Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Mittwoch, 31. Mai 2017

Rezension: Into the Water (Paula Hawkins)







Großbritannien 2017

Into the Water
Autorin: Paula Hawkins
Verlag: Blanvalet
Übersetzung: Christoph Göhler
Veröffentlichung: 24.05.2017
Genre: Mystery, Thriller




"Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. Dann sah ich auf. Dort waren die Bäume und hier die Steinstufen, vermoost und tückisch nach dem Regen. Sämtliche Härchen an meinem Körper stellten sich auf. Woran ich mich erinnerte: An den eisigen Regen, der auf den Asphalt trommelte, die zuckenden Blaulichter, die im Wettstreit mit den Blitzen den Fluss und den Himmel erhellten, Atemwolken vor verängstigten Gesichtern und den kleinen Jungen, der bibbernd und weiß wie ein Gespenst von einer Polizistin die Stufen zur Straße hinaufgeführt wurde. Daran, wie sie seine Hand umklammert hielt, wie sie sich mit großen, wilden Augen umschaute und den Kopf hin- und herwandte, während sie irgendwen rief. Noch heute kann ich fühlen, was ich damals fühlte, Grauen und Faszination zugleich. In meinem Kopf höre ich dich immer noch sagen: Wie das wohl sein muss? Kannst du dir das vorstellen? Zusehen zu müssen, wie deine eigene Mutter stirbt?"
(Into the Water: Paula Hawkins. Verlag: Blanvalet. Übersetzung: Christoph Göhler)



"Into the Water" von Paula Hawkins fiel mir beinahe zufällig in die Hände. Geplant war der Titel und die anschließende Besprechung für eine Gast-Autorin, die für "Am Meer ist es wärmer" bereits eine Rezension zu "Girl on the Train" verfasst hat. Aus zeitlichen Gründen musste die Rezensentin mir aber absagen und so blieb Into the Water auf meinem Schreibtisch liegen. Somit fiel der Titel auf meinem eigenen Stapel. Obwohl ich Gillian Flynns "Gone Girl" als sehr gelungen erachte, bin ich nun auch kein passionierter Leser von Thrillern weiblicher Autorinnen. Dass mich dieses Metier aber durchaus auch begeistern kann, dies hat zuletzt erst "Geständnisse" der japanischen Autorin Kanae Minato bewiesen. Ob Paula Hawkins neuster "Spannungsroman" mich begeistern konnte, erfahrt ihr jetzt.

Ein guter Titel ist die halbe Miete, heißt es..... oder auch nicht. Paula Hawkins hätte ihren Roman wohl lieber "Drowning Pool" genannt, wenn dies nicht unbedingt Probleme mit Urheberrechten und anderen Querelen mit sich bringen würde. Den Titel "Into the Water" kann ihr daher doch logischerweise nur ein Redakteur zugespielt haben, denn an größerer Ideenlosigkeit ist dieser langweilige Titel für einen umfangreichen Roman kaum zu überbieten. Wiederum, Girl on the Train ist auch nicht gerade ein Titel, der von Einfallsreichtum strotzt. Am wichtigsten ist jedoch, ob der Inhalt überzeugen kann. Nach dem sensationellem Erfolg von Girl on the Train hätte die Autorin ihren neusten Roman auch "Dead Body in the Water" nennen können und keinen hätte es gekümmert, denn eine feste Leserschaft war Paula Hawkins von vornherein sicher.

Into the Water beginnt nicht so, wie man sich den typischen Mystery-Thriller vorstellt. Der Prolog erinnert sogar ein wenig an die Eröffnungssequenz des Pilotfilms von Twin Peaks, die die Zuschauer durch ihre kryptische art und weise auch sehr überrascht haben dürfte. Die Geschichte beginnt im Jahr 2015 und Jules (ein Kosename für Julia) berichtet über eine Person, die ihr anscheinend mal sehr nahe stand. Trauer vermischt sich mit Wut und ihren Worten merkt man sofort an,  die Frau pflegte ein sehr zerrüttetes Verhältnis zu dieser Person. Die Feder wird an Josh weitergereicht, ein junger Mann, der wartet, dass seine Mutter heimkehrt, die, seit dem Tod ihrer Tochter, gerne mal nächtliche Spaziergänge unternimmt. Als sie am Morgen zurückkehrt und sich ins Haus schleicht, geht sie die Treppen zum Schlafzimmer hinauf und weckt ihren Mann, ihr Sohn Josh folgt ihr dabei heimlich. Als ihr Mann Alec aus einem tiefen Schlaf erwacht, macht seine Frau ihm die traurige Kunde, die Leiche von Nel Abbott sei vor einigen Stunden gefunden worden. Erneut wechselt die Erzählung zu Jules, die sich der Polizei als die Schwester der Verstorbenen vorstellt.

