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Donnerstag, 14. September 2023

Rezension: Wechselbalg (Clarissa Bühler)

 


Großbritannien 2023

Wechselbalg
Autorin: Clarissa Bühler
Verlag: Selbstverlag
Genre: Roman
Format: E-Book



Vor über 12 Jahren habe ich meinen Blog gegründet, um hauptsächlich japanische Schriftsteller eine virtuelle Bühne zu geben. Eine Nische in einer Nische, die mein Blog, ganz besonders damals, war. Doch im Laufe der der Jahre habe ich auch die junge deutschsprachige Literatur für mich entdeckt. Spannende Autoren und Autorinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Verschiedenste Genre wurden abgedeckt, ich habe die unterschiedlichsten Facetten dieser jungen Literatur kennengelernt. Schaut man sich auf "Am Meer ist es wärmer" also etwas im Archiv um, wird man so manche spannende Titel finden, die ich in den vergangenen Jahren besprochen habe. In dieses Archiv gesellt sich nun eine weitere junge Autorin die zwar aus Deutschland stammt, aber bereits seit einigen Jahren auf einer nicht so weit entfernten Insel lebt (Luftlinie von meiner kleinen Privatinsel hier zum Vereinigten Königreich ist aber doch noch etwas zu weit zum hinschwimmen). Ich hatte bereits kleineren Kontakt zu ein paar der hier auf dem Blog besprochenen Autoren, aber bei Clarissa Bühler hatte ich das große Vergnügen, sie als Mensch und Schriftstellerin besser kennenlernen zu dürfen (hier folgt in einigen Tagen noch ein kleines Autorenprofil). Dies hat meine Erfahrung unglaublich bereichert, noch tiefer in ihr Debütwerk eintauchen zu können.

Dabei wusste ich zu Beginn absolut noch gar nicht, worauf ich mich hier genau einlassen würde. Ich sage es frei heraus, unter dem Titel "Wechselbalg" habe ich keinen bodenständigen Roman mit Coming of Age Elementen erwartet, der sehr ernste Themen anspricht. Stattdessen habe ich eher seichte Young Adult Fantasy-Kost erwartet. Doch schon nach der Leseprobe wurde ich eines besseren belehrt. Wechselbalg könnte gar nicht weiter entfernt von einer Fantasy-Welt sein. Was die Autorin stattdessen hier in ihrem Debütwerk abgeliefert hat, ist eine überraschend komplexe Charakterstudie über 3 völlig verschiedene Menschen. Allen voran stehen hier im Mittelpunkt die beiden sehr ungleichen Brüder Maurice und Jerome (im Buch aber nennen die Brüder sich untereinander Mo und Joe, was es besonders einfach gemacht hat, sich die Namen zu merken), Söhne des Vaters eines Verlagsimperiums, der sich weniger um seine Kinder sorgt als viel mehr darum, die Familiendynastie aufrecht zu erhalten. Während der jüngere Bruder Joe eher das Abfallprodukt des Patriarchen ist, lebt sein älterer Bruder Mo praktisch nach dem Drehbuch seines Vaters. Sein Werdegang ist unlängst vorherbestimmt, in absehbarer Zeit soll er das Familiengeschäft übernehmen, ohne Widerrede. Als die Brüder von einem schweren Verlust informiert werden als ihr Onkel bei einem Autounfall stirbt, die vermutlich wichtigste Person im Leben der beiden jungen Männer, geraten einige Dinge ins Rollen, die vielleicht vom Drehbuch des mächtigen Vaters abweichen könnten. Parallel zu der Geschichte der beiden Brüder kommt aber noch eine dritte Person ins Spiel: Marie. Marie ist schüchtern, besitzt kein nennenswertes Selbstbewusstsein und möchte sich dennoch von ihrem kleinen Provinzdorf in die große Stadt aufmachen, nach Freiburg. Marie kommt aus nicht minder komplizierten Familienverhältnissen. Die Eltern, streng gläubig und konservativ, sehen die Zukunft ihrer Tochter auf dem Hof, dort, wo die Familie halt schon seit Generationen lebt. Auch ihr Schicksal scheint vorherbestimmt, sieht sie sich doch aber zu einem anderen Leben bestimmt. Marie möchte aus ihrem Gefängnis ausbrechen und ihren Eltern das Gegenteil beweisen. Noch ist ihr nicht bewusst, dass das Abenteuer Großstadt noch eng mit dem Schicksal weiterer Menschen verknüpft sein wird.


"Vier Tage später ließ Mo seinen Kopf gegen die weiche Lehne des Erste.Klasse-Sitzes sinken. Durch das Fenster blickte er auf die dunkle, verregnete Startbahn des Hamburger Flughafens. Als die Maschine langsam zu rollen begann, schloss er die Augen. Er hatte gehofft, der räumliche Abstand würde ihm etwas Ruhe und Entspannung verschaffen, aber die Wolke dunkler Sorgen hatte sich als dumpfer Schmerz in seinem Kopf festgesetzt. Der Ärger mit Joe - seine Nutzlosigkeit und völliger Mangel an Ehrgeiz, an Produktivität - die Auseinandersetzung mit seinem Vater - der in seiner Dummheit die Bereicherung nicht sah, die Mo durch ein Philosophie-Studium in den Verlag bringen würde - Er wollte ihn, Mo, nur zu einer jüngeren Ausgabe von sich selbst machen. Von dem Ideal, das er selbst nie hatte erreichen können."

