Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Mittwoch, 29. Mai 2024

Hörbuch-Rezension: Die Therapie (Sebastian Fitzek)

 




Deutschland 2006

Die Therapie
Autor: Sebastian Fitzek
Verlag (Print und E-Book): Droemer Knaur
Hörbuch: Audible Studios
Sprecher: Simon Jäger
Laufzeit: 6 Stunden und 3 Minuten (Ungekürzte Version)
Genre: Psychologischer-Thriller, Mystery



Mein Verhältnis zu Sebastian Fitzek, Deutschlands erfolgreichstem Autor, würde ich als kaum existent bezeichnen. Da ich subtile Thriller mit Mystery-Elementen mag und weniger grafische Beschreibungen, kamen der Autor und ich bisher nicht zusammen. Ich habe es allerdings vor einigen Jahren mal mit "Abgeschnitten" probiert, ein Thriller, der in Zusammenarbeit mit dem Rechtsmediziner und unlängst auch Autor Michael Tsokos entstanden ist. Nach nicht einmal 50 Seiten war da dann aber auch schon gut. Sebastian Fitzek hat seine Fans, millionenfach vermutlich, sonst würden sich Romane, die mittlerweile auch über Thriller hinausgehen (und ich diesen Ansatz durchaus begrüße), sich nicht jedes mal wieder aufs neue rekordverdächtig verkaufen. Ob ich da als Leser nun dazugehöre oder nicht, wird die Karriere und die Geldbörse des Autors nicht weiter kümmern.

Auf "Die Therapie" bin ich auch nur durch die Serien-Adaption von Amazon mit Stephan Kampwirth in der Hauptrolle (und den viele sicherlich noch gut aus Dark kennen) aufmerksam geworden. Ich habe kurz in die Serie reingeschaut und es konnte für die Rolle des Viktor Larenz wohl kaum eine bessere Besetzung geben. Es war das Gesicht, welches ich neben Simon Jägers Stimme rund 6 Stunden beim hören bildlich vor mir hatte. Ich dachte eigentlich, zum Zeitpunkt der Besprechung des Hörbuchs hätte ich mittlerweile auch die Serie durch, aber dies war zeitlich dann vorerst doch nicht mehr zu vereinbaren. Auf Unterschiede zwischen Roman und Serie werde ich also nicht eingehen können.

Das Romandebüt von Sebastian Fitzek liegt mittlerweile fast unglaubliche 20 Jahre zurück. Als "Die Therapie" 2006 erschien, war Fitzek wohl selbst noch nicht bewusst, wie steil seine Karriere als Autor nach oben gehen würde, welchen Hype er entfachen würde. Rein von der Prämisse her sprach mich der Titel an. Ein Isolationsroman auf einer kleinen, einsamen Insel. Ein nach vielen Schicksalsschlägen mittlerweile psychisch labiler Mann, der selbst ein Star-Psychiater war und dessen Tochter vor einigen Jahren unter mysteriösesten Umständen verschwand. All das könnten die besten Zutaten für ein interessantes Theaterstück sein. Aber das hatte ich bereits von "Abgeschnitten" damals erwartet, so wollte ich nicht zu viele Erwartungen an "Die Therapie" hegen.

Das Hörbuch wurde exklusiv für Audible von Simon Jäger eingesprochen, ganz ohne Frage mitunter eine meiner Lieblingsstimmen (und ich gerne mal gemeinsam mit David Nathan Live sehen würde). Dabei war der Beginn des Hörbuchs so holprig, wie man es sich nur vorstellen kann. Die ersten knapp 20 Minuten klingen von der Tonqualität her, als wären sie in irgendeinem Keller oder auf der Toilette aufgenommen worden. Ich war eigentlich schon bereit, das Hörbuch wieder zu reklamieren. Doch auf Knopfdruck veränderte sich die Tonqualität merklich und nach den ersten kurzen Kapiteln hört man ausschließlich das, was der Hörer auch hören soll. Nämlich die Stimme von Simon Jäger, ohne Nebengeräusche.

Es ist nicht sonderlich schwer, den Inhalt von "Die Therapie" wiederzugeben. Erzählt wird die Geschichte des bereits erwähnten Psychiaters Viktor Larenz, einstmals ein gefeierter Mann seines Fachs mit einem Schwerpunkt auf Schizophrenie. Die behandelnden Ärzte sind komplett ratlos, Larenz zwölfjährige Tochter Josy scheint von einer unbekannten Krankheit dahingerafft zu werden. Als Larenz sie eines Tages zum Arzt zu einer weiteren Untersuchung bringt, kehrt das Mädchen nicht aus dem Behandlungszimmer zurück. Weder Arzthelferinnen noch der Arzt können sich aber daran erinnern, Josy an diesem Tag gesehen zu haben. Das Mädchen bleibt verschwunden, ganze vier Jahre vergehen, ohne, dass Larenz und seine Frau Isabell wieder was von ihr hören. Während Isabell langsam mit dem Thema abschließen konnte, verfällt Larenz immer tiefer in Depressionen und dem Alkohol. Nach einiger Zeit scheint sich auch Larenz wieder allmählich zu rehabilitieren. Er ist weg vom Alkohol, möchte sich den bösen Geistern nun stellen. Er nimmt die Interviewanfrage einer bekannten Illustrierten an und macht sich samt seinem trauen Begleiter, dem Hund Sindbad, auf nach Parkum, einer kleinen Nordseeinsel mit Familienanwesen der Familie Larenz. Kurz nach der Ankunft von Larenz zieht ein Unwetter auf, welches mehrere Tage anhält und somit niemand mehr die Insel besuchen, aber auch nicht verlassen kann. Larenz Gesundheitszustand verschlechtert sich tagtäglich. Und dann wird er auf einmal von der mysteriösen, psychisch kranken Anna besucht. Eine vermeintliche Kinderbuchautorin, die die lange Reise auf sich genommen hat, nur um den einstigen renommierten Psychiater ihre Geschichte zu erzählen, die sich zufälligerweise sehr mit den Ereignissen überschneidet, die seine verschwundene Tochter Josy vor so vielen Jahren erlebt hat.