Es dauert um die 50 Seiten, bis für den Leser wirklich klar wird, um was es in dieser Geschichte geht. Durch die kryptische, sehr unkonventionelle Erzählweise gewinnt die Geschichte schnell an Fahrt. Einige Leser könnte so ein Stil vielleicht überfordern oder abschrecken, ich hingegen war überraschend angetan. Alle 5-10 Seiten (zum größten Teil der Geschichte zumindest) wechselt der Erzähler, was eine Besonderheit ist aufgrund der Kürze der jeweiligen Parts. Dabei wechselt die Erzählung auch gerne mal vom Ich-Erzähler zum Erzähler aus der dritten Person. Meine Sorge, dieser Stil könnte sich irgendwann abnutzen und langweilig werden, hat sich nicht bewahrheitet. Erst die vielen kleinen Geschichten ergeben gemeinsam ein großes Gesamtwerk, was äußerst gut durchdacht ist, aber leider auch nicht völlig ohne bekannte Klischees auskommt. Von Themen wie Feminismus möchte ich mich aber dennoch distanzieren, da diese Debatte auch wieder einmal auf der Agenda stand. Dass das Buch eher eine weibliche Leserschaft anpeilt, dürfte jetzt keine besonders große und überraschende Offenbarung sein.



Resümee

Paula Hawkins Stil sorgte bei mir für eine Überraschung. Die sich stets abwechselnden Erzähler(innen) sorgen für Spannung, Mysterien und eine menge Konfusion. Man kann nicht allen trauen, keiner sagt die Wahrheit und jeder ist mal wieder irgendwie verdächtig. Die Zutaten sind alle bekannt und wurden nicht neu erfunden, aber wie sie zusammengeführt wurden ergibt durchaus ein recht erfrischendes Konzept. "Into the Water" ist erst der zweite Mystery-Thriller von Paula Hawkins und ihr Stil scheint sich etabliert zu haben. Abgesehen von der Nutzung einiger etwas zu abgedroschener Klischees und einer kleinen Überlänge ist in dieser Geschichte alles an seinem Platz. Genau da, wo es hingehört. Paula Hawkins scheint gerne die zerstörten Teile einer Vase wieder zusammenzusetzen, aber nicht, ohne dem bekanntem Objekt noch ein eigenständiges Markenzeichen zu hinterlassen.

Freitag, 19. Mai 2017

Rezension: Geständnisse (Kanae Minato)



(Foto: ©Ayako Shimobayashi)




Japan 2008

Geständnisse
Originaltitel: Kokuhaku
Autorin: Kanae Minato
Verlag: C. Bertelsmann
Übersetzung: Sabine Lohmann nach einer englischen Übersetzung von Stephen Snyder
Veröffentlichung: 27.03.2017 beim C. Bertelsmann Verlag
Genre: Gesellschaftsdrama, Mystery-Thriller (Iyamisu)



"Ich frage mich, was für ein Bild die Leute sich wohl von dieser Lunacy machen. Überlegt mal, würde eine schöne junge Frau sich freiwillig als unzurechnungsfähig bezeichnen? Wenn man von Gesetzes wegen keine Bilder von jugendlichen Mördern veröffentlichen darf, warum dann die Leute dazu verleiten, sich jemand Hübsches vorzustellen? Besser, man würde stattdessen ein fingiertes Bild von der Person unter die Leute bringen, ein Foto von einer bösartig grinsenden Verrückten. Warum denn nicht zeigen, was für eine Sorte Mensch so jemand ist? Wenn wir sie stattdessen in Watte packen und jede Menge Aufhebens um sie veranstalten, bestärken wir sie dann nicht noch in ihrem Narzissmus? Und werden sich dann nicht noch mehr törichte Kinder dazu angeregt fühlen, sie zu verehren? Und vor allem, wenn ein Kind ein derartiges Verbrechen begeht, obliegt es dann nicht den Erwachsenen, so diskret wie möglich damit umzugehen und dem Verbrecher die Schwere seines Vergehens unmissverständlich klar zu machen? Diese Lunacy wird ein paar Jahre in irgendeiner Erziehungsanstalt verbringen, vielleicht irgendeine Art von Abbitte verfassen, und dann zurück in die Gesellschaft entlassen werden, sehr wohl wissend, dass sie als Mörderin straffrei davongekommen ist."
(Geständnisse: Kanae Minato. Verlag: C. Bertlesmann. Übersetzung: Sabine Lohmann)



