Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Mittwoch, 15. März 2023

Zum Tod von Kenzaburo Oe: Erinnerungen


Die vergangenen Monate liefen gesundheitlich aber auch privat nicht gerade reibungslos. Immer wieder probierte ich es mit neuen Artikeln wie Kolumnen, Besprechungen von Büchern und Filmen, kam aber nie auf mehr als ein paar Worte, bevor ich den kompletten Text wieder gelöscht habe. Was immer ich auch geschrieben habe, ich habe ein für alle mal eingesehen, dass sich die Texte wie eine journalistische Schallplatte gelesen haben, die sich immerzu wiederholten. Und ich habe mich damit abgefunden, besonders nach dem turbulenten Jahresauftakt, hier vermutlich nie wieder eine Silbe für "Am Meer ist es wärmer" zu verfassen. Nach über 12 Jahren wäre dies eher ein Ruhestand als eine Kapitulation.

Über den Tod von Kenzaburo Oe (1935-2023) erfuhr ich vor wenigen Tagen durch eine Push-Mitteilung via NHK World. Der große japanische Nachkriegsautor verstarb bereits am 03.03.2023 im hohen Alter von 88 Jahren. Und dabei überkam mich eine ungeheure Trauer, weil ich automatisch auf das umfassende Werk des japanischen Nobelpreisträgers zurückblicken musste. Oe durchlebte als Mensch und Autor so viele Dekaden des Schaffens, so viele regionale aber auch weltliche Perioden, Unruhen und Konflikte. Mit seinen düsteren, teils dystopischen Geschichten traf Oe immer dort, wo es weh tat. Er war einer von vielen großartigen Autoren der japanischen Nachkriegszeit, Oe überlebte sie alle, ob Kawabata oder Mishima (der den Nobelpreis für Literatur immer offen anstrebte), die beide vor so vielen Jahrzehnten den Freitod wählten.

Wenn die Todesmeldung eines Autors mich nach so vielen Monaten wieder selbst zum schreiben anregt, so muss der Autor einen großen Stellenwert bei mir innehaben. Und damit liegt man nicht falsch. Leider haben es nur viel zu wenige Werke von ihm zu uns in den Westen geschafft. Die Vergabe des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1994 half ungemein dazu, mehr Werke des Autors in verschiedene Sprachen zu übersetzen. Aber noch immer bleibt man uns zahlreiche Übersetzungen schuldig, viele übersetzte Bücher werden unlängst nicht mehr gedruckt und noch weniger werden digital als E-Book archiviert. In Japan genießt Kenzaburo Oe, obwohl immer auch mit einer leichten Kontroverse behaftet (besonders seine kritische Einstellung gegenüber der modernen japanischen Literatur, die er häufig für zu verwestlicht gehalten hat), einen hohen Status. Abgesehen davon hat er diesen Status aber auch noch bei allen Menschen, die bewandert mit der Weltliteratur sind. Oe's teils düstere, gesellschaftskritische Werke genießen zu können setzt auch voraus, sich ein wenig mit der japanischen Nachkriegsgeschichte zu befassen. Der Zugang zum Werk von Kenzaburo Oe wird für moderne Generationen schwieriger, je mehr Zeit vergeht. Obwohl die aktuelle Weltlage wieder einmal so unruhig ist, sodass Oe's Werke praktisch dazu verdammt sind, bald wieder an gegenwärtiger Relevanz zu gewinnen.

Ich erinnere mich an eine von Oe's vermutlich bekanntesten Kurzgeschichten im deutschsprachigen Raum: "Der Stolz der Toten". Ein Frühwerk des Autors aus dem Jahr 1958, welches von zwei Studenten handelt, die einen Nebenjob in der Pathologie ausführen. 2011 verfasste Ich eine Besprechung hier auf "Am Meer ist es wärmer". Die Geschichte selbst hatte ich jedoch einige Jahre zuvor während des vielen Leerlaufs bei meinem Zivildienst gelesen. Obwohl so viele Jahre verstrichen sind, ist diese überschaubar kurze Geschichte bei mir gedanklich haften geblieben.

Vor einigen Tagen fand ich dann doch noch zwei englische E-Books zum Werke Kenzaburo Oe's. Einer seiner wohl bekanntesten Romane "The Silent Cry" sowie eine Sammlung bestehend aus zwei Novellen "Seventeen & J". Insgesamt 3 Geschichten also, die ich bei etwas angenehmeren Temperaturen in aller Ruhe angehen werde.