So simpel die Struktur von "Die Therapie" aufgebaut ist, war ich mehr als überrascht, wie viele Schichten an Komplexität die Geschichte dann doch bietet. Nicht nur lebt die Geschichte von einer beunruhigenden Spannung, auch auf sehr grafische Elemente verzichtet Fitzek mit sehr wenigen Ausnahmen. "Die Therapie" lebt also nicht von Shock-Values, sondern ausschließlich von einem spannenden Plot, der mit unzähligen Wendungen garniert ist. Die Kritik, die ich am Ende dann doch hatte, war jene, ob Fitzek hier vielleicht nicht 1-2 unerwartete Wendungen zu viel eingebaut hat und besonders die Auflösung, vielleicht aber auch eher nur der Epilog, dann doch schon zu "überzogen" wirkte. Die Auflösung der Ereignisse (fernab von dem, was man so vermutet) war für mich nun aber auch nicht so haarsträubend, dass die gesamte Geschichte am Ende nachhaltig darunter leiden musste. Immer wieder schafft es Fitzek, die richtige Ausfahrt zu finden. Für ein Debütwerk ist das in allen Maßen sehr beeindruckend.

Das ganze wird abgerundet durch eine absolut großartige Performance von Simon Jäger, der einen förmlich aus der Realität zieht und sobald der Hörer seine Augen schließt, sich in Larenz Arbeitszimmer auf der fiktiven Insel Parkum befindet. Ein guter Sprecher besitzt einfach diese Fähigkeit, den Leser so dermaßen mitzunehmen, dass er regelrecht von der Geschichte absorbiert wird. Am Ende lag selbst ich mit feuchten Händen auf dem (Therapie)Sofa und wollte wissen, welch bizarre Wendungen die Geschichte rund um Viktor Larenz noch nimmt.




Fazit

"Die Therapie" hat mich in allen Maßen positiv überrascht. Nicht nur das, sie hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Etwas, was ich Sebastian Fitzek nicht zugetraut hätte. Ob das nun der Anbeginn einer großen Liebesgeschichte ist? Ich bezweifle es. Ich habe mir Inhaltsangaben zu Fitzeks anderen Romanen durchgelesen, alleine an diesen Inhaltsangaben gemessen, passen die Romane nicht wirklich in mein Beuteschema. Ich konnte es nicht lassen, mir im Angebot noch "Das Kind" als E-Book zuzulegen. Auch setzt Audible seit einiger Zeit mit viel Aufwand ausgewählte Romane von Fitzek als Hörspiel um (der Hörbuch und Hörspiel Markt ist etwas, was man sich als Autor und Verlag sicherlich nicht entgehen lassen möchte). Erst vor wenigen Tagen erschien das Hörspiel zu "Das Paket". Ob mich dieses Hörspiel genau so packen wird wie Simon Jäger mit dem Hörbuch zu "Die Therapie", welches er im Alleingang liest, bleibt natürlich abzuwarten. Ich will nicht ausschließen, dass der Autor es vermag, mich noch ein weiteres mal zu packen. Ich hätte aber auch absolut kein Problem damit, wenn es bei dieser einmaligen Affäre bleiben würde, denn "Die Therapie" kann mir nun niemand mehr nehmen. Und für die gibt es beide Daumen nach oben.
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Rezension verfasst von Aufziehvogel

Dienstag, 28. Mai 2024

Einwurf: Eine Plage namens Prequels

 




Es ist gerade kurz nach 01:00 Uhr in der Nacht am Dienstag, den 28.05.2024. Das Wetter draußen ist regnerisch, passend sicherlich zur Stimmung, die gerade in Düsseldorf herrscht nachdem die Fortuna in der Relegation nach einem 3:0 im Hinspiel auswärts anschließend im eigenen Stadion im Elfmeterschießen dann doch noch an dem VfL aus Bochum scheiterte. Ein Duell welches mich, zumindest regional gesehen, unglaublich gepackt hat. Doch, seltsamerweise, kreisen meine Gedanken gerade einmal mehr um ein Thema, dem ich anscheinend nicht entkommen kann. Prequels und Spin-offs. Wieso zu solch einer unwirtlichen Uhrzeit? Ich lag immerhin bereits im Bett. Doch sobald ich meine Augen schloss, hatte ich das irre Grinsen von Chris Hemsworth aus Furiosa vor mir. Ich selbst garnierte dieses mittlerweile bekannte Bild noch mit zwei Köpfen, die ich ungeheuer stark mit fragwürdigen Prequels in Verbindung bringe. Aus den einstigen Lichtgestalten Anakin Skywalker und Bilbo Beutlin, einstmals zwei selten anzutreffende Partygäste, wurden Kneipenstammgäste, die man erst aus dem Laden bekommt, wenn die letzte Runde Weinbrand auf den Wirt geht. Dann ist aber auch wirklich Feierabend. Doch was passiert, wenn der Rausschmeißer-Schnaps auch nicht mehr hilft? Der Wirt könnte ungemütlich werden, aber er möchte auch ungern seine besten Kunden verlieren.

Ich mache mir sicherlich seit einer halben Stunde bereits Gedanken darüber, wie ich diesen Einwurf verfassen soll, ohne wie ein zynischer, arroganter Filmbesserwisser zu klingen. Denn mein Ziel ist es nicht, Prequels und Spin-offs per se zu verteufeln. Im Gegenteil, diese Formate haben durchaus Potential, wenn die Studios dahinter mal mehr Mut hätten, sich von den sogenannten Lichtgestalten zu trennen und etwas komplett neues zu wagen. Für einige scheint es doch noch irgendwie Hoffnung zu geben, andere scheinen den alten Mustern treu zu bleiben. Welche Reihen ich hier meinen könnte, kann man vielleicht vorab schon meinem Titelbild entnehmen, aber ich werde natürlich gleich namentlich drauf eingehen.