Die grundlegende Frage, die im Vorfeld geklärt werden muss: Wer hat sich denn nun verspätet? Die deutsche Übersetzung zu Kanae Minatos "Kokuhaku", oder meine Besprechung zur hier präsentierten Ausgabe? Nun, ich bin mal so bescheiden und markiere hier ein Unentschieden. Diese leicht sarkastische Bemerkung ist hier natürlich nicht an den Verlag gerichtet, sondern an die deutsche Leserschaft, die über die Jahre hinweg von "Autoren" wie Fitzek, Tsokos und Co. durch Krimis vom Fließband literarisch beschallt wurde. Ein Roman wie "Geständnisse" wird an vielen Lesern wohl vorbeirauschen, was überaus schade ist. Zum einen, weil es ein Verlust für jeden Fan spannender Literatur ist, zum anderen aber auch, weil die geringe Beachtung solcher Titel dafür sorgt, das die Verlage sich von der japanischen Literatur noch weiter distanzieren. Im Fall von Geständnisse, so scheint der C. Bertelsmann Verlag hier aber wohl doch einen Treffer gelandet zu haben. Der Roman kam bei sämtlichen Kritikern gut an und fand selbst eine besondere Erwähnung in der Sendung "Druckfrisch" von Literaturkritiker Denis Scheck.

Obwohl Leser meines Blogs meine ausufernden Abschnitte über den Inhalt eines Buches so langsam kennen dürften, so werde ich diesen Teil aber diesmal bewusst verkürzen. Einen Roman wie Geständnisse sollte man völlig unvoreingenommen angehen. Es reicht völlig aus, sich die kurze Inhaltsangabe auf der Rückseite des Schutzumschlages der deutschen Ausgabe durchzulesen. Meiden sollte man dafür die ausführliche Inhaltsangabe, die auf der Innenseite des Schutzumschlages zu finden ist, sobald man den Buchdeckel öffnet. Genau das dürfte auch die Intention der Autorin sein. Der Leser soll sich zurücklehnen, sich in Sicherheit wiegen und sich von der Autorin führen lassen. Bis zur ersten Offenbarung braucht Kanae Minato etwas über 20 Seiten, von da an nimmt die entspannte Unterrichtsstunde eine unerwartete Wendung und driftet förmlich in einen furchtbaren Alptraum ab.

Geständnisse hält sich nicht mit einem ausufernden Prolog auf, sondern führt direkt zum Kern der Geschichte. Anfangs wird der Leser noch sehr verdutzt sein. Die Eröffnung liest sich wie der Monolog einer Person, die am Rande des Wahnsinn ist und Selbstgespräche führt. Es gibt keine Wörtliche Rede oder andere, zigfach durchgekaute Stilmittel dieses Genres. Genau das macht die Eröffnung von Geständnisse so einzigartig. Schon auf den ersten Seiten wird der Leser mit Yuko Moriguchi konfrontiert, einer Lehrerin, die ihrer Klasse einen letzten Vortrag hält, weil sie anschließend ihren Beruf als Lehrkraft aufgeben wird. Schnell wird klar, dass Moriguchi hier keinen gewöhnlichen Vortrag hält. Man wird die Frau als altklug und unterkühlt ansehen, als eine Lehrerin, die ihre Schüler ihre gesamte Laufbahn eigentlich immer nur als Belastung ansah. Je weiter der Vortrag aber geht, umso mehr wird auch der Leser wissen, dass hier weder Moriguchi, noch aber die Schüler diese Geschichte unbeschadet überstehen werden.

