Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Dienstag, 21. September 2021

Rezension: Heaven (Mieko Kawakami)

 

Foto: Aufziehvogel




Japan 2009
(Deutschland 2021)


Heaven
Originaltitel: Hevun
Autorin: Mieko Kawakami
Erscheinungsdatum und Verlag: 17.09.2021 bei DuMont
Übersetzung: Katja Busson
Format: Gebunden, E-Book
Genre: Jugenddrama




>>Ich... wie soll ich sagen... ich bin aus Angst eigentlich immer in Alarm. Zu Hause, in der Schule. Aber manchmal gibt es auch gute Momente, jetzt zum Beispiel, wenn ich mich mit dir unterhalte oder wenn ich dir schreibe. Das sind gute Momente. Momente, in denen ich mich sehr sicher fühle. Momente, die mich glücklich machen. Aber weder diese Glücksmomente noch der Alarm, in dem ich mich zumeist befinde, ist der Normalzustand, sie sind die Ausnahme... will ich wenigstens glauben... Mein Leben soll doch nicht nur aus Alarm und ab und zu ein bisschen Glück bestehen. Meine Norm soll weder Glück noch Alarm sein, sondern der Zustand dazwischen"<<, sagte sie und presste die Lippen aufeinander.

Durch den weltweiten Erfolg von "Brüste und Eier" sind auch internationale Verlage auf das Portfolio der japanischen Autorin Mieko Kawakami (nicht verwandt und zu verwechseln mit der ebenfalls bekannten Autorin Hiromi Kawakami) aufmerksam geworden. Setzt sich "Brüste und Eier" auf eine sehr unterhaltsame und tiefgründige Art mit dem Körper der Frau auseinander, so ist ihr bereits 2009 in Japan veröffentlichter Roman "Heaven" ein knallhartes Jugenddrama. Und wenn ich hier von "Knallhart" schreibe, dann ist der Begriff teilweise noch zurückhaltend, schmeichelnd. Die Geschichte fühlt sich an wie eine volle Breitseite in die Nieren, genau da, wo es weht tut. Wo es empfindlich ist. Wo wir auch einige Tage später noch etwas spüren. In diesem Drama um zwei Teenager-Außenseiter erzählt Mieko Kawakami nicht nur eine Geschichte über Mobbing, sondern auch um die allgemeinen Sorgen japanischer Teenager, die sich auch in der heutigen Zeit oftmals noch verloren fühlen und ihren Platz in der Gesellschaft suchen. Doch trotz der teils drastischen Schilderungen wird beim lesen relativ schnell deutlich, am Ende geht es nicht um kulturelle Probleme, sondern das Problem rund um Mobbing und soziale Ausgrenzung wird hier von der Autorin so gekonnt an dem Schopf gepackt, dass diese kulturellen Grenzen verschwinden und wir uns alle vielleicht schon einmal in einer ähnlichen Situation befanden wie die beiden Hauptcharaktere.

Heaven spielt im Japan der 90er. Die Wirtschaftsblase der 80er ist geplatzt und die Nachwirkungen sind immer noch zu spüren. Die Gesellschaft ist pessimistisch ein- und aufgestellt, jeder ist sich selbst am nächsten, lebt sein Leben für sich und achtet nicht auf sein unmittelbares Umfeld. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht eines namenlosen vierzehnjährigen Ich-Erzählers, der über seinen Alltag bzw. alltäglichen Horror berichtet, den er immer wieder aufs neue, immer in krasseren Dimensionen, erlebt. Aufgrund einer Fehlstellung der Augen (er schielt) ist der Erzähler das perfekte Opfer für die Schikanen seiner Mitschüler. Die Demütigungen und Erniedrigungen der Mitschüler scheinen wahllos ohne Sinn und Verstand zu sein, aber immer wieder mit dem Ziel, noch extremer zu werden. Im Vordergrund stehen hier die gutaussehenden, allseits beliebten Klassenkameraden Ninomiya und Momose. Eines Tages entdeckt unser Erzähler unter seinem Tisch an ihn adressierte Briefe. Positive, aufmunternde und optimistische Worte stecken in diesen Briefen. Unser Erzähler rechnet hier fest mit einer neuen Gemeinheit seiner Klassenkameraden. Wortlos nimmt er die Briefe entgegen und liest sie immer wieder. Eines Tages möchte sich die geheimnisvolle Person mit ihm treffen. Die Skepsis ist groß, die Neugier ist größer und dies ist der Moment wo unser Erzähler seine ebenfalls gehänselte Mitschülerin Kojima erstmals besser kennenlernt. Gemeinsam wollen sie das beste aus ihrer Situation machen.