Aus irgendwelchen Gründen floppt an den US-Kinokassen gerade das Mad Max Prequel-Spin-off Furiosa: A Mad Max Saga. Maestro George Miller setzte sich dafür sogar nochmal persönlich ans Drehbuch und auf den Regiestuhl. Furiosa, im letzten Mad Max Film (Fury Road) noch gespielt von Charlize Theron, wird in dieser Origin-Story des Charakters von Anya Taylor-Joy verkörpert, während mit Chris Hemsworth ein echter Australier wieder einmal den Gegenpart spielt. Auch George Miller geht nun rückwärts, scheint sein eigenes geschaffenes Universum ausbauen zu wollen während er die Oscarprämierte Erfolgsformel aus Fury Road auf Furiosa anwendet. Trotz äußerst guter Kritiken will der Film an den Kinokassen im Gegensatz zu den vielen Explosionen im Film nicht zünden. Vielleicht teilen sich jetzt gerade, in diesem Augenblick, Furiosa, Garfield und die Mannschaft von Fortuna Düsseldorf im Klub der Enttäuschten bei ihrem Lieblingsitaliener ein großes Blech Lasagne, welches sie mit dem billigen Frascati runterspülen. Zeit für ein  kleines Geständnis: Ich fand bereits Fury Road damals überwertet. Ich wollte den Film wie so viele andere auch lieben, aber der Funke ist letztendlich nie übergesprungen. Ob es am hölzernen Schauspiel von Tom Hardy lag oder meiner Gleichgültigkeit gegenüber Furiosa vermag ich nicht zu sagen. Aber es reichte völlig aus, dass das lang angekündigte Furiosa-Prequel mich nicht interessieren wird. Vielleicht denken auch einige andere Filmfans so. Vielleicht haben aber die meisten diesen Charakter auch einfach schon wieder vergessen. Vielleicht, vielleicht sind es aber auch Gründe, die einfach nicht wirklich zu erklären sind.

Für mich schlägt Furiosa leider in eine ähnlich uninspirierte Prequel-Kerbe wie so viele andere bekannte Reihen, die diesen Weg bereits gegangen sind. Prequels waren vor der Star Wars Prequel-Trilogie längst nicht so ein großes Thema wie heute. Mittlerweile wird alles, was auch nur annähernd erfolgreich ist, ausgeschlachtet. Ganz schlimm ist es im Horrorsektor wo sich eine Reihe wie Saw unlängst in einem unsäglichem Wirrwarr aus Sequel und Prequel und dann wieder Sequel und noch ein Prequel und etwas Spin-off nahezu selbst kannibalisiert hat (auch wenn der letzte Ableger wohl wieder ein Schritt nach vorn war). Ein gleiches Schicksal musste Paranormal Activity damals hinnehmen, zahlreiche japanische Geister-Horrorfilme und auch noch einige Slasher wie zum Beispiel Texas Chainsaw Massacre, wo man sogar so weit ging, ein Prequel in der Remake-Timeline zu produzieren. Und dann gibt es ja auch noch Insidious, The Conjuring und so weiter. Und es wird wohl nicht lange dauern, bis auch der Horror-Hit aus Australien (ein Film, den auch Chris Hemsworth wärmstens empfiehlt) Talk to Me mit mehreren Prequels und Spin-offs ausgestattet wird. Doch die Milchkühe machen auch vor einem so gefürchteten Mann wie John Wick keinen Halt, wo es mit The Continental den ersten "Ableger" der Reihe gibt, der gleichzeitig als Prequel-Serie fungiert. Und Donnie Yen macht sich bestimmt schon bereit für das angekündigte Caine Spin-off.

Die Ideenlosigkeit, die ich hinter den meisten Prequels sehe, ist die Angst der Studios, etablierte, bekannte, ikonische Figuren nicht weiter verwenden zu können. Entfernt man sich zu sehr von einer bestimmten Timeline, besteht die große Gefahr, dass eben genau diese bekannten Figuren nicht mehr zu sehen sind. Bei Warner und MGM war die Angst beim Hobbit anscheinend damals so groß, dass man es vollbrachte, viel mehr Jacksons Ring-Trilogie zu kopieren als Tolkiens Hobbit zu adaptieren. Denn hier herrschte eindeutig verkehrte Welt. Der Herr der Ringe ist unverkennbar das Sequel zum Hobbit. Doch die Verfilmung des Hobbits wurde so konzipiert, dass sie viel mehr ein Prequel zu Peter Jacksons Ring-Trilogie ist. Es ist ein Dilemma, in dem sich Star Wars nun seit Jahrzehnten befindet. Dieses Dilemma startete einst mit der Prequel-Trilogie und dem Wunsch von George Lucas, seine Geschichte, die irgendwo in der Mitte begann, zu Ende erzählen zu können. Dabei verrannte sich Lucas nur in so viele Widersprüche zur Originaltrilogie, dass man alleine aus diesen Widersprüchen eine eigene Trilogie an Spielfilmen anfertigen könnte. Das Prequel-Dilemma. Es begleitet Star Wars praktisch seit der ursprünglichen Trilogie, als sich alle Leute nach dem "Wie, Wieso und Warum" fragten. Die Skwalker und einige andere beliebte Charaktere wurden über die Jahrzehnte viel mehr zu einer Bürde als Hoffnungsträger, die das Franchise tragen. Als Disney nach der Übernahme von Lucasfilm die Marke endgültig ausschlachtete und man fast meinen konnte, vielleicht würde auch noch Jar Jar Binks eine eigenständige Event-Serie erhalten, wurde klar, wie klein die weit, weit entfernte Galaxie wirklich ist. Sämtliche Prequel-Shows wie The Mandalorian, Andor und Ahsoka wagten sich trotz ihrer Qualitäten, wie auch schon die CG-Zeichentrickserien, kaum aus ihrer Komfortzone. Ein bisschen wirkt Star Wars wie ein sehr isolierter Mensch, der tagtäglich das gleiche sieht und sich fragt, wie die Welt wohl hinter Ampel Nr. 5 aussehen mag. Star Wars ist im Prequel-Gefängnis gefangen, obwohl man Geschichten erzählen könnte, die hunderte, gar tausende Jahre zurückreichen oder nach vorn blicken, fernab der Skywalkers und einem weiteren verzweifelten Auftritt von Darth Vader, Luke Skywalker oder dem Imperator. Die Studios klammern sich in ihren Prequels zu sehr an Komfortzonen und Wohlfühloasen, die den Zuschauern aber immer mehr aus den Ohren kommen. Da die Geschichten der Prequels und damit oft verbundenen Spin-offs nur wenige Jahre bis Jahrzehnte auseinander liegen, gibt es kaum Weiterentwicklungen oder echte Neuerungen. Das Schicksal vieler Charaktere kennt man unlängst aus etlichen Filmen. Doch frische, unverbrauchte Geschichten und Charaktere könnten vor diesen legendären Marken liegen.

