Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Montag, 22. April 2024

Buchvorstellung: Die rätselhaften Honjin-Morde in der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg

 





Japan 1946

Die rätselhaften Honjin-Morde
Autor: Seishi Yokomizo
Übersetzerin: Ursula Gräfe
Illustratorin: Ann-Kathrin Peuthen
Verlag: Aufbau Verlag
Sonderausgabe: Büchergilde Gutenberg
Format: Hardcover
Genre: Krimi, Mystery



Der Name Seishi Yokomizo ist unverkennbar mit der japanischen Nachkriegsliteratur verknüpft. Insofern ist es, auch wenn es stilistische Gemeinsamkeiten gibt, völlig falsch Yokomizo als japanische Antwort auf Agatha Christie zu nennen. Man tut es trotzdem, weil man natürlich somit einen für uns eher unbekannten Autor besser vermarkten kann. Die Werke von Yokomizo sind natürlich stark geprägt durch westliche Kriminalliteratur, doch auf der anderen Seite haftet ihnen auch der einprägsame Stil der japanischen Literatur an. Seishi Yokomizos Texte haben neben dem prominenten fiktiven Kriminalfall häufig auch sozialkritische Untertöne, wie man sie besonders von der frühen Nachkriegszeit her kennt.

Dass das umfangreiche Werk des Autors nun auch für westliche Leser zugänglich ist liegt an geschicktem Marketing und der allgemeinen Popularität von Kriminalromanen. In den USA veröffentlicht der Verlag Pushkin Press schon seit ein paar Jahren das Werk von Yokomizo, allen voran die bekannte Kosuke Kindaichi Reihe, jener Ermittler, der auch bei den rätselhaften Honjin-Morden im Fokus steht. Doch sind es auch die japanischen Rechteinhaber an Yokomizos Werk, die sich dem westlichen Markt geöffnet haben und die Romane von ausländischen Verlagen lizensieren lassen.

Ein Trend, den auch der Aufbau Verlag aus Deutschland erkannt hat. Da fernöstliche Literatur für den Verlag kein fremdes Territorium ist, hat man sich die Rechte für deutschsprachige Veröffentlichungen gesichert (die Hardcover-Ausgaben werden unter dem "Blumenbar" Label veröffentlicht). Übersetzt wird nicht aus der vorhandenen englischen Sprache sondern direkt aus dem Japanischen. Für die deutschsprachige Übersetzung hat man dafür ins Regal nach ganz oben gegriffen und mit dieser Aufgabe die Japanlogin Ursula Gräfe betraut, die hier keiner weiteren Erwähnung bedarf, da ich ihre Übersetzungen seit Anbeginn dieses Blogs in den höchsten Tönen lobe.

Zufällig bin ich kürzlich auf eine besondere Ausgabe der Honjin-Morde bei dem Bücherklub "Büchergilde Gutenberg" gestoßen und möchte diese Ausgabe, die rein textlich inhaltsgleich mit der Ausgabe vom Aufbau Verlag ist, gerne etwas hervorheben.

Einer der ältesten Bücherklubs in Deutschland veröffentlicht nationale und internationale Titel in kleinen Auflagen. Oftmals sind auch illustrierte Ausgaben dabei, wie bei den rätselhaften Honjin-Morden. Die Ausgabe kommt als robust gebundenes Hardcover daher und unterscheidet sich optisch vollständig von den erhältlichen deutschen und englischen Ausgaben (die beide das gleiche Cover-Artwork benutzen). Zusätzlich zum neuen Cover-Artwork und eigenständiger Bindung befinden sich im Buch noch aufwendige Illustrationen der Illustratorin Ann-Kathrin Peuthen mit einem Stil, der sich an alte japanische Holzschnitte orientiert und kunstvoll in Schwarzweiß präsentiert wird. Die teils abstrakten Illustrationen erinnern beinahe schon an Graphic Novels.

Es ist unklar, ob die Büchergilde auch noch die kommenden Romane des Autors in einer illustrierten Klubausgabe veröffentlichen wird, aber die hier erhältliche Klubausgabe ist für alle Fans der bibliophilen Kunst sicherlich einen Blick wert.









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*Hierbei handelt es sich nicht um eine gesponserte Empfehlung. "Am Meer ist es wärmer" hat keine Leseexemplare vom Aufbau Verlag oder der Büchergilde Gutenberg angefragt. Die hinterlegten Links sind keine Affiliate-Links. Mein Ziel mit solchen Beiträgen ist es, uneigennützig auf schöne Buchausgaben besonderer Titel aufmerksam zu machen : )

Dienstag, 9. April 2024

Rezension: Die Flucht (Fuminori Nakamura)

 





Japan

Die Flucht
Originaltitel: Tobousha
Autor: Fuminori Nakamura
Übersetzerin: Luise Steggewentz
Format: Hardcover, E-Book
Genre: Noir-Thriller, Mystery, Drama



"In der Stille überkommt mich das Gefühl, selbst nur ein Bett, Regal oder Stuhl in diesem Zimmer zu sein. Ein vergessenes Möbelstück, das die Welt nicht mehr braucht. So eine Geschichte hatte ich mir früher einmal ausgedacht. Eine Geschichte über einsame Männer in einem Hotel im Ausland, die sich einer nach dem anderen in Teile der Einrichtung verwandeln. Am Ende entschließt sich der Hotelbesitzer seufzend, einen Entrümpler kommen zu lassen."