Mit Kenzaburo Oe hat ein brillanter Autor die Bühne des Lebens verlassen. Anders als viele andere Autoren aus Oe's Generation, widersetzte er sich den Widrigkeiten des Lebens, des japanischen Wandels sowie sämtlichen Trends. Er hinterlässt ein umfangreiches Werk, welches auch in der heutigen Zeit noch wert ist, gelesen zu werden. Vielleicht in der heutigen Zeit umso mehr als noch vor einigen Jahren. Seine Verdienste gegenüber der japanischen Literatur sowie den heutigen hohen Stellenwert, den die zeitgenössische japanische Literatur weltweit genießt, geht zu einem Großteil auch auf das Schaffen von Kenzaburo Oe zurück. Ein Autor, auf den ich immer wieder mit großer Freude zurückblicken werde.

Montag, 31. Oktober 2022

Halloween-Rezension: Sensor (Junji Ito)

 



Japan

Sensor
Originaltitel: Muma no Kikou
Autor und Zeichner: Junji Ito
Verlag: Carlsen
Format: Hardcover
Übersetzung: Jens Ossa
Genre: Horror, Mystery


Japans Horrormeister Junji Ito beglückt seine wartenden Fans immer seltener mit brandneuen Werken. Er lässt sich für seine Fieberträume gerne Zeit. Doch wenn Ito an einem neuen Einzelband oder neuen Kurzgeschichten sitzt, dann beschwört er die pure Anarchie hinauf. Sensor entstand zwischen 2018-2019 und die einzelnen Kapitel wurden kurze Zeit später in seiner Heimat dann auch als einzelner Sammelband veröffentlicht. Sensor zählt somit zur "Horror World of Junji Ito", eine riesige Anthologie, die Itos One-Shots und Kurzgeschichten beinhaltet.

Es hat zwar etwas gedauert, aber nun hat sich auch nach kleineren Versuchen vor einigen Jahren mit Uzumaki und Gyo der Carlsen Verlag etabliert, was die Veröffentlichungen von Junji Ito angeht. Man veröffentlicht in einem schicken, einheitlichem Design Hardcover-Ausgaben zu bezahlbaren Preisen. Somit dürfte Junji Ito auch in Deutschland nun eine feste Heimat haben.

Sensor ist, wie nicht anders zu erwarten, wieder einmal eine bizarre Geschichte, die ich nicht wirklich erklären oder beschreiben kann. Ein Fiebertraum passt hier schon, aber die Geschichte hat besonders durch seine abstrakten Illustrationen etwas hypnotisierendes. Beim lesen der Geschichte ist mir daher folgendes aufgefallen: Sensor könnte völlig ohne Probleme eine zusätzliche Geschichte in "Der König in Gelb" von Robert Chambers sein, ein Mythos, den später auch H.P. Lovecraft weiterführen sollte.




Sensor ist auf den ersten Blick nicht der gewohnte blanke Horror, den man von ihm kennt. Im Fokus steht ein wenig japanische Folklore, allen voran der stille Vulkan Sengoku und ein kleines, ländliches Dorf direkt in der Nähe. Das Dorf ist vollkommen bedeckt von Pele-Haar (zum besseren Verständnis führt hier ein Link in einem separaten Fenster zu Wikipedia). Diese goldenen Fäden, so die Dorfbewohner, verleihen ihnen übernatürliche Fähigkeiten. Als eine junge Frau das Dorf besucht, wird sie bereits mit offenen Armen empfangen - ihr Besuch wurde von den Dorfbewohnern vorhergesehen und sie soll das auserwählte Medium sein, dessen Ankunft schon lange vorausgesagt wurde. Der Albtraum für alle Beteiligten beginnt damit erst und es finden seltsame und bizarre  Ereignisse über ganz Japan verteilt statt.