Jedoch es gibt wenige Beispiele, wo ein Prequel auch funktionieren kann. Zuletzt hat mir dies erst House of the Dragon bewiesen, eine Serie, die rund 200 Jahre vor den Ereignissen in Game of Thrones spielt. Nicht nur respektiert man hier das Buch von GRRM, die Macher haben es auch geschafft, sich von bekannten Charakteren zu lösen, anstatt irgendwelche unsinnigen Origin-Stories zu Publikumsliebling XYZ zu erzählen. House of the Dragon erzählt nicht die Geschichte einzelner bekannter Figuren weiter, die Serie erzählt einen Mythos weiter, die Geschichte einer Familiendynastie und erweitert damit den gesamten Serienkosmos, während man immer noch eine altbekannte Atmosphäre aufbaut, sei es durch bekannte Locations oder Familiennamen. Dies ist etwas, was der Prequel-Serie zum  Herrn der Ringe, den Ringen der Macht, nur in den seltensten Fällen gelungen ist. Genau wie der Hobbit ist man trotz einer gewaltigen Zeitspanne zur Ring-Trilogie  zu sehr darauf bedacht, auf Gedeih und Verderb namhafte Charaktere in der Geschichte unterzubringen. Hier entsteht eine erneute Abhängigkeit zu den bereits etablierten Charakteren, obwohl das Schaffen von Tolkien so viele weitere Geschichten aus verschiedenen Zeitaltern umfasst, die es nicht nur alle wert sind, erzählt zu werden sondern zeitgleich auch auf neue Helden und Bösewichte setzen.

Um nun aber zu meinem Ausganspunkt von ganz oben zurückzukommen, es scheint Hoffnung zu geben und gleichzeitig auch wieder die Befürchtung, einige verharren in ihrer Komfortzone, um sich von bekannten Charakteren, die die Zuschauer kennen und lieben, nicht trennen zu müssen. Ausgerechnet Disney mit Star Wars scheint nun aber verstanden zu haben, dass die Marschrute, die man viel zu lange gefahren ist, nicht mehr weiter befahrbar ist. Bereits seit 2021, als man die High Republic mit viel PR etabliert hat, sind einige sehr gelungene Romane erschienen die mehrere Jahrhunderte vor der Skywalker-Saga spielen. In den Jahren zuvor haben immer mal wieder einige ältere Star Wars Romane Ausflüge in frühere Zeiten gemacht, doch mit der High Republic zählen diese Geschichten erstmals zum neu etablierten Kanon. Auf Grundlage dieser Ära und Romane startet im Juni mit The Acolyte die erste Serie in der High Republic und die rund 100 Jahre vor den Ereignissen der Skywalker-Saga spielen wird. Frische, neue Geschichten und Charaktere, völlig unverbraucht aber in einem etablierten Mythos. Star Wars könnte dies gelingen, was zuletzt House of the Dragon gelungen ist.

Düsterer sieht es da hingegen schon wieder in Mittelerde aus. Auch dort wird weiter neuer Stoff für neue Adaptionen entwickelt. In wenigen Monaten startet die zweite Staffeln zu den Ringen der Macht. Ein erster längerer Teaser zeigt nur wenig Weiterentwicklung und erschuf viel mehr Internet-Memes über Perücken und elbischen Plastikohren. Vor wenigen Wochen wurde die Rückkehr von Peter Jackson und seinem Team angekündigt, die mit Andy Serkis auf dem Regiestuhl für 2026 einen neuen Spielfilm planen, der die Jagd auf die Kreatur Gollum behandeln soll. Warner und Tolkien Estate wollten schon lange einen Film über Aragorn haben, hier können die Verantwortlichen gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen, indem sie in diesem Film mit Aragorn, Gollum und Gandalf gleich drei extrem populäre Charaktere aus dem Franchise unterbringen können. Bereits 2009 erfreute sich ein Non-Profit-Film von Fans, die sich dieser kleinen, verlorenen Geschichte widmeten, großer Beliebtheit. Warner hat nach all diesen Jahren die Verfügbarkeit dieses Fan-Films nun einschränken lassen. Die Jagd nach Gollum taugt sicherlich als kurzer Fan-Film, der nicht ganz eine Stunde Laufzeit für sich beansprucht. Es ist selbst im Herrn der Ringe (Bücher) als auch in den Anhängen (Buch) eine Geschichte, die nicht mehr als eine Randbemerkung von Aragorn wert ist. Die Geschichte bietet keinerlei Spielraum für irgendwelche Weiterentwicklungen des Mittelerde-Kosmos. Noch vor Filmbeginn kennt man das Schicksal aller drei Charaktere. Sollte es hier also nicht die ganz große Überraschung geben, haben die Verantwortlichen erneut den Sprung verpasst, das Universum von Tolkien sinnvoll zu erweitern.

