mit dem man sich von der ganz großen Bühne verabschieden könnte. Beweisen muss Miyazaki niemandem mehr etwas, bereits "Wie der Wind sich hebt" hätte ein reifes Abschiedswerk sein können. Doch allen voran möchte Miyazaki mit seinen Spätwerken noch einmal beweisen, wie viel Magie und Zauberei in traditioneller Animationskunst liegt. Keine billigen Taschenspielertricks und falscher Zauber, sondern die pure Leidenschaft, Bilder zum Leben zu erwecken.




Die Geschichte ist angesiedelt im Jahr 1943 während den Unruhen des Pazifikkriegs. Erzählt wird die Geschichte des jungen Mahito, der während eines Brands seine Mutter verliert. Einige Zeit später heiratet Mahitos Vater die jüngere Schwester seiner verstorbenen Frau. Für Mahito beginnt eine schwere Zeit, einen Platz im Leben zu finden und allen voran seinen Lebensweg zu finden. Als er im neuen Anwesen auf dem Land immer wieder von einem mysteriösen, penetranten Reiher heimgesucht wird, gerät Mahitos Leben ins wanken und er wird in eine Welt gesogen, die so ganz anders als die Welt ist, in der er aufgewachsen ist und sich letztendlich doch gar nicht so sehr von dieser unterscheidet.

Miyazaki begibt sich mit dem Film auf Gefilden des südamerikanischen magischen Realismus. Allen voran fühlte ich mich an die Werke von Gabriel García Márquez erinnert und seinem wohl bekanntestem Werk: "Hundert Jahre Einsamkeit". Kam "Wie der Wind sich hebt" mit Ausnahme einiger Traumszenen mit wenig Fantasy-Elementen aus, macht Miyazaki bei seinem neusten Film eine Kehrtwende und nimmt die Zuschauer mit in eine fremde Welt, die nicht nur geheimnisvoll, sondern auch schwer zu erklären ist. Bildgewaltig und mit überraschend wenig Dialogen präsentiert uns das Studio Ghibli diese fremdartige, exotische Welt, die irgendwo zwischen Leben und Tod pendelt. Eine Zwischenwelt. Eine Art japanische Interpretation von Lewis Carrolls Alice Romanen. Besonders einige ältere Zuschauer dürften hier im Gegensatz zu Kindern, die entspannt die Bilder auf sich wirken lassen können, viele Fragen stellen. Allen voran Fragen, die im Verlaufe des Filmes nicht beantwortet werden. Dafür respektiere ich "Der Junge und der Reiher" zutiefst. Miyazaki zeigt, was er zeigen möchte. Dabei ist die Geschichte um den jungen Mahito gar nicht so schwer zu begreifen. Miyazaki revolutioniert hier erneut nicht die Art, eine Geschichte zu erzählen. Dies wird er niemals, egal, wie viele Filme er noch produzieren wird. Blickt man auf die Werke zurück, an die Miyazaki leidig und auf's neue immer wieder gemessen wird, so wird auch schnell klar, weder Prinzessin Mononoke noch Chihiro glänzen durch raffiniertes Storytelling. Miyazakis Stärken liegen in seinen Bildern und in die teilweise überzeichneten Charaktere. Die Zuschauer nehmen in "Der Junge und der Reihe" die Rolle von Mahito ein. Gemeinsam gehen wir mit ihm auf eine Reise. Und das Ziel dieser Reise ist es, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, die richtigen Entscheidungen zu treffen und sich auch bewusst zu sein, die Vergangenheit nicht rückgängig machen zu können. Blicken wir auf den japanischen Originaltitel des Films "Kimitachi wa Dō Ikiru ka" - wörtlich übersetzt bedeutet das so viel wie "Wie möchtest du Leben", wird die Botschaft des Films sogar noch deutlicher. Der Titel ist natürlich eine direkte Hommage an einen Roman von Genzaburo Yoshino, den Miyazaki hier auch als Inspiration anführte. Eine menge Zuschauer im Kino schienen Probleme zu haben, dem Film folgen zu können, aber vielleicht haben sich einige Leute wirklich zu viele Gedanken gemacht, denn der Film folgt einem relativ geradlinigen Fahrt, ohne den Zuschauern aber alles vorkauen und erklären zu müssen.

Etwas weniger im Ohr ist mir der Soundtrack von dem großartigen Joe Hisaishi geblieben. Miyazakis Filme sind nahezu unmittelbar mit den Melodien von Joe Hisaishi verknüpft. Doch sind die Melodien in "Der Junge und der Reiher" nicht schlecht, es fehlt vielleicht nur ein prägnantes Main-Theme, welches durch den Film führt.




Fazit

Würde man nicht wissen, wer den Film gemacht hat und würde er noch unter den Lebenden weilen, könnte man glatt meinen, Satoshi Kon habe bei "Der Junge und der Reiher" Regie geführt. Viele Elemente aus Kons Traumwelten finden Einzug in Miyazakis Fantasyfilm. Aber bei genauem hinsehen ist "Der Junge und der Reihe" ganz unverkennbar dann doch ein klassischer Hayao Miyazaki Film. Bildgewaltig und voller Bildmagie, die man gesehen haben muss, um sie beschreiben zu können. Detailverliebt bis in die hintersten Ecken eines jeden Zeichenstrichs. Gleichzeitig für viele, die mit Studio Ghibli und Hayao Miyazaki andere Filme verbinden, aber auch sicherlich ein wenig ungewohnt, vielleicht sogar etwas befremdlich. All das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass es sich bei "Der Junge und der Reiher" um ein beeindruckendes Spätwerk eines großen Künstlers unserer Zeit handelt. Im Film spielen auch Türen eine wichtige Rolle. Eine Tür gibt es auch für den Zuschauer. Findet er nicht die richtige, dann kann ihm die Tür zum Zugang des Filmes aber auch verwehrt bleiben. Lässt man sich auf den Film aber unvoreingenommen ein, so öffnet sich einem die Tür, die in eine unbekannte Welt führt, die man am liebsten viel länger erkunden möchte, als die Laufzeit dieses  Animationsfilms hergibt. Wie möchtet ihr Leben? Dieser Film bringt euch die Antwort vielleicht etwas näher.
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Rezension verfasst von Aufziehvogel

Diese Besprechung wurde bis auf das Fazit bereits am 14.01.2024 fertiggestellt und sollte ursprünglich auch an diesem Tag veröffentlicht werden. Teile aus dem Fazit habe ich aus einem von mir erstellten Forum-Beitrag zum Film übernommen, da diese sehr gut zu meiner vollständigen Besprechung passten.