Wie üblich bei Junji Itos One-Shot Geschichten, besitzt jedes Kapitel das Potential dazu, als eigenständige kleine Kurzgeschichte durchzugehen. Ein Reporter ist dem Mysterium auf der Spur und gerät dabei immer tiefer in eine Geschichte, die ihn regelrecht den Verstand rauben wird. Je weiter die Geschichte in Sensor geht, desto mehr kommt Itos klassischer Horror, Extremsituationen und sein herrlicher schwarzer Humor zur Geltung. Ito scheut sich auch in Sensor nicht vor Absurditäten, die nur er in ein Horrorgewand verpacken kann, welches die Leser noch für einige Zeit nach Beendigung der Geschichte begleiten wird. Daher geht die Warnung gleich mal raus: Obwohl Sensor relativ bodenständig beginnt, gibt es auch hier wieder eine ordentliche Portion Body-Horror, der vor einem gewissen Grad an Ekel nicht zurückschreckt. Doch wie immer kommen auch eine subtile Gesellschaftskritik und die ganz menschlichen Abgründe der verschiedenen Charaktere hier nicht zu kurz.





Abschließende Gedanken

Nach Remina ging es für mich geradewegs weiter zu Sensor. In beiden Werken entfaltet sich der ganze Wahnsinn von Junji Itos Horrorwelt. Ich habe aufgegeben zu versuchen, Itos Stil und Geschichten zu erklären. Wie in meinem Beitrag von 2017 schon erwähnt: Man muss die Geschichten selbst erleben und auf sich wirken lassen. Ohne Frage sind Itos Geschichten aber auch der perfekte Begleiter zu Halloween. Am besten, man deckt sich mit so vielen Bänden wie möglich ein und, sofern es die Zeit zulässt, verbringt eine komplette Nacht damit, sie in einem gedimmten Raum, ohne Technikgedöns in Reichweite und laufenden Fernseher im Hintergrund, zu lesen. Dem Wahnsinn wird man nach so einer Nacht sicherlich ein Stück näher gekommen sein.

Donnerstag, 27. Oktober 2022

Mit Dokico geht in Deutschland nächstes Jahr der erste Light Novel Verlag an den Start

 

Copyright: Dokico


Eine Meldung, die mich in den vergangenen Tagen sehr erfreute war die Ankündigung des ersten eigenständigen Light Novel Verlags in Deutschland. Das Team hört auf den Name "Dokico", welches sich aus den Worten "Doki-Doki" und "Comedy" auseinandersetzt und auch gleichzeitig das Verlagsmotto zur Geltung bringt: Emotionen und Unterhaltung. Man möchte die bunte Vielfalt der japanischen Belletristik deutschen Lesern näher bringen und möchte Genres wie RomComs, Drama, Slice of Life und Mystery abdecken. Von Isekai möchte man sich wohl vorerst fernhalten.
Für das Logo des Verlags gab es bereits prominente Unterstützung: Hierfür war der Highschool DxD Mangaka Hiroji Mishima verantwortlich.

Der Verlag soll 2023 seine ersten Titel veröffentlichen. Veröffentlichen will man Printausgaben und E-Books, zudem soll es über den hauseigenen Shop wohl noch Spezialeditionen geben.
Aktuell gibt es zwar noch keine angekündigten Lizenzen, man sollte aber wachsam die Website des Verlags beobachten, was sich da in kommender Zeit tun wird.

Sofern man sich an gewisse Spielregeln hält, kann man dem sehr sympathischen Team vom Dokico Verlag auch Lizenzwünsche schicken. Was man beachten muss erfährt man in einem kleinen FAQ. Da ich mich hier nicht selbst jinxen möchte, verrate ich in diesem Absatz einfach mal nicht, was ich mir gewünscht habe ;P

Der Aufziehvogel drückt dem Team alle verfügbaren Daumen, da das Thema Light Novels in Deutschland immer noch eine Herausforderung sein dürfte. Was in anderen Ländern wie den USA oder Frankreich unlängst etabliert ist, ist bei uns in Deutschland noch immer eine Nische. Auf diesen Verlag aufmerksam zu machen war also Pflichtprogramm!