Die Gesellschaftskritik in Geständnisse wird sehr schnell deutlich. Auch wenn hier sehr speziell typisch japanische Probleme (Schulsystem, Jugendstrafrecht etc.) im Mittelpunkt stehen, so sollten auch westliche Leser keine all zu großen Probleme haben, die hier geschilderte Gesellschaftskritik nachvollziehen zu können. Es sind auch, rund 9 Jahre nachdem der Roman in Japan erschienen ist, noch immer aktuelle Themen. Kanae Minato schreckt hier auch nicht zurück, Taten auf wahren Begebenheiten in ihre Geschichte mit einzuweben. Das prominenteste Beispiel sind hier wohl die bizarren Morde von Kobe aus dem  Jahr 1997, wo ein damals 14 jähriger Schüler (in der Öffentlichkeit nur als "Junge A" bekannt) einer Junior High School zwei Grundschüler auf bestialische art und weise ermordet hat. Dieser Fall sorgte in Japan dafür, dass das Jugendstrafrecht im Jahr 2001 von 16 auf 14 gefallen ist und noch einige andere gesellschaftliche Revisionen mit sich führte (einige Jahre später erhielten auch Videospiele in Japan vorgeschriebene, strenge Altersfreigaben, die auch heute noch nicht gelockert sind).

Gerne wird Geständnisse mit "Gone Girl" von "Gillian Flynn" verglichen. So heißt es, Geständnisse sei die japanische Antwort auf Gone Girl. Nicht nur ist Gone Girl aber rund 4 Jahre später erschienen, auch thematisch haben beide Werke, ausgenommen einiger Parallelen rund um die drastischen Beschreibungen einiger Passagen sowie die vielen unerwarteten Wendungen, absolut nichts gemeinsam. Ich fand Gone Girl, zu meiner Überraschung, ziemlich gelungen und kann interessierten Lesern nur raten, beide Werke nicht miteinander zu vergleichen. Viel mehr schlägt Geständnisse eher in eine Kerbe wie Battle Royale. Mag der Vergleich anfangs kurios wirken, so werden die Gemeinsamkeiten im laufe der Geschichte deutlich.

Im Jahr 2010 verfilmte der japanische Regisseur Tetsuya Nakashima, geprägt von seinem Stil, äußerst erfolgreich den Roman von Kanae Minato. Ich muss sogar gestehen, die großartige Eröffnung von Geständnisse erzielt im Film durch die geniale Inszenierung eine sogar noch größere Wirkung. Man kann sagen, Nakashima ist dem Roman relativ treu gefolgt. So treu gefolgt, wie es bei über 100 Minuten Spielzeit möglich ist. Der Roman glänzt jedoch von großartig beschriebenen Charakteren und, ganz besonders, die Entwicklung der Charaktere. Etwas, was in einer Filmadaption meistens, wenn nicht sogar immer, den Kürzeren zieht. Der Roman erscheint in der Gesamtwertung logischer, runder und vollkommener. Dies darf aber in keinster weise die gelungene Adaption von Nakashima abwerten. Ich empfehle jedoch, da man nun endlich die Möglichkeit zur Auswahl hat, das Buch zu lesen bevor man den Film schaut.

Jetzt folgt noch ein kurzer Abschnitt, der mir dann doch sehr am Herzen lag. Die Übersetzung. In meiner Vorschau zu Geständnisse habe ich bereits im Vorfeld kritisiert, die hier vorliegende deutsche Übersetzung von Sabine Lohmann basiert auf einer englischen Übersetzung von Stephen Snyder des Mulholland Verlags. Gründe, wieso man sich hier gegen eine Übersetzung aus dem Japanischen entschieden hat, gibt es viele. Der Hauptgrund werden wohl die zusätzlichen Kosten gewesen sein. Dafür steht jedoch für eine Hardcover-Ausgabe ein attraktiver Preis von 16,99 Euro als Pro-Argument im Raum. Wichtig ist jedoch, ob die deutsche Übersetzung gut lesbar ist. Und genau dies ist hier der Fall. Die Übersetzung liest sich absolut flüssig, die Auswahl der Begriffe ist ebenfalls optimal gewählt. Als Referenz fehlt mir natürlich hier die japanische Ausgabe (die ich an sich nicht beurteilen könnte), aber auch die englische Ausgabe hielt ich noch nie in den Händen (wobei ich mir hier eine Leseprobe hätte zusenden lassen können, was ich aber, ebenfalls bewusst, nicht getan habe, um am Ende nicht voreingenommen zu wirken, wenn ich die deutsche Übersetzung lese). Auch wenn ich, und daran wird sich nichts ändern, immer eine Übersetzung aus der ursprünglichen Sprache vorziehe, an der Übersetzung von Sabine Lohmann gibt es nichts auszusetzen, dementsprechend sehe ich hier aktuell keinen Verlust in der gesamten Qualität der Übersetzung.