Eine Plage namens Prequels. Etwas melodramatisch von mir nun ausgedrückt, wenn ich ehrlich bin! Aber ich bin nun mal sehr ehrlich und ende diesen Einwurf trotzdem versöhnlich, dass Prequels sowie Spin-Offs ihre Daseinsberechtigung haben, wenn man diese sinnvoll angeht. Wie man an House of the Dragon oder auch der High Republic sieht, kostet es einiges an Aufwand, ein etabliertes Franchise auf neue Gewässer zu führen. Ein Übergang darf nicht zu radikal stattfinden und muss behutsam vorgenommen werden. Auch ohne etablierte Charaktere müssen die Zuschauer sich am Ende heimisch fühlen. Wenn das gelingt, dann kann man auch skeptische Zuschauer wie mich wieder für sich gewinnen. Im altbekannten Trott zu verweilen, weil die Verantwortlichen dahinter sich nicht trauen, von bekannten Charakteren Abschied zu nehmen, bewirkt gegenteiliges. Die Geschichten und Schiskale vieler dieser Charaktere sind unlängst erzählt und besiegelt, stattdessen versäumt man es, aus diesen faszinierenden Universen Geschichten zu präsentieren, die es wert sind, erzählt zu werden. Für Lasagne ist es nun etwas spät (oder früh), aber ich denke, dies war ein ganz brauchbares Schlusswort.

Dienstag, 14. Mai 2024

Rezension: Ripley (Patricia Highsmith)

 





USA 1955

Ripley
Alternativ: Der talentierte Mr. Ripley
Originaltitel: The Talented Mr. Ripley
Autorin: Patricia Hghsmih
Übersetzerin: Melanie Walz
Verlag: Diogenes
Genre: Psychologischer Thriller



"Grau und alt im weichen Licht ihrer spärlichen Straßenlaternen erstreckte sich vor ihm die Via Appia Antica. Grabmalfragmente ragten links und rechts auf und hoben sich schwarz vor dem noch nicht gänzlich dunklen Himmel ab. Mehr Dunkelheit als Licht. Und nur ein einziger Wagen in der Ferne, der ihm entgegenfuhr. Wen verschlug es schon an einem Januarabend nach Einbruch der Dunkelheit auf eine so holprige und düstere Straße? Höchstens Liebesprächen. Der entgegenkommende Wagen fuhr an ihm vorbei. Tom begann sich nach einer geeigneten Stelle umzusehen. Freddie sollte hinter einem stattlichen Grab abgelegt werden, fand er. Etwas weiter vorn standen ein paar Bäume am Straßenrand, hinter denen sich zweifellos ein Grabmal befand oder das, was davon übrig war. Als er die Bäume erreichte, fuhr Tom von der Straße und schaltete die Scheinwerfer ab. Er wartete einen Moment und spähte in beide Richtungen der geraden leeren Straße."



Patricia Highsmith (1921-1995) gehörte zweifelsohne zu den größten Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Nicht wenige Publikationen nannten sie aber häufig die "Unvollendete" und die "Ewig Suchende". Mit ihrem markantem Schreibstil und sarkastischem Humor hat man hinter ihren Geschichten nicht selten einen männlichen Schriftsteller erwartet. Bekannt war sie für ihre komplexen Charakterstudien, den bis zur Perfektion ausgearbeiteten Figuren, alle ausgestattet mit echten Persönlichkeiten samt Macken, Empathie und grundsätzlich psychisch immer am Rande zwischen Genie und Wahnsinn. Highsmith schrieb eine menge Romane und Kurzgeschichten, aber bis heute verbindet man sie wohl mit ihrer "Ripliad", eine Reihe aus insgesamt fünf Romanen, die sie im Verlaufe ihrer gesamten Schriftstellerkarriere verfasst hat. In all diesen Romane spielt der charismatische Tom Ripley die Hauptrolle. Allen voran dürfte wohl die Verfilmung von Anthony Minghella des ersten Romans aus dem Jahr 99 den meisten bekannt sein (obwohl der Roman erstmals bereits 1960 mit dem französischen Schauspieler Alain Delon unter dem Titel "Purple Noon" verfilmt wurde), der so prominent besetzt war, dass ich lediglich Matt Damon als Tom Ripley hier namentlich erwähne, bevor sich meine Rezension zu einem Filmabspann verwandelt.

Rund 25 Jahre sind seit dieser Verfilmung vergangen, mittlerweile dominieren Serien im Heimkino den Markt und nach einigen Tiefschlägen ist Netflix zurück im Geschäft. Bereits die damalige Verfilmung musste einiges federn lassen gegenüber dem Roman. Zum Leidwesen der bereits erwähnten fantastisch ausgearbeiteten Charakteren sowie der labyrinthartigen Gedankenwelt des Tom Ripley. In einer neuen Miniserie von Netflix wollte man dem Roman von Patricia Highsmith nun gerechter werden. In der Hauptrolle steht hier diesmal Andrew Scott als Tom Ripley, der in 8 Episoden eine absolut großartige Performance abliefert und, meiner Meinung nach, zu dem Charakter deutlich besser passt als Matt Damon (sicherlich Geschmackssache). Auch, wenn man hier den ersten Roman adaptiert hat, so verzichtet die neue Serie auf jegliche Untertitel, vermutlich auch, um sich noch Spielraum für 4 weitere Staffeln zu lassen.