Das beeindruckende an Wechselbalg ist der leichte Einstieg in die Geschichte. Der Schreibstil der Autorin ist für ein Debütwerk unglaublich souverän, liest sich enorm flüssig und flott. Durch die verschiedenen Point of View Kapitel kommt ein angenehmes Pacing in die Geschichte, das wenig Raum für unangenehme Prolog-Längen lässt. Man lernt die Charaktere auf eine ganz natürliche Art kennen, besonders hervorzuheben hier ist, dass alle 3 Charaktere im Buch grundverschieden sind. Angefangen bei Mo mit seiner professionellen, kühlen Art hin zu dem aufmüpfigen, rebellischen Bruder Joe mit seiner vulgären, von oben herabblickenden Art (die ich teilweise als überraschend derb und krass empfunden habe). Doch auch Maries Entwicklung in dem Buch ist höchst spannend zu beobachten, da sie zu Beginn noch nicht mehr als ein schüchternes Mauerblümchen vom Lande ist. Die große Frage, die ich mir hier recht lange gestellt habe, war die, wann die verschiedenen Erzählstränge ineinandergreifen würden. Ob sie überhaupt ineinandergreifen werden. Ich habe mich hier ein wenig an 1Q84 von Haruki Murakami zurückerinnert, wo der Leser bis auf die letzten Seiten dieses massiven Werkes qualvoll warten mussten, bis sich die Wege von Tengo und Aomame erstmals kreuzen würden. Nun, wenn ich hier nun zu viel schreiben würde, würde ich zu sehr ins Spoiler-Territorium eindringen, aber die Erzählstränge in Wechselbalg finden noch zueinander. Vielleicht nicht so, wie man es sich denken mag, aber bereits früh im Buch bekommt man einen Hinweis darauf, dass das Schicksal der handelnden Charaktere miteinander verknüpft ist.

Was ich als besonders interessant und mutig empfand ist der experimentelle Schreibstil der Autorin. Nicht nur haben wir es hier mit verschiedenen Erzählern zu tun, auch greift Joe mit einigen sehr frechen Bemerkungen gerne mal in ein aktuelles Kapitel ein. Da ich hier schon das Wort "Experimentell" benutze, bedeutet dies auch, dass das mal mehr und mal weniger gut klappt. Manchmal sorgt der Twist für Überraschungen, manchmal wird aber auch der Lesefluss dadurch ein wenig gehemmt und man fühlt sich als Leser etwas aus dem Tunnel gerissen. Doch je weiter man im Buch kommt, desto mehr gewöhnt man sich an die verschiedenen Stilmittel der Autorin.

Die Kapitel in Wechselbalg haben immer die perfekte Länge, was das Buch trotz seiner beachtlichen Länge von weit über 400 Seiten deutlich kurzweiliger macht, als es die Seitenzahl vermuten lässt. Garniert werden die Übergänge zu neuen Kapitel wie in einer japanischen Light Novel immer wieder mit einer Illustration, die eng mit der Thematik in dem Buch verknüpft ist.

Manchmal gibt es wenige Phasen, wo sich die Autorin aber auch klassischen Debütfehlern hingeben muss. Das fängt bei kleineren Logiklöchern wie Maries Herkunft an, als Joe erzählt, sie komme aus einem winzigen Dorf in NRW, Marie sich mit ihren Eltern allerdings in einem bayrischen Dialekt unterhält. Auch ist Joe gerne mal über Dinge im Bilde bei Marie, wo ich mich frage, woher er das wissen könnte. Bei einem Werk dieser Größenordnung sehe ich das nicht ein all zu großes Problem. Das Ende des Buches lässt auf eine Fortsetzung schließen und ich habe so viel Vertrauen zur Autorin, zu wissen, dass sie diese kleinen Stolpersteine bei einer Fortsetzung beheben würde. Für ein Debütwerk mit dieser Seitenanzahl überwiegt die Souveränität und es steckt eine menge Recherche im Buch.


"Es war ein bemitleidenswertes Beispiel von Sozialisation: Die anderen Studenten, aufgewachsen in Familien mit einem bildungsnäheren Hintergrund, hatten Zeit ihres Lebens die Worte aufgesogen, mit denen Marie nun so zu kämpfen hatte. Ihnen war diese Sprache geläufig, und selbst wenn sie nicht jedes Fachwort kannten, so waren sie doch in der Lage, sich den Sinn der Sätze zu erschließen. Sie waren strukturiertes, analysierendes Denken gewohnt, das Zusammenhänge erschloss und Vergleiche anstellte. Marie hingegen ... nun, sie hatte gelernt, einen mehrköpfigen Haushalt aus dem Dorf zu führen und Windeln zu wechseln."




Abschließende Gedanken


Clarissa Bühler liefert mit Wechselbalg einen beachtlichen Debütroman ab. Das Buch scheut sich nicht davor, ernste Themen anzugehen und besonders die Direktheit der Dialoge hat mich freudig überrascht. Die Kapitel sind kurzweilig aufgebaut und trotzdem geben sie den Charakteren genug Zeit, sich zu entwickeln. Für eine etwaige Fortsetzung würde ich mir in der Seitenanzahl etwas mehr Kompaktheit wünschen und vielleicht ein paar weniger experimentelle Handlungsstränge, ohne aber die freche, direkte Art aus dem Erstling über Board zu werfen. 
Was die Autorin aber hier abgeliefert hat ist ein Werk, worin viel Arbeit geflossen ist und als Leser habe ich das auch auf jeder Seiten förmlich aufsaugen können. Ich werde den Weg von Clarissa Bühler aufmerksam verfolgen und bin bereits sehr gespannt, was es als nächstes von ihr zu lesen geben wird.
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Vertriebsform: Wechselbalg ist als E-Book direkt von der Autorin als Self-Publish Ausgabe erschienen und kann digital über Amazon erworben werden.

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