Die vergangenen Monate liefen gesundheitlich aber auch privat nicht gerade reibungslos. Immer wieder probierte ich es mit neuen Artikeln wie Kolumnen, Besprechungen von Büchern und Filmen, kam aber nie auf mehr als ein paar Worte, bevor ich den kompletten Text wieder gelöscht habe. Was immer ich auch geschrieben habe, ich habe ein für alle mal eingesehen, dass sich die Texte wie eine journalistische Schallplatte gelesen haben, die sich immerzu wiederholten. Und ich habe mich damit abgefunden, besonders nach dem turbulenten Jahresauftakt, hier vermutlich nie wieder eine Silbe für "Am Meer ist es wärmer" zu verfassen. Nach über 12 Jahren wäre dies eher ein Ruhestand als eine Kapitulation.
Über den Tod von Kenzaburo Oe (1935-2023) erfuhr ich vor wenigen Tagen durch eine Push-Mitteilung via NHK World. Der große japanische Nachkriegsautor verstarb bereits am 03.03.2023 im hohen Alter von 88 Jahren. Und dabei überkam mich eine ungeheure Trauer, weil ich automatisch auf das umfassende Werk des japanischen Nobelpreisträgers zurückblicken musste. Oe durchlebte als Mensch und Autor so viele Dekaden des Schaffens, so viele regionale aber auch weltliche Perioden, Unruhen und Konflikte. Mit seinen düsteren, teils dystopischen Geschichten traf Oe immer dort, wo es weh tat. Er war einer von vielen großartigen Autoren der japanischen Nachkriegszeit, Oe überlebte sie alle, ob Kawabata oder Mishima (der den Nobelpreis für Literatur immer offen anstrebte), die beide vor so vielen Jahrzehnten den Freitod wählten.
Wenn die Todesmeldung eines Autors mich nach so vielen Monaten wieder selbst zum schreiben anregt, so muss der Autor einen großen Stellenwert bei mir innehaben. Und damit liegt man nicht falsch. Leider haben es nur viel zu wenige Werke von ihm zu uns in den Westen geschafft. Die Vergabe des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1994 half ungemein dazu, mehr Werke des Autors in verschiedene Sprachen zu übersetzen. Aber noch immer bleibt man uns zahlreiche Übersetzungen schuldig, viele übersetzte Bücher werden unlängst nicht mehr gedruckt und noch weniger werden digital als E-Book archiviert. In Japan genießt Kenzaburo Oe, obwohl immer auch mit einer leichten Kontroverse behaftet (besonders seine kritische Einstellung gegenüber der modernen japanischen Literatur, die er häufig für zu verwestlicht gehalten hat), einen hohen Status. Abgesehen davon hat er diesen Status aber auch noch bei allen Menschen, die bewandert mit der Weltliteratur sind. Oe's teils düstere, gesellschaftskritische Werke genießen zu können setzt auch voraus, sich ein wenig mit der japanischen Nachkriegsgeschichte zu befassen. Der Zugang zum Werk von Kenzaburo Oe wird für moderne Generationen schwieriger, je mehr Zeit vergeht. Obwohl die aktuelle Weltlage wieder einmal so unruhig ist, sodass Oe's Werke praktisch dazu verdammt sind, bald wieder an gegenwärtiger Relevanz zu gewinnen.
Ich erinnere mich an eine von Oe's vermutlich bekanntesten Kurzgeschichten im deutschsprachigen Raum: "Der Stolz der Toten". Ein Frühwerk des Autors aus dem Jahr 1958, welches von zwei Studenten handelt, die einen Nebenjob in der Pathologie ausführen. 2011 verfasste Ich eine Besprechung hier auf "Am Meer ist es wärmer". Die Geschichte selbst hatte ich jedoch einige Jahre zuvor während des vielen Leerlaufs bei meinem Zivildienst gelesen. Obwohl so viele Jahre verstrichen sind, ist diese überschaubar kurze Geschichte bei mir gedanklich haften geblieben.
Vor einigen Tagen fand ich dann doch noch zwei englische E-Books zum Werke Kenzaburo Oe's. Einer seiner wohl bekanntesten Romane "The Silent Cry" sowie eine Sammlung bestehend aus zwei Novellen "Seventeen & J". Insgesamt 3 Geschichten also, die ich bei etwas angenehmeren Temperaturen in aller Ruhe angehen werde.
Mit Kenzaburo Oe hat ein brillanter Autor die Bühne des Lebens verlassen. Anders als viele andere Autoren aus Oe's Generation, widersetzte er sich den Widrigkeiten des Lebens, des japanischen Wandels sowie sämtlichen Trends. Er hinterlässt ein umfangreiches Werk, welches auch in der heutigen Zeit noch wert ist, gelesen zu werden. Vielleicht in der heutigen Zeit umso mehr als noch vor einigen Jahren. Seine Verdienste gegenüber der japanischen Literatur sowie den heutigen hohen Stellenwert, den die zeitgenössische japanische Literatur weltweit genießt, geht zu einem Großteil auch auf das Schaffen von Kenzaburo Oe zurück. Ein Autor, auf den ich immer wieder mit großer Freude zurückblicken werde.