Aber zurück zum Roman von Highsmith. Dass ich aktuell etwas italienisch lerne, habe ich auch dem Roman als Ideengeber zu verdanken.  Die von Highsmith so wundervoll beschriebene italienische Kulisse, aber auch den geschickten Einsatz der italienischen Sprache beeindruckte mich beim lesen sehr. Das Italien von Highsmith wirkt exotisch, lebendig und gleichermaßen gefährlich, was zuvor nur der Filmemacher Nicolas Roeg mit seinem Mystery-Film "Wenn die Gondelnd Trauer tragen" bei mir hervorrufen konnte.

Der Plot des Buches selbst ist schnell erzählt. Tom Ripley träumt von einem Leben in der High Society. Ein Leben, welches sein Freund Dickie Greenleaf unlängst dank des Spesenkontos des reichen Vaters führt. Als Herbert Greenleaf Tom darum bittet, seinen Sohn aus Italien zurück in die USA zu bringen, damit dieser das Familiengeschäft übernehmen kann, willigt Tom ein. In Italien angekommen wird Dickie der Gesellschaft seines Kumpels schnell überdrüssig. Doch Tom Ripley möchte La Dolce Vita nicht mehr missen - er möchte das Leben von Dickie Greenleaf führen. Er möchte Dickie Greenleaf sein.

Eine Prämisse, die so simpel klingt und doch in einen unglaublich komplexen psychologischen Thriller ausartet. Mord, Lügen, Identitätsdiebstahl. Es ist alles dabei, es wird in diesem Klassiker alles geboten und mit seiner europäischen Kulisse perfekt in Szene gesetzt. All das wird garniert von den herrlich scharfen, sarkastischen Gedankengängen des Hauptcharakters.


"Uff! Dieser Schmalz am Ende! Oh, Miss Bruchbude! Tom faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Jackentasche. Automatisch warf er einen Blick zu den Doppeltüren des Hotelrestaurants, als rechne er mit der Polizei. Falls die Polizei annahm, dass Dickie Greenleaf und Tom Ripley zusammen unterwegs waren, dann hatte sie die Hotels von Palermo vermutlich schon nach Tom Ripley abgesucht, dachte er."




Abschließende Gedanken

Patrica Highsmiths Roman über einen der wohl größten Betrüger und Soziopathen der Literaturgeschichte ist ein zeitloses Vergnügen. "Der talentierte Mr. Ripley" ist ein fein zusammengesponnenes Netz aus allen Zutaten, die ein Thriller braucht. Wenn Highmsith schreibt, hat man die Bilder gleich vor Augen - als würde man einen Film schauen. Man hat den skrupellosen Tom Ripley vor Augen und vor uns bauen sich zudem die italienischen Kulissen auf, die uns die ganze Zeit begleiten werden. Die Wiederentdeckung dieses beeindruckenden Charakters rund 25 Jahre nach seinem letzten großen Auftritt auf der Kinoleinwand, ist für die Welt der Literatur und Serien ein großer Gewinn. Bevor man sich die neue Serie zu Gemüte führt, sollte man aber darüber nachdenken, zuvor den Roman zu lesen. Beide Werke ergänzen sich trotz einiger Änderungen ausgezeichnet.
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Rezension verfasst von Aufziehvogel

Montag, 22. April 2024

Buchvorstellung: Die rätselhaften Honjin-Morde in der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg

 





Japan 1946

Die rätselhaften Honjin-Morde
Autor: Seishi Yokomizo
Übersetzerin: Ursula Gräfe
Illustratorin: Ann-Kathrin Peuthen
Verlag: Aufbau Verlag
Sonderausgabe: Büchergilde Gutenberg
Format: Hardcover
Genre: Krimi, Mystery



Der Name Seishi Yokomizo ist unverkennbar mit der japanischen Nachkriegsliteratur verknüpft. Insofern ist es, auch wenn es stilistische Gemeinsamkeiten gibt, völlig falsch Yokomizo als japanische Antwort auf Agatha Christie zu nennen. Man tut es trotzdem, weil man natürlich somit einen für uns eher unbekannten Autor besser vermarkten kann. Die Werke von Yokomizo sind natürlich stark geprägt durch westliche Kriminalliteratur, doch auf der anderen Seite haftet ihnen auch der einprägsame Stil der japanischen Literatur an. Seishi Yokomizos Texte haben neben dem prominenten fiktiven Kriminalfall häufig auch sozialkritische Untertöne, wie man sie besonders von der frühen Nachkriegszeit her kennt.

Dass das umfangreiche Werk des Autors nun auch für westliche Leser zugänglich ist liegt an geschicktem Marketing und der allgemeinen Popularität von Kriminalromanen. In den USA veröffentlicht der Verlag Pushkin Press schon seit ein paar Jahren das Werk von Yokomizo, allen voran die bekannte Kosuke Kindaichi Reihe, jener Ermittler, der auch bei den rätselhaften Honjin-Morden im Fokus steht. Doch sind es auch die japanischen Rechteinhaber an Yokomizos Werk, die sich dem westlichen Markt geöffnet haben und die Romane von ausländischen Verlagen lizensieren lassen.

Ein Trend, den auch der Aufbau Verlag aus Deutschland erkannt hat. Da fernöstliche Literatur für den Verlag kein fremdes Territorium ist, hat man sich die Rechte für deutschsprachige Veröffentlichungen gesichert (die Hardcover-Ausgaben werden unter dem "Blumenbar" Label veröffentlicht). Übersetzt wird nicht aus der vorhandenen englischen Sprache sondern direkt aus dem Japanischen. Für die deutschsprachige Übersetzung hat man dafür ins Regal nach ganz oben gegriffen und mit dieser Aufgabe die Japanlogin Ursula Gräfe betraut, die hier keiner weiteren Erwähnung bedarf, da ich ihre Übersetzungen seit Anbeginn dieses Blogs in den höchsten Tönen lobe.