Link zur Website (Öffnet neues Browserfenster zur Website des Verlags): Dokico

Samstag, 1. Oktober 2022

Durchgeschaut und durchgelesen: Das ABC der Videospiele Level 2 (Gregor Kartsios)

 



Deutschland 2022


Das ABC der Videospiele Level 2
Autor: Gregor Kartsios
Format: Hardcover, E-Book
Genre: Sachbuch, Videospiele



Es ist nicht ganz ein Jahr vergangen, da habe ich kurz vor Jahresende im Dezember in meinem ersten "Durchgeschaut und durchgelesen" den ersten Band zu "Das ABC der Videospiele" von Gregor Kartsios besprochen, den die meisten vermutlich trotz mittlerweile zwei erfolgreicher Bücher wohl immer noch als Retro-Meister bei Rocket Beans und JRPG-Fanatiker auf seinem eigenen YouTube Kanal am besten kennen. Und letztes Jahr gab es von mir den Hinweis als Fan der guten alten Retrozeit das Sachbuch von Gregor nicht zu verpassen. Besonders für ein Debütwerk (und ganz besonders zu einem sehr sympathischen Preis) war das ABC der Videospiele eine mehr als interessante Lektüre, auch ganz abseits des wöchentlichen Retro Klubs bei den Rocket Beans.

Von A-Z schrieb sich Gregor in dem ausführlichen ersten Band durch die frühen Anfänge der Videospielwelt. Kritik zu vergeben hatte ich kaum. Einige Themen hätten ein wenig ausführlicher besprochen werden können, ein paar Themen hätten etwas nischiger sein können und die Auswahl der Bilder und die Größe der Bilder war nicht ganz so optimal. Keine 12 Monate später zähle ich das ABC erneut auf und muss feststellen: An genau diesen Stellschrauben wurde gearbeitet. Während ich krank im Bett lag begleitete mich die Fortsetzung, diesmal noch umfangreicher, erneut von A wie Activision bis Z wie Zilog Z80.

Dank des größeren Inhalts konnten in Level 2 die Themen noch ausführlicher besprochen werden, die Themen sind allgemein ein wenig "nischiger" geworden (besonders für Fans japanischer Videospiele ist hier einiges dabei) und die Auswahl und Auflösung der abgedruckten Bilder hat sich noch einmal deutlich verbessert. Und dann gibt es auch noch für alle Masochisten die mal mit Konami sympathisierten besonders emotionale Themengebiete die nicht unter K wie Konmai, sondern unter H wie Hideo Kojima oder S wie Silent Hill zu finden sind!


                                                                 Metal Gear Solid


Die Zutaten aus dem ersten Band wurden zudem in dieser Fortsetzung weiterverwendet. Nur ganze 2 Seiten benötigt Gregor für ein Vorwort, hält sich nicht an staubigen Belanglosigkeiten auf und kommt direkt zur Sache. Die Texte haben alle eine optimale Länge, sind weiterhin gut verständlich und sympathisch verfasst und ausgezeichnet recherchiert. Der Autor hat sich hier aber nun selbst die Freiheit genommen, sich nicht selbst durch die Länge eines jeweiligen Artikels unter Druck zu setzen. Jedes Thema bekommt so viel Zuwendung, bis es abgearbeitet ist. So gibt es in Level 2 eine recht üppige Besprechung über die gefühlt zweihundertjährige Entwicklungszeit von Duke Nukem Forever.

Für alle Fans von "Spiele mit Bart" (Rocket Beans Showformat mit Gregor und Simon) gibt es übrigens auf Seite 22 ein kleines Easter Egg).


                                                                       Silent Hill



Besonders hervorheben möchte ich hier die Auswahl der Bilder, die stimmig aus offiziellen Postern, Promomaterial, Screenshots, Artworks und Covern zusammengestellt wurde. Es gibt hier zudem auch noch einige schöne Vintage-Scans, die alle sehr gut in die Artikel eingebunden wurden.

Zu den weiteren Themen im ABC gehört auch ein großer Abschnitt zu Mortal Kombat, welches geschickt mit dem Thema Jugendschutz und der damaligen Problematik nicht nur in Deutschland verknüpft wurde. Die guten Nachrichten: Über die Anfangszeit von Mortal Kombat darf auch endlich in der Bundesrepublik wieder berichtet werden, was besonders für die Videospielhistorie relevant ist, zuletzt wurden zahlreiche ältere Mortal Kombat Titel vom Index entfernt, nachdem neuere Titel bereits zügig in Deutschland eine Altersfreigabe bereits erhalten hatten.

Level 2 widmet sich auch dem Thema Videospiel Engine. Unter U wie Unreal Engine befindet sich ein sehr interessanter Artikel über die wohl geschichtsträchtigste Engine in der Welt der Videospiele.

