Die Tokio-Trilogie Teil 1
Autor: David Peace
Originaltitel: Tokyo Year Zero
Erscheinungsjahr: 2007 Englisch, 2009 Deutsch (Liebeskind Verlag)
Taschenbuch: Heyne (in der Rubrik Heyne Hardcore)
Übersetzung: Peter Torberg
Genre: Nachkriegsdrama, Mystery, Kriminalroman
>>Hier war doch eine Bar<<, sage ich. >>Was ist damit geschehen?<<
>>Sehen sie das denn nicht?<< lacht der Mann. >>Da ist eine Bombe draufgefallen.<<
>>Nein, nein, nein<<, sage ich. >>Ich war erst vor zwei Tagen hier ...<<
>>Da müssen sie sich irren<<, antwortete er. >>Das war eine Volksbar. Über hundert Personen waren hier verschüttet und kamen ums Leben. Das Gebäude hat einen Volltreffer abbekommen ...<<
>>Aber ich war vor zwei Tagen hier<<, wiederhole ich.
>>Na, dann haben sie wohl mit Geistern getrunken.<<
Ich stehe im grellen Tageslicht.
Im grellen Tageslicht.
>>Ist ihre Uhr stehen geblieben, mein Herr?<<
Tageslicht, das wie Regentropfen schimmert. Sie tun gut auf meiner Haut. Ich recke das Gesicht in die Höhe. Der Himmel ist blau, nicht grau, er wölbt sich weit, nicht niedrig über der Stadt. Die Gebäude der Stadt ragen hoch und glänzen in der grell erleuchteten Nacht.
Eine lichtdurchflutete Nacht, die sich in meinem Gesicht spiegelt. Mein Gesicht ist feucht vom Regen. Der Regen besteht nur aus Tränen. Meinen Tränen im Tageslicht. Die Stadt in Ruinen, trist, der Himmel grau und verhangen.
>>Dann haben sie wohl mit Geistern getrunken ...<<
In Ruinen, trist, grau und eingesunken.
Jetzt zeigt er mir seine Uhr ...
Im grellweißen Tageslicht.
Sie steht immer noch auf 12.00 Uhr.
Gleich mehrere Begriffe dürften nicht unbedingt mit Tokio im Jahr Null in Verbindung gebracht werden. Da hätten wir Peace (Autor) und Liebeskind (Verlag) im Angebot. Denn Frieden sucht man in dem Roman vergeblich, und genau so wenig ist diese Geschichte ein Liebes Kind. Es ist eher ein Enfant Terrible.
Und dennoch, trotz all des Pessimismus, den der Brite in den ersten Teil seiner Tokio-Trilogie gebannt hat, ist Tokio im Jahr Null ein faszinierendes Gemälde der Literatur geworden, dessen scharfe Worte den Leser sogar verletzen könnten. Klingt wie ein Fazit? Falsch gedacht! Hier fängt meine Erfahrung mit diesem Dämon erst an!
Die Geschichte beginnt genau zu der Zeit der Kapitulation Japans im zweiten Weltkrieg. Zwar ist der Krieg immer noch im Gange, von Gegenwehr Seitens der Japaner kann man aber nicht mehr sprechen. Der Tenno hat die Kapitulation unterzeichnet. Die Kempeitai belagern die Straßen um noch ein wenig Ordnung zu bewahren. Und irgendwo da draußen durchstreift auch noch die Tokioter Kriminalpolizei die Ruinen der zerbombten Stadt. Es gleicht bitterböser Ironie, dass in Zeiten der Anarchie sich das eigene Volk noch selbst bekämpft. An einem heißen Nachmittag macht Inspektor Minami mit seinem Team eine grausige Entdeckung. In einem Heizungskeller wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Zu interessieren scheint dies jedoch kaum wen. Für die Kempeitai ist der Fall schnell klar. Der schuldige ist für sie ein Hausmeister aus Korea, ein sogenannter Yobo. Die Kempeitai richtet den Mann noch vor Ort hin. Fall abgeschlossen.