Selten nutze ich Zitate von der Anfangsseite eines Buchs. Aber wenn ein Buch mit so einer wundervollen Metapher beginnt, welche Wahl habe ich da schon? Mit dieser melancholischen Fest- und Vorstellung des Hauptcharakters Kenji Yamamine beginnt eine Geschichte, die ich als Leser und Fan der japanischen Literatur so schnell nicht wieder vergessen werde. Aus zeitlichen Gründen, aber auch weil ich "Die Flucht" erstmal sacken lassen musste, hat sich meine Besprechung ein wenig verschoben. Ich musste meine Gedanken noch etwas ordnen. 
Ich habe ende des vergangenen Jahres erstmals von der Lizensierung zu "Die Flucht" erfahren (im Original Tobousha oder auch Tōbōsha, was man unter anderem als "Ausreißer" und "Verdächtiger" übersetzen kann, aber auch der deutsche Titel eine sehr treffsichere Übersetzung des japanischen Begriffs ist). Der Roman ist 2020 in Japan erschienen und damit auch einer der aktuellsten Romane des japanischen Autors Fuminori Nakamura. In der deutschen Übersetzung sind bereits "Der Dieb", "Die Maske" sowie "Der Revolver" erschienen. Allesamt Buchtitel, die so kurzbündig und auf den Punkt gebracht sind wie Nakamuras furiose Geschichten. Mit "Die Flucht" ist ein erneut kurzer Buchtitel erschienen, der Inhalt aber diesmal verteilt auf fast 600 Seiten. Für einen japanischen Roman ist das schon Marcel Proust Niveau. Ich wusste vorab nicht wirklich, worauf ich mich hier einlasse. Das Buchcover bildet einzig und allein eine Trompete ab. Doch liest man sich auch nur die ersten zwei Seiten des Buches durch, so weiß man, diese Trompete ist der Dreh- und Angelpunkt dieser verstrickten Geschichte.

"Die Flucht" startet mit einem Heimvorteil für deutsche Leser (man beachte später auch die wundervollen Beschreibungen des Kölner Doms). In einer heruntergekommenen Wohnung in Köln versteckt sich der Reporter Kenji Yamamine. Während er über einsame Männer nachdenkt, die sich in Möbelstücke verwandeln die keiner mehr haben möchte, raschelt es am Türschloss. Es treibt Kenji den Schweiß auf die Stirn. Wer könnte es nur sein? Haben sie ihn entdeckt? Wird hier sein Leben enden? Ein unbekannter Mann der in englischer Sprache redet hat das Schloss aufgebrochen. Ein Mann von einer beachtlichen Größe. Ein Mann, der zwar keine wehrlosen Hunde tötet, aber dafür Menschen, die nicht kooperieren wollen, viele Schmerzen zufügen kann. Der Ausländer nimmt auf dem Sofa Platz, nichtsahnend, dass sich darunter das Objekt der Begierde befindet. Nach einem längeren Vortrag verlangt er von Kenji, die Trompete rauszurücken. Ein legendäres Instrument welches von einem nicht minder legendären japanischen Komponisten im zweiten Weltkrieg dazu genutzt wurde, die japanischen Truppen zum Sieg eines bedeutenden Manövers zu führen. Kenji sitzt in der Klemme. Es scheint kein Entkommen vor seinem Widersacher zu geben. Doch hier kann die Geschichte nicht enden, noch nicht. Kenji greift zu einer Beretta aus der Schublade, die der Vormieter dort zurückgelassen hat. Kenji ist sich nicht sicher, ob die Waffe echt ist oder nur eine Attrappe. Er zielt auf den unheimlichen Mann.