Während die ruhmreiche Historie auch für Videospiele bereits geschrieben ist, merkt man aber immer wieder wie kurzlebig die Gegenwart doch ist. In einem der letzten großen Artikel - nämlich unter Y wie Yu Suzuki, berichtet der Autor noch über eine geplante Fortsetzung des Shenmue Anime und einer Hoffnung für einen vierten Teil der Videospielreihe; erst vorgestern wurde die Serie trotz guter Klickzahlen und sehr zum Unmut der Produzenten eingestampft.



Abschließende Gedanken


Das ABC der Videospiele Level 2 ist praktisch das Mortal Kombat 2 unter den Sachbüchern. Es übernimmt die Stärken des Originals und expandiert sinnvoll in zahlreiche verschiedene Richtungen. So ist auch hier erneut ein umfangreiches Sachbuch über das Thema Videospielhistorie entstanden, welches immer bei der Themenauswahl und ganz besonders die Länge der Themen On Point ist. Die Hardcover-Aufmachung passt sich nahtlos dem Erstling an und ist für einen Preis von 16 Euro erneut robust verarbeitet. Gregor Kartsios hat nun schon zweimal bewiesen, dass er das Alphabet von A-Z drauf hat. Und wer weiß schon, ob er nicht auch noch ein drittes mal das Alphabet runterbeten kann. Da fällt mir ein, Super Mario Spiele haben ja meistens 8 Welten!

Sonntag, 18. September 2022

Rezension: Papyrus (Irene Vallejo)





Spanien


Papyrus
Originaltitel: El infinito en un junco. La invención de los libros en el mundo antiguo
Autorin: Irene Vallejo
Veröffentlichung: 27.04.2022 
Verlag: Diogenes
Übersetzung: Maria Meinel und Luis Ruby
Genre: Sachbuch, Antike Literatur



"Niemand hat die Farben Alexandrias und die körperlichen Eindrücke, die der Ort in ihm auslöste, präziser beschrieben als er. Die erdrückende Stille und den hohen Sommerhimmel. Die Tage in sengender Hitze. Das strahlende Blau des Meeres, die Wellenbrecher, die gelben Ufer. Im Landesinneren der Mariout, zuweilen konturenlos wie eine Fata Morgana. Zwischen den Wassern des Hafens und des Sees unzählige Straßen voller Staub, Bettler und Fliegen. Palmen, Luxushotels, Haschisch, Trunkenheit. Die trockene, vor Elektrizität knisternde Luft. Abende in Zitronengelb und Lila. Fünf große Ethnien, fünf Sprachen, ein Dutzend Religionen, das Spiegelbild von fünf Flotten im öligen Wasser. In Alexandria, schreibt Durrell, erwacht das Fleisch zum Leben und rüttelt an den Gitterstäben seines Gefängnisses. Im Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt schwere Zerstörungen. Im letzten Roman des Quartetts beschreibt Clea eine melancholische Landschaft. Gestrandete Panzer am Meeresufer, die Dinosaurierskeletten gleichen, die großen Kanonen wie umgestürzte Bäume in einem versteinerten Wald, die Beduinen, die sich in Minenfelder verirren. Die Stadt, schon immer ein Ort der Perversionen, schließt er, ähnelt jetzt einem riesigen öffentlichen Pissoir."


Ich habe hier schon etliche interessante Sachbücher besprochen. Es ist noch gar nicht so lang her, da besprach ich mit Life Lessons auf dem Amazonas bereits ein unglaublich gelungenes Sachbuch, welches sich nicht trocken mit einem Thema auseinandersetzte sondern sich beinahe schon so abenteuerlich wie ein richtiger Roman las. Obwohl thematisch auf einem komplett anderen Ufer angesiedelt, schlägt die Spanierin Irene Vallejo mit "Papyrus" in eine ähnliche Kerbe. Der Titel ist Programm. Ein Buch über Bücher. Auf über 700 Seiten (in der deutschen Übersetzung) verteilt könnte das Thema also so staubig wie ein antiker Papyrus sein, doch die Philologin mit einer Liebe für die Antike hat es vollbracht, aus dieser Thematik etwas einzigartiges zu erschaffen. Dies wird direkt im Prolog deutlich, der auch zum Auftakt eines großen, historischen Romans gehören könnte.