>>Mögt ihr keine Tiere?<<, fragte Kojima mit großen Augen. Ihre Brauen zuckten, als wären sie lebendig.
>>Was heißt >nicht mögen<. Ich, für meinen Teil, hatte noch nie mit einem zu tun, habe also eher keinen Bezug dazu.<<
>>Ach so... na dann<<, sagte sie
>>Ich wäre aber nicht abgeneigt, glaube ich. Es ist bestimmt ein Unterschied, ob man mit einem Tier zusammenwohnt, das nicht spricht, oder einem Menschen<<, sagte ich.
>>Wie meinst du das?<<
>>Naja ich stelle mir vor, dass es sehr viel stiller ist<<, sagte ich.
>>Soll heißen, dass Menschen laut sind, selbst wenn sie nichts sagen?<<
>>Ich weiß nicht. Menschen denken ständig. Da sind Tiere doch stiller, oder?<<

Mieko Kawakami versetzt sich hier herausragend in die Rolle eines männlichen Erzählers. Dabei blitzt aber immer wieder auch die Feinfühligkeit auf, die nur eine Frau zu beschreiben vermag. Sowohl der Erzähler als auch Kojima habe ich schnell lieb gewonnen, die Autorin hat beide Charaktere mit einzigartigen Sichtweisen und Emotionen ausgestattet. Man möchte nicht, dass auch nur einer dieser beiden Charaktere weiter sinnlos schikaniert wird. Doch spätestens gegen Ende des Romans, als der Erzähler erstmals den Mut aufbringt sich einem seiner Peiniger in einem Gespräch zu stellen, da wissen auch wir Leser bescheid, so einfach tickt diese Welt nicht. So einfach ist die Gesellschaft nicht gestrickt. In diesem Gespräch wird dem Erzähler die Ungerechtigkeit, aber auch die Aussichtslosigkeit seiner Lage, schnell bewusst. Ob die Taten seiner Mitschüler Sinn ergeben oder nicht, es spielt keine Rolle. Nur weil wir Leser mit den Figuren im Roman sympathisieren, heißt dies nicht, dass ihnen auch ein guter Ausgang für ihre Geschichte vergönnt ist.

Und trotz dieser sehr pessimistischen Ausgangsposition, konnte ich die Seiten kaum schnell genug umblättern. Teilweise waren die extremen Schilderungen der Schikanen gegen die beiden Hauptcharaktere, besonders gegen den Erzähler, schwer zu verdauende Kost. Die Autorin hält sich nicht mit detailreichen Einzelheiten zurück und nimmt auch, ganz bewusst, keine Rücksicht. Für einige mag Mieko Kawakami hier vielleicht eine Grenze überschreiten. Doch würde Heaven ohne diese drastischen, detailreichen Schilderungen nicht funktionieren. Der Roman läuft nach einem bestimmten Muster ab. Es ist eine Tour de Force, doch den Lesern werden auch Verschnaufpausen gegönnt. Und dies sind die Momente, diese Momente der Ruhe und Harmonie zwischen den beiden Charakteren, die diese Geschichte auch ihre Seele verleihen. So erfährt man überraschend schnell, was es mit dem Wort "Heaven" auf sich hat und trotzdem irgendwie mysteriös bleibt und gleich auf mehreren Ebenen einen Bedeutung hat. In diesen wundervoll tiefgründigen Gesprächen zwischen dem Erzähler und Kojima kommt die Erzählkunst von Mieko Kawakami vollends zur Geltung. Die Parallelen zum Schreibstil von Haruki Murakami, der Autor, der so eine Inspiration für ihr Werk war und den sie gleichmäßig stark kritisiert, sind unverkennbar.


>>Sie fürchten sich, weißt du... vor deinem Auge<<, sagte sie, die Stimme leise, aber klar und fest. >>Sie sagen zwar, dass sie es >eklig< finden, aber das stimmt nicht. Sie haben Angst, einfach nur Angst. Nicht vor deinem Auge, sondern vor dem Unbekannten. In der Gruppe fühlen sie sich stark, alleine sind sie nichts, sind sie schwach, eine Bande von Schwächlingen, die sich vor allem fürchtet, das anders ist, und die deshalb versucht, es zu zerschlagen. Es auszutreiben. Sie geben sich stark, aber in Wirklichkeit haben sie Angst.<<



Abschließende Worte

Heaven hat zwei Seiten an sich. Eine hässliche Seite, die nicht davor zurückschreckt, in die tiefsten Details zu gehen, wie man zwei Menschen quälen kann. Doch Heaven besitzt auch eine wunderschöne Seite, eine Seite, die Trost spendet und die Schönheit des Lebens zelebriert. Es ist ein sehr dünner Faden, der diese beiden Seiten zusammenhält. Am Ende wird er reißen, doch die Leser müssen für sich entscheiden, auf welcher Seite dieser lose Faden hängenbleibt. Diese beiden Seiten spielt die Japanerin großartig aus und verleiht einer so simplen Geschichte damit enorm viel Tiefgang. Mieko Kawakami ist hier ein wachrüttelnder Roman gelungen, der sicherlich nicht leicht zu konsumieren ist, aber genau dies auch die Intention war. Durch diese packenden Schilderungen besteht nie auch nur die geringste Gefahr, beim lesen dieser Grausamkeiten abzustumpfen und alles einfach nur noch gelangweilt zur Kenntnis zu nehmen. Heaven's Only Wishful, oder etwa doch nicht? Die Antwort darauf wird man vielleicht finden, wenn man die beiden Charaktere bis zum Ende ihres Weges dieser Geschichte begleitet.