Was ich hier nun beschrieben habe umfasst gerade mal den Auftakt des Buches. Die Seiten, wie gewohnt bei Nakamura, scheinen sich ganz von selbst umzublättern. Was hier ein wenig wie eine Neuinterpretation um die Geschichte des Teufelsgeigers Niccolò Paganini klingt, ist in Wahrheit etwas ganz anderes. In dem umfangreichen Roman mag die Trompete zwar das mysteriöse Objekt der Begierde sein, dem nachgesagt wird, es könne Menschen verzaubern und die Moral von Soldaten erhöhen, ist nur ein Teil von vielen Schichten einer großen, verzierten Torte, die uns Fuminori Nakamura hier auftischt. Der Plot nimmt noch viele weitere Formen an, viele zeitgenössische Themen wie die Flüchtlingskrise aber auch der christliche Glaube in Japan (der aktuell ja auch in dem TV-Event Shōgun wieder prominente Bedeutung findet) werden hier ausführlich behandelt. Merklich und dennoch subtil baut Nakamura den Glaube in seine Geschichte mit ein. Allen voran geht es in "Die Flucht" aber auch noch um die Beziehung zwischen Kenji und Anh, die er auf den Philippinen kennenlernt und sich in sie verliebt.

"Die Flucht" ist Literatur, wie sie nur aus Japan stammen kann. Wer bei dem Roman einen aalglatten Thriller erwartet, ist hier falsch bzw. wird merken, falsch abgebogen zu sein. Denn wie üblich bei der japanischen Literatur, ganz besonders aber bei Nakamura, ist dieses Buch allen voran eine Charakterstudie. Ein "Psychologischer-Thriller", wenn ich nun einen Begriff nennen müsste. Die Trompete des Komponisten Suzuki ist natürlich der berüchtigte MacGuffin, um die Geschichte voranzutreiben. Im Fokus stehen hier aber eine menge andere Handlungsstränge und Figuren, die allesamt wichtige Rollen ausfüllen. Wer hier westliche Krimis und Thriller verwöhnt ist, der könnte in Fuminori Nakamuras verstrickten Charakter- und Handlungszweigen schnell mal den roten Faden aus den Augen verlieren. Nakamura ist kein Autor, den man sich, um von einem anstrengenden Tag abzuschalten, zu Gemüte führt. "Die Flucht" ist ein blutiges, schweißtreibendes Abenteuer, dem man seine gesamte Aufmerksamkeit auch widmen muss.


"Ich wache auf. Ich habe das Gefühl, geträumt zu haben, kann mich aber nicht an den Traum erinnern. Im Fernseher meines Hotelzimmers, den ich vergessen habe auszustellen, laufen schwarz-weiße Videoaufnahmen. Sie zeigen ein Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Ich verstehe nicht, was auf Deutsch erzählt wird, aber es wird ein Bild von Chiune Sugihara eingeblendet. Sugihara, der ehemalige japanische Vizekonsul in Kaunas in Litauen, widersetzte sich dem Außenministerium und stellte für Juden, die aus Polen geflüchtet waren, Visa aus, womit er vielen das Leben rettete." 


Sehr angetan war ich ebenfalls von der feinfühligen Übersetzung von Luise Steggewentz, ein Name, der mir noch gut durch die ebenso gelungene Übersetzung von Durian Sukegawas "Die Insel der Freundschaft" in Erinnerung geblieben ist. Einen Roman von diesem Kaliber zu übersetzen muss eine unglaubliche Herausforderung gewesen sein, von der ich gerne mehr erfahren möchte.




Abschließende Gedanken

Nicht ist wie es scheint bei Fuminori Nakamura. Wer hier einen linearen Thriller erwartet, wird schon sehr schnell auf hartem Granit landen. "Die Flucht" ist ein spannender, zugleich aber auch unglaublich komplexer Roman, der über mehrere Ebenen verläuft. Nakamura nimmt sich sehr viel zeit für seine Charaktere und deren Beziehungen zueinander. Auch widmet er sich kritischen, zeitgenössischen Themen. Für zartbesaitete ist aber auch dieser Roman nicht geeignet. Wie Martin Scorsese es in seinen Filmen tut, macht es Fuminori Nakamura in seinen Büchern. Wenn er den Stift in blutrote Tinte taucht, dann kommt es unerwartet, aus heiterem Himmel, aber es wirkt nachhallend. Gewalt als Stilmittel um die Geschichte voranzutreiben ist eine Kunst, die ein Autor erst einmal beherrschen muss. Aber Nakamura weiß genau, was er tut. Das gleiche gilt auch für herrliche, kurze Einlagen von einem feinen, trockenen Humor, der mindestens genau so überraschend platziert ist wie so einige blutrünstige Szenen im Buch.

"Die Flucht" ist für mich bereits jetzt in diesem noch jungen Jahr ein literarisches Highlight. Ein Buch, welches ich nicht uneingeschränkt empfehlen kann, da es zu vielschichtig ist, um es Freunden von speziellen Genres nahelegen zu können. Ich würde mir jedoch wünschen, wenn interessierte Leser diesem großartigen Roman eine Chance geben würden. Sowohl die Geschichte als aber auch die fabelhafte Übersetzung hätten es verdient. Fuminori Nakamura liefert mal wieder großartiges literarisches Kino ab. Man sollte sich ins Buch stürzen, ohne den Klappentext zu lesen!




Rezension verfasst von Aufziehvogel