Resümee

Geständnisse gehört sicherlich mit zu den einflussreichsten japanischen Romane der vergangenen 10 Jahre. Nun kommen auch endlich deutsche Leser in den Genuss dieses starken Romans einer hierzulande unbekannten, jungen Autorin. Geständnisse war als Film schon bildgewaltig, aber auch die Romanvorlage muss sich hier absolut nicht verstecken. Bitterböse Gesellschaftskritik trifft Mystery-Thriller. Ein frisches, unverbrauchtes Gesamtpaket. Man sollte dieses Buch luftdicht versiegeln, damit uns diese Frische auch noch über Jahre erhalten bleibt, die sonst einmal mehr von der endlos langweiligen Monotonie der Massenware zurückgedrängt wird.

Sonntag, 7. Mai 2017

Tag 7 Review: Shin Godzilla






Japan 2016

Shin Godzilla
Originaltitel: Shin Gojira
Regie: Hideaki Anno, Shinji Higuchi
Drehbuch: Hideaki Anno
Darsteller: Hiroki Hasegawa, Yutaka Takenouchi, Satomi Ishihara, Ren Osugi, Shinya Tsukamoto, Jun Kunimura
Laufzeit: Circa 120 Minuten
Genre: Kaiju, Katastrophenfilm, Satire
Verleih: Splendid
Premiere (Deutschland): 03.05.17 - 05.05.17 (limitiertes Kino-Event)
FSK: Ab 12



Wirft man die Namen einfach lose in die Runde, so scheint es zwischen dem grünen Kult-Monster Godzilla und Evangelion-Schöpfer Hideaki Anno nicht viele Gemeinsamkeiten zu geben (wobei ich nicht ausschließen würde, dass Anno dazu in der Lage ist, einen hochkonzentrierten Energiestrahl abzufeuern). Geht man aber etwas mehr ins Detail, fallen schnell zwei Gemeinsamkeiten auf. Sowohl Godzilla als auch Anno haben in ihren Bereichen Geschichte geschrieben. Das Filmstudio Toho verdiente Millionen mit Godzilla, Anno hingegen revolutionierte mit seiner Anime-Dystopie Neon Genesis Evangelion (Shin Seiki Evangelion) dieses Genre für immer. Während Godzillas erster Auftritt bereits über 60 Jahre zurückliegt, so gehört Evangelion aus dem Jahr 1995 (und noch immer steht ein finaler Kinofilm aus) zur modernen Popkultur. In den vergangenen Jahren ist es jedoch ruhig geworden, sowohl um Godzilla, als aber auch Hideaki Anno. Immer wieder bestätigt Anno, wie sehr ihm die Produktion an neuen Filmen aus dem Evangelion-Universum zusetzen und er mental regelrecht ausgemergelt ist, jedoch häufig Trost und Ruhe von seiner Frau erfährt. Die beiden Giganten schwächelten ein wenig und es liegt eine harte Zeit hinter den beiden Kultfiguren. Zeit für ein Reboot? Ein Reboot für Godzilla und Anno? Gar nicht mal so eine schlechte Idee, wird sich auch Toho gedacht haben.




Toho verkündete es damals selbst, mit Godzilla - Final Wars (Regie: Ryuhei Kitamura) sollte 2004 das riesige Monster in Rente gehen. Danach würde nichts mehr kommen. Mit Legendary Pictures erlangte erstmals seit dem Emmerich-Fiasko aus dem Jahr 1998 ein ausländisches Studio die Godzilla-Lizenz von Toho. Gareth Edwards (Rogue One) kreierte 2014 ein Teil-Reboot, was irgendwo zwischen Fortsetzung des Ur-Godzillas und Neuinterpretation pendelte. Trotz einer Überlänge und einer eher geringen Screentime von Godzilla selbst, wurde der Film von Kritikern und Fans akzeptiert und auch gelobt, an den Kinokassen war er sogar ein großer Erfolg. Dieser Erfolg imponierte Toho so sehr, dass sie es selbst noch einmal wissen wollten und planten mit "Shin Gojira" ein komplettes Reboot des Franchise. Man setzte alle Uhren auf 0 und das einzige, was den Produzenten zu einem erfolgreichen Reboot des Franchise verhelfen würde, war ein Regisseur, der sich nicht nur mit der Materie auskennt, wie man Tokyio filmisch in seine Einzelteile zerlegt, sondern auch das richtige Händchen dafür hat, so eine fiktionale Katastrophe gekonnt in Szene zu setzen. Es war beinahe eine logische Schlussfolgerung, dass die Wahl nur auf Hideaki Anno fallen konnte.