Im heißen August von 1946, mitten in den Wirren der Nachkriegszeit, findet die Polizei im Shiba-Park zwei weitere Leichen. Eine davon ist bereits so verwittert, dass nur noch Knochen und Kleidungsstücke von ihr übrig geblieben sind. Erneut handelt es sich um zwei Frauen. Mit ihren begrenzten Mitteln bilden sich zwei Gruppen bei den Ermittlern. Je ein Team soll den Ursprung eines Verbrechens aufdecken. Der Mörder der ersten Leiche ist schnell gefunden. Der ehemalige Soldat Yoshio Kodaira gesteht. Fall abgeschlossen. Allerdings tauchen weitere seltsame Fälle auf, die mit Kodaira in Verbindung gebracht werden. Es werden weitere Leichen junger Frauen entdeckt, und Team 2 der Kriminalpolizei konnte immer noch nicht die zweite Leiche aus dem Shiba-Park identifizieren. Ab hier beginnt für den gebeutelten Inspektor Minami der Tokioter Kriminalpolizei eine alptraumhafte Odyssee, die um Längen seine Vorstellungskraft übersteigen wird.
Wäre man gemein, so könnte man sagen, würde man die ganzen Füllwörter und Wiederholungen streichen, würde Peace Roman lediglich auf 200 Seiten kommen. Sieht man das Werk aber weniger als Roman, sondern viel mehr als psychologisches Profil eines verzweifelten Polizeibeamten der japanischen Nachkriegszeit, bekommt man ein sehr verstörendes Bild geboten. Tokio im Jahr Null ist gewiss kein einfaches Werk. Manchmal fand ich es sogar anstrengend, einige Passagen zu lesen. Es kann sein das auf mehreren Seiten nichts anderes steht als "Ton-ton, Ton-ton" oder "Chiku-taku, Chiku-taku".
Diese seltsamen Worte stehen für ein Hämmern, und das ticken einer Uhr. Peace gewährt uns Einblicke in die Gedankenwelt von Minami, seinem Protagonist. Minami selbst hat damals im Krieg gegen die Chinesen gedient, und durch gute Kontakte seines Vaters, der mit dem Polizeichef von Tokio sehr gut befreundet war, den Job bei der Kriminalpolizei erhalten. Sehr interessant dabei ist der Vergleich, wenn man den Minami aus dem Prolog mit dem Minami aus der Hauptgeschichte vergleicht. Während im Prolog Minami mit seiner Entourage an Polizisten noch abgeklärt und cool agiert, ist sein Verfall im Laufe der Geschichte immer deutlicher zu erkennen. Er wird unsicher, wird immer mehr abhängig von Schlaftabletten. Vor seinen Vorgesetzten muss er sich bei jeder weiteren Sackgasse im Fall so tief verbeugen, dass er beinahe den Boden küsst. Minami selbst gerät dabei immer mehr im Sumpf des Verbrechens. Er liefert Informationen an den Gangsterboss Senju Akira ab, nur um an Schlafmittel und Geld zu kommen um seine Familie zu ernähren und seine Geliebte zu halten. Die Mordfälle nehmen immer absurdere Wendungen. Minami kann Realität von Traum nicht mehr unterscheiden. Und irgendwie scheint Yoshio Kodaira, Ex-Soldat und Mörder, Minami zu kennen. Der ihm immer wieder klar macht: Niemand ist der, der er zu sein vorgibt.
David Peace erlangte in der Krimi-Szene viel Ruhm durch sein Red Riding Quartett. Eine Reihe von vier Romanen, die von dem sogenannten Yorkshire Ripper handeln. Mit seiner Tokio-Trilogie wollte er ein ähnliches Wagnis eingehen. Realität mit Fiktion vermischen. Peace lebte über 10 Jahre in Japan. Seine Faszination von diesem Land liest man in jeder Zeile seines Romans. Würde man den Name David Peace nicht lesen, würde man nicht bemerken, dass hier ein westlicher Autor schreibt. Alleine damit hat Peace sich höchsten Respekt verdient. Seine Sichtweise ist japanisch. Seine Denkweise ist japanisch. Es gibt keine westlichen Klischees. Peace arbeitet mit Fakten. Zwar ist sein Protagonist Minami Fiktion, Yoshio Kodaira aber nicht. Kodaira wurde 1905 geboren, diente als Soldat und wurde 1949 hingerichtet. In einem Abschiedsbrief bedauerte Kodaira seine Verbrechen, und war zu Tränen gerührt, mit wie viel Respekt man ihm trotz allem begegnete. Kodaira war für den Mord an mehreren jungen Frauen verantwortlich. Sieben Morde konnten ihm nachgewiesen werden. In Wahrheit werden es aber weitaus mehr gewesen sein.