Die Autorin stellt sich nach dem abenteuerlichen Prolog vor. Vor lauter Büchern weiß sie in ihrer Wohnung manchmal gar nicht, wo sie hin tritt. Sie berichtet über die riesige Überwindung, die es kostete, dieses Buch zu verfassen. Die schier unendliche Recherche und dazu noch die Gabe zu besitzen, die antike Thematik in eine flotte, moderne Sprache umzuwandeln sehe ich jedoch als größte Hürde, wenn man sich so ein ambitioniertes Projekt vornimmt. Beim hervorheben meines Eröffnungszitats für diese Rezension konnte ich mich kaum bremsen und beinahe noch den Rest der Seite hier hinzugefügt.

Irene Vallejo nimmt uns hier mit auf eine Zeit- und Weltreise durch die Geschichte der Bücher. Angefangen im antiken Griechenland, hin zu der Bibliothek von Alexandria, weit hinaus über den Eroberungsfeldzuges von Alexander dem Großen der zum einschlafen keinen Teddybär brauchte, sondern sein Exemplar der Ilyas. Der Weg dieser langen Reise geht bis in unsere Moderne Gegenwart, wo das E-Book mittlerweile ein alter Hut ist und gedruckte Buch aber bis heute nicht abgelöst hat. Die Autorin verpackt all diese verschiedenen Epochen des Buches in kleine, unterhaltsame Geschichten, die historisch alle großartig recherchiert wurden. Mit einer lockeren Sprache garniert blättern sich die einzelnen Seiten dieses doch recht umfangreichen Buches wie von selbst.


"Das ägyptische Alexandria wurde, wie könnte es anders sein, aus einem literarischen Traum geboren, einem homerischen Wispern. Im Schlaf sah Alexander, wie ein grauhaariger alter Mann an seine Seite trat. Der rätselhafte Unbekannte rezitierte einige Verse aus der Odyssee, in denen von einer Insel namens Pharos die Rede ist, die umgeben vom Meeresrauschen vor der ägyptischen Küste liegt. Die Insel gab es wirklich, nahe der Schwemmebene, in der sich das Nildelta mit den Wassern des Mittelmeers vereint. Alexander sah in dieser Vision, wie damals üblich, ein Vorzeichen und gründete dort die vorbestimmte Stadt."


Von Unordnung, antikem Chaos oder babylonischer Sprachverwirrung ist in Papyrus keine Spur. Die junge Autorin geht im Schongang von einem Thema zum nächsten und erzählt jede historische Anekdote wie eine kleine Kurzgeschichte. Die Hingabe, die in dieses Buch geflossen ist liest man an genau dieser präzisen Ordnung, die man auf jeder Seite, in jedem Kapitel vorfinden wird.



Abschließende Gedanken


In einer schönen Hardcover-Ausgabe wird der Diogenes Verlag dem Papyrus gerecht. Es ist eine schöne Edition für das Bücherregal. Auch die beiden Übersetzer haben hier eine hervorragende Arbeit abgeliefert, indem sie eine flüssige Sprache präsentieren und den Wortwitz der Autorin gut in die deutsche Sprache übertragen haben. Für mich als einstigen Sachbuch-Muffel erlebe ich derzeit ein wunderschönes Repertoire an gelungenen Titeln. Für jemanden wie mich, der selbst seit Ewigkeiten wissbegierig ist was die Antike angeht, hat diese ausführliche Weltreise eine menge Spaß gemacht. Im Anhang gibt es noch ein riesiges Quellenverzeichnis. Ich hätte es ganz schön gefunden, wenn es in einem separaten Abschnitt im Buch vielleicht noch ein paar bebilderte Seiten gegeben hätte, die sich mit antiken Schriftrollen auseinandersetzen. Ich kenne die Originalausgabe nun nicht und kann daher nicht mit einer Bestimmtheit sagen, ob solche Abbildungen dort vielleicht enthalten sind.

Irene Vallejo hat hier nicht nur eine Liebeserklärung an ihren Hang zur Antike abgeliefert, es ist auch eine Liebe an die Bücher selbst. An das Papier. An den Druck, An alles, was so ein Buch nun einmal ausmacht. Doch ein Buch ist eben nicht nur das von mir aufgezählte, ein Buch ist auch unsere Weltgeschichte. Hinter jeder noch so kleinen Anekdote steckt ein Stück unser Weltgeschichte. Irene Vallejo hat hier ihren Beitrag geleistet, diese kleinen und großen Geister der literarischen Vergangenheit zu sammeln und uns von ihnen zu erzählen.