Anno jedoch für das Projekt zu gewinnen war nicht einfach. Seine Fans warten seit Jahren sehnsüchtigst auf den Abschluss der Evangelion Kinofilm-Saga. Ein vierter und letzter Film fehlt noch, genau den wollte Anno fertigstellen, bevor er mit dem Thema abschließen könne. Während Anno selbst skeptisch war, konnten die Produzenten bei Toho jedoch den ein oder anderen Mann aus Annos Team für das Godzilla-Reboot gewinnen. Die Überzeugungskräfte von Annos langjährigen Weggefährten war am Ende aber zu groß, um diesem Projekt eine Absage zu erteilen.

Die Marschrute für Shin Godzilla war schnell klar. Man musste erst einmal dem neuen Titel gerecht werden. Das Wort "Shin" kann in der japanischen Sprache vielseitig genutzt werden. Allen voran steht es für "Neu",  kann aber auch für "Echt" stehen. Je nachdem, mit welchem Kanji man das Wort schreibt, erhält man meistens einen Begriff, der zutreffend für Shin Godzilla ist. Oberste Priorität war es, alles auf Anfang zurückzusetzen und dabei das Original aus dem Jahr 1954 zu ignorieren (obwohl man es mit Fortsetzungen und Chronologie an sich nie wirklich genau genommen hat, der 1954 Film war aber meistens stets der Ausgangspunkt). Die Essenz des Originals durfte aber nicht verloren gehen. Der US-Godzilla aus dem Jahr 2014 hat es vorgemacht, Godzilla ist nicht das nette Monster aus der Nachbarschaft. Godzilla muss in erster Linie ein zerstörungswütiger Gigant sein, der nahezu unverwundbar ist. Doch der Titel "Shin" würde keinen Sinn ergeben, wenn wir es hier mit dem gleichem Godzilla zu tun hätten, der schon so oft Städte den Erdboden gleichgemacht hat. Der "Shin Godzilla" ist anders. Er verfügt über Metamorphosen. Jede einzelne Metamorphose macht das Monster noch mächtiger und praktisch unverwundbar. Dem Monster diesen Twist zu verleihen, das war etwas, wozu praktisch nur Hideaki Anno fähig war. Fans von Neon Genesis Evangelion werden hier unglaublich viele Gemeinsamkeiten mit den Engeln wiederfinden und dein ein oder anderen "Aha-Effekt" erleben.

Doch was geschieht abseits von Godzillas neuen Fähigkeiten? Erst einmal, Godzilla hat relativ viel Screentime in Shin Godzilla. Auch wenn ich nun nicht mit der Stoppuhr im Kino saß, so kommt jeder Fan des Monsters auf seine Kosten. Anno, der auch das Drehbuch geschrieben hat, trennte sich noch von einigen Nebenhandlungen wie einem Familiendrama und einer Liebesgeschichte. In Shin Godzilla gibt es keinen furchtlosen Held oder Wissenschaftler, der sich zum Wohl des Landes opfert, hier ist gleich die ganze japanische Regierung Godzillas neuer Gegner. Politiker und Bürokraten gegen die gigantische Riesenechse. Ein aussichtsloser Kampf? Da will ich nicht zu viel verraten. Doch hier kommen wieder Annos Stärken ins Spiel. Gesellschaftskritik und Satire. Der Film wandelt auf einem schmalen Grad zwischen Katastrophenfilm und Satire. In einer Szene lacht man noch über den Premierminister (übrigens großartig verkörpert von Ren Osugi), in der nächsten Szene passiert wiederum ein großes Unglück. Ein klarer Wink an das 2011 Erdbeben in der Tohoku-Region, welches einen verheerenden Tsunami mit sich führte und zu einer Kernschmelze im Kernkraftwerk von Fukushima führte. Der Film spricht die Katastrophen nicht direkt an, allerdings ist es unschwer zu erkennen, woran sich der Film orientiert.