In Tokio im Jahr Null gibt es keine Optimismus. Die Geschichte ist düster und absolut packend geschrieben. Und dennoch handelt es sich hierbei nicht um einen klassischen Kriminalroman. Viel mehr geht es um das Leben der völlig überforderten Polizei, die zu solch einer schwierigen Zeit damals ermitteln mussten. Es geht um das zerbombte Tokio, und die Hoffnung der Bürger, die eigentlich nicht mehr Existent war. Die Mordfälle nehmen da einen geringeren Teil der Geschichte ein, auch wenn sie der Kern des Romans sind. Es gibt aber auch immer wieder sehr surreale Passagen, diese kann man dann sehr gut in das Mystery Genre packen. All das zusammen ergibt ein Nachkriegsdrama mit Mystery und Krimi Elementen.
Der einzige wirkliche Kritikpunkt, den ich habe, sind die vielen Namen. Obwohl ich eigentlich sehr gut im Bilde bin über die verschiedenen Anreden, die man in Japan benutzt, war ich oftmals doch recht verwirrt wenn es um das Zuordnen der Personen ging. Das ist weniger etwas, was man Peace zur Last legen kann, sondern vielmehr etwas, wo man als Europäer nicht so ganz mitkommt. Es treten viele Personen auf und es verschwinden genau so viele Personen. Wenn man da einmal durcheinander kommt, ist das nicht wirklich ein Problem, man findet genau so schnell wieder in die Geschichte zurück.
Resümee
Tokio im Jahr Null ist harte Kost. Zartbesaitete werden es wohl nicht bis zum Ende schaffen, da man die Beschreibungen als auch den Schreibstil an sich als sehr extrem bezeichnen kann. Selbst mich überkam mehrmals ein furchtbarer Schauder. Es ist eindeutig ein Werk, welches man schwer rezensieren kann. Es ist umfangreich, verwirrend und dennoch genial geschrieben.
David Peace weiß, wie man den Leser an das Buch fesselt. Der Mix aus Fiktion und Tatsachen ist ihm gelungen. Das Portrait, welches er von dem Japan der Nachkriegszeit gemalt hat, ziemlich realistisch. All das machte mir lust auf mehr. Und so freue ich mich auch auf den zweiten Teil seiner experimentellen Tokio-Trilogie, Tokio, besetzte Stadt.
Eine klare Empfehlung spreche ich für den ersten Teil an alle Japan-Begeisterte aus. Doch auch Krimi-Fans können es wagen, wenn sie mal etwas fernab der skandinavischen Krimis etwas außergewöhnliches Lesen wollen. Ich bereue den Ausflug in die düstere Vergangenheit jedenfalls nicht, und hoffe, einigen Lesern den Titel schmackhaft gemacht zu haben.
Das Finale der Tokio-Trilogie, Tokyo Regained, ist immer noch nicht erschienen. David Peace kündigte bereits seinen Abschied als Autor an. Das ist natürlich sein gutes Recht, aber das möge er bitte erst tun, nachdem er seine Trilogie beendet hat ;)
Bravo! Die Rezension hat mir sehr gut gefallen!
AntwortenLöschenHi Annegret!
AntwortenLöschenIch freue mich sehr wenn hier mal ein Kommentar steht. Ich weiß ja das die meisten Leute durch Google zu mir kommen. Persönliches Feedback finde ich aber immer sehr schön =)
Liebe Grüße,
Marcel
Muss für meine Prüfung das Buch vortstellen. Dein Text hilft echt weiter. Danke!
AntwortenLöschen