Zufällig bin ich kürzlich auf eine besondere Ausgabe der Honjin-Morde bei dem Bücherklub "Büchergilde Gutenberg" gestoßen und möchte diese Ausgabe, die rein textlich inhaltsgleich mit der Ausgabe vom Aufbau Verlag ist, gerne etwas hervorheben.

Einer der ältesten Bücherklubs in Deutschland veröffentlicht nationale und internationale Titel in kleinen Auflagen. Oftmals sind auch illustrierte Ausgaben dabei, wie bei den rätselhaften Honjin-Morden. Die Ausgabe kommt als robust gebundenes Hardcover daher und unterscheidet sich optisch vollständig von den erhältlichen deutschen und englischen Ausgaben (die beide das gleiche Cover-Artwork benutzen). Zusätzlich zum neuen Cover-Artwork und eigenständiger Bindung befinden sich im Buch noch aufwendige Illustrationen der Illustratorin Ann-Kathrin Peuthen mit einem Stil, der sich an alte japanische Holzschnitte orientiert und kunstvoll in Schwarzweiß präsentiert wird. Die teils abstrakten Illustrationen erinnern beinahe schon an Graphic Novels.

Es ist unklar, ob die Büchergilde auch noch die kommenden Romane des Autors in einer illustrierten Klubausgabe veröffentlichen wird, aber die hier erhältliche Klubausgabe ist für alle Fans der bibliophilen Kunst sicherlich einen Blick wert.









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*Hierbei handelt es sich nicht um eine gesponserte Empfehlung. "Am Meer ist es wärmer" hat keine Leseexemplare vom Aufbau Verlag oder der Büchergilde Gutenberg angefragt. Die hinterlegten Links sind keine Affiliate-Links. Mein Ziel mit solchen Beiträgen ist es, uneigennützig auf schöne Buchausgaben besonderer Titel aufmerksam zu machen : )

Dienstag, 9. April 2024

Rezension: Die Flucht (Fuminori Nakamura)

 





Japan

Die Flucht
Originaltitel: Tobousha
Autor: Fuminori Nakamura
Übersetzerin: Luise Steggewentz
Format: Hardcover, E-Book
Genre: Noir-Thriller, Mystery, Drama



"In der Stille überkommt mich das Gefühl, selbst nur ein Bett, Regal oder Stuhl in diesem Zimmer zu sein. Ein vergessenes Möbelstück, das die Welt nicht mehr braucht. So eine Geschichte hatte ich mir früher einmal ausgedacht. Eine Geschichte über einsame Männer in einem Hotel im Ausland, die sich einer nach dem anderen in Teile der Einrichtung verwandeln. Am Ende entschließt sich der Hotelbesitzer seufzend, einen Entrümpler kommen zu lassen."


Selten nutze ich Zitate von der Anfangsseite eines Buchs. Aber wenn ein Buch mit so einer wundervollen Metapher beginnt, welche Wahl habe ich da schon? Mit dieser melancholischen Fest- und Vorstellung des Hauptcharakters Kenji Yamamine beginnt eine Geschichte, die ich als Leser und Fan der japanischen Literatur so schnell nicht wieder vergessen werde. Aus zeitlichen Gründen, aber auch weil ich "Die Flucht" erstmal sacken lassen musste, hat sich meine Besprechung ein wenig verschoben. Ich musste meine Gedanken noch etwas ordnen. 
Ich habe ende des vergangenen Jahres erstmals von der Lizensierung zu "Die Flucht" erfahren (im Original Tobousha oder auch Tōbōsha, was man unter anderem als "Ausreißer" und "Verdächtiger" übersetzen kann, aber auch der deutsche Titel eine sehr treffsichere Übersetzung des japanischen Begriffs ist). Der Roman ist 2020 in Japan erschienen und damit auch einer der aktuellsten Romane des japanischen Autors Fuminori Nakamura. In der deutschen Übersetzung sind bereits "Der Dieb", "Die Maske" sowie "Der Revolver" erschienen. Allesamt Buchtitel, die so kurzbündig und auf den Punkt gebracht sind wie Nakamuras furiose Geschichten. Mit "Die Flucht" ist ein erneut kurzer Buchtitel erschienen, der Inhalt aber diesmal verteilt auf fast 600 Seiten. Für einen japanischen Roman ist das schon Marcel Proust Niveau. Ich wusste vorab nicht wirklich, worauf ich mich hier einlasse. Das Buchcover bildet einzig und allein eine Trompete ab. Doch liest man sich auch nur die ersten zwei Seiten des Buches durch, so weiß man, diese Trompete ist der Dreh- und Angelpunkt dieser verstrickten Geschichte.

"Die Flucht" startet mit einem Heimvorteil für deutsche Leser (man beachte später auch die wundervollen Beschreibungen des Kölner Doms). In einer heruntergekommenen Wohnung in Köln versteckt sich der Reporter Kenji Yamamine. Während er über einsame Männer nachdenkt, die sich in Möbelstücke verwandeln die keiner mehr haben möchte, raschelt es am Türschloss. Es treibt Kenji den Schweiß auf die Stirn. Wer könnte es nur sein? Haben sie ihn entdeckt? Wird hier sein Leben enden? Ein unbekannter Mann der in englischer Sprache redet hat das Schloss aufgebrochen. Ein Mann von einer beachtlichen Größe. Ein Mann, der zwar keine wehrlosen Hunde tötet, aber dafür Menschen, die nicht kooperieren wollen, viele Schmerzen zufügen kann. Der Ausländer nimmt auf dem Sofa Platz, nichtsahnend, dass sich darunter das Objekt der Begierde befindet. Nach einem längeren Vortrag verlangt er von Kenji, die Trompete rauszurücken. Ein legendäres Instrument welches von einem nicht minder legendären japanischen Komponisten im zweiten Weltkrieg dazu genutzt wurde, die japanischen Truppen zum Sieg eines bedeutenden Manövers zu führen. Kenji sitzt in der Klemme. Es scheint kein Entkommen vor seinem Widersacher zu geben. Doch hier kann die Geschichte nicht enden, noch nicht. Kenji greift zu einer Beretta aus der Schublade, die der Vormieter dort zurückgelassen hat. Kenji ist sich nicht sicher, ob die Waffe echt ist oder nur eine Attrappe. Er zielt auf den unheimlichen Mann.