Anders als noch im Jahr 1954, so hat sich auch die Technik der japanischen Filmkunst wesentlich gesteigert. Man weiß nun besser, geschickter mit CGI umzugehen. Was das für Shin Godzilla bedeutet? In den meisten Szenen können die Computereffekte auf ganzer Linie überzeugen. Hier und da gibt es aber auch mal die ein oder andere Szene, wo die Effekte relativ billig wirken können. Allerdings dürfte das für viele Godzilla-Fans ein Aspekt sein, den man eher als interessant statt negativ bewertet. So ist es wenig überraschend, auch der Shin Godzilla besteht komplett aus CGI, auch wenn man manchmal immer noch das Gefühl hat, hier könnte ein Schauspieler unter einem Latexkostüm stecken. Dieser Look war jedoch so gewollt. Ist Godzilla erst einmal am wüten, so sind dabei einige wundervolle Effekte entstanden, die beweisen, dass das Konzept vollends aufgegangen ist. Untermalt werden diese Szenen oftmals mit dem original Godzilla-Theme von Akira Ifukube. Und was die Evangelion-Fans angeht, bei der Musik könnt ihr erneut eure Finger reiben, denn da wird es noch eine kleine Überraschung geben.

Mit einer Laufzeit von 2 Stunden haftet auch Shin Godzilla eine leichte Überlänge an. Anders als bei der 2014 US-Version schafft Shin Godzilla es aber, den Leerlauf besser zu kompensieren. Und das ohne einen festen Cast an Protagonisten. Bei Shin Godzilla ist es das gesamte Kollektiv, was hier auch außerhalb der actionreichen Szenen noch für Unterhaltung sorgt. Es sei jedoch gesagt, die politische Natur ist dem Film nicht von der Hand zu weisen. Auch sollte man mit dem Thema Japan - Kultur, Politik und Popkultur schon vertraut sein, um besonders die Szenen mit satirischen Hintergründen unbeschwert genießen zu können. Leider lief die Version mit O-Ton nur ein paar Tage später zu einer grausamen Uhrzeit, von daher kann ich hier nur über die deutsche Vertonung reden. Doch hier hat Splendid gute Arbeit geleistet und recht interessante Sprecher gewählt, was immer mehr zu einer Seltenheit bei japanischen Filmen wird. Der Humor kommt durchaus auch in der deutschen Vertonung nicht zu kurz.

Schauspielerisch findet man neben routinierten Darstellern wie Ren Osugi und Jun Kunimura auch eine menge noch recht junger Darsteller, die, auch das ist eine kleine Überraschung, bereits in der Live-Action Verfilmung von Attack on Titan mitgespielt haben. Als zweiter Regisseur war hier ebenfalls noch Shinji Higuchi tätig, der für die ziemlich verunglückte Adaption von Attack on Titan als alleiniger Regisseur verantwortlich war. Auch gibt es noch viele interessante Cameo-Auftritte in Shin Godzilla, insgesamt 6 bekannte japanische Regisseure sind hier zu finden. Für westliche Zuschauer wird wohl die Rolle von Shinya Tsukamoto (Tetsuo) am relevantesten sein.




Resümee

Mit minimalen Schönheitsfehlern steuert Shin Godzilla beinahe die Höchstwertung in meinem Ranking zu. Hideaki Anno liefert hier nach vielen Jahren mal wieder einen relevanten Kinofilm aus Japan ab. Vielleicht sogar einen der relevantesten Filme seit Kinji Fukasakus Filmadaption zu Battle Royale aus dem Jahr 2000. Fans von Godzilla und Anno werden sowieso auf ihre Kosten kommen, aber Shin Godzilla besitzt auch die Fähigkeit, Leute mitzureißen, die mit dem japanischen "Kaiju-Genre" (Monsterfilme) relativ wenig zu tun haben. Die Themen im Film sind aktuell und mit feinem Humor teilweise herrlich überspitzt. Im Kern bleibt aber Shin Godzilla das, was er schon immer war, ohne seinen Charme einbüßen zu müssen. Ein gigantischer Katastrophenfilm, sowohl hinter als auch vor der Kamera exzellent besetzt. Splendid gebührt hier noch der Dank, dass sie den limitierten Release in deutschen und einigen österreichischen Kinos möglich gemacht haben. Hoffen wir mal, dass das Projekt anklang fand. Der Heimkino-Release wird bereits voller Sehnsucht erwartet.