Was ich hier nun beschrieben habe umfasst gerade mal den Auftakt des Buches. Die Seiten, wie gewohnt bei Nakamura, scheinen sich ganz von selbst umzublättern. Was hier ein wenig wie eine Neuinterpretation um die Geschichte des Teufelsgeigers Niccolò Paganini klingt, ist in Wahrheit etwas ganz anderes. In dem umfangreichen Roman mag die Trompete zwar das mysteriöse Objekt der Begierde sein, dem nachgesagt wird, es könne Menschen verzaubern und die Moral von Soldaten erhöhen, ist nur ein Teil von vielen Schichten einer großen, verzierten Torte, die uns Fuminori Nakamura hier auftischt. Der Plot nimmt noch viele weitere Formen an, viele zeitgenössische Themen wie die Flüchtlingskrise aber auch der christliche Glaube in Japan (der aktuell ja auch in dem TV-Event Shōgun wieder prominente Bedeutung findet) werden hier ausführlich behandelt. Merklich und dennoch subtil baut Nakamura den Glaube in seine Geschichte mit ein. Allen voran geht es in "Die Flucht" aber auch noch um die Beziehung zwischen Kenji und Anh, die er auf den Philippinen kennenlernt und sich in sie verliebt.

"Die Flucht" ist Literatur, wie sie nur aus Japan stammen kann. Wer bei dem Roman einen aalglatten Thriller erwartet, ist hier falsch bzw. wird merken, falsch abgebogen zu sein. Denn wie üblich bei der japanischen Literatur, ganz besonders aber bei Nakamura, ist dieses Buch allen voran eine Charakterstudie. Ein "Psychologischer-Thriller", wenn ich nun einen Begriff nennen müsste. Die Trompete des Komponisten Suzuki ist natürlich der berüchtigte MacGuffin, um die Geschichte voranzutreiben. Im Fokus stehen hier aber eine menge andere Handlungsstränge und Figuren, die allesamt wichtige Rollen ausfüllen. Wer hier westliche Krimis und Thriller verwöhnt ist, der könnte in Fuminori Nakamuras verstrickten Charakter- und Handlungszweigen schnell mal den roten Faden aus den Augen verlieren. Nakamura ist kein Autor, den man sich, um von einem anstrengenden Tag abzuschalten, zu Gemüte führt. "Die Flucht" ist ein blutiges, schweißtreibendes Abenteuer, dem man seine gesamte Aufmerksamkeit auch widmen muss.


"Ich wache auf. Ich habe das Gefühl, geträumt zu haben, kann mich aber nicht an den Traum erinnern. Im Fernseher meines Hotelzimmers, den ich vergessen habe auszustellen, laufen schwarz-weiße Videoaufnahmen. Sie zeigen ein Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Ich verstehe nicht, was auf Deutsch erzählt wird, aber es wird ein Bild von Chiune Sugihara eingeblendet. Sugihara, der ehemalige japanische Vizekonsul in Kaunas in Litauen, widersetzte sich dem Außenministerium und stellte für Juden, die aus Polen geflüchtet waren, Visa aus, womit er vielen das Leben rettete." 


Sehr angetan war ich ebenfalls von der feinfühligen Übersetzung von Luise Steggewentz, ein Name, der mir noch gut durch die ebenso gelungene Übersetzung von Durian Sukegawas "Die Insel der Freundschaft" in Erinnerung geblieben ist. Einen Roman von diesem Kaliber zu übersetzen muss eine unglaubliche Herausforderung gewesen sein, von der ich gerne mehr erfahren möchte.




Abschließende Gedanken

Nicht ist wie es scheint bei Fuminori Nakamura. Wer hier einen linearen Thriller erwartet, wird schon sehr schnell auf hartem Granit landen. "Die Flucht" ist ein spannender, zugleich aber auch unglaublich komplexer Roman, der über mehrere Ebenen verläuft. Nakamura nimmt sich sehr viel zeit für seine Charaktere und deren Beziehungen zueinander. Auch widmet er sich kritischen, zeitgenössischen Themen. Für zartbesaitete ist aber auch dieser Roman nicht geeignet. Wie Martin Scorsese es in seinen Filmen tut, macht es Fuminori Nakamura in seinen Büchern. Wenn er den Stift in blutrote Tinte taucht, dann kommt es unerwartet, aus heiterem Himmel, aber es wirkt nachhallend. Gewalt als Stilmittel um die Geschichte voranzutreiben ist eine Kunst, die ein Autor erst einmal beherrschen muss. Aber Nakamura weiß genau, was er tut. Das gleiche gilt auch für herrliche, kurze Einlagen von einem feinen, trockenen Humor, der mindestens genau so überraschend platziert ist wie so einige blutrünstige Szenen im Buch.

"Die Flucht" ist für mich bereits jetzt in diesem noch jungen Jahr ein literarisches Highlight. Ein Buch, welches ich nicht uneingeschränkt empfehlen kann, da es zu vielschichtig ist, um es Freunden von speziellen Genres nahelegen zu können. Ich würde mir jedoch wünschen, wenn interessierte Leser diesem großartigen Roman eine Chance geben würden. Sowohl die Geschichte als aber auch die fabelhafte Übersetzung hätten es verdient. Fuminori Nakamura liefert mal wieder großartiges literarisches Kino ab. Man sollte sich ins Buch stürzen, ohne den Klappentext zu lesen!




Rezension verfasst von Aufziehvogel