Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Mittwoch, 20. März 2019

Rezension: Die wandernde Erde (Cixin Liu)





China 2008

Die wandernde Erde
Originaltitel: Liu Lang Di Qu
Autor: Cixin Liu
Übersetzung: Karin Betz, Johannes Fiederling, Marc Hermann
Genre: Kurzgeschichten, Science-Fiction



In seiner Heimat China ist Cixin Liu schon lange ein literarischer Star. So ist es weniger verwundernd, dass diese Anthologie an Kurzgeschichten und Novellen ebenfalls schon vor über 10 Jahren in China erschienen ist. Durch die Veröffentlichung und dem damit verbundenem Erfolg von "Die Drei Sonnen" öffnete sich hier jedoch für westliche Verlage ein Portal. Dieses Portal beinhaltet das umfangreiche Science-Fiction Werk von Cixin Liu. Obwohl der hier vorliegende, dicke Sammelband schon etwas länger als englischsprachige Ausgabe existiert, so freut es mich jedoch ungemein, dass sich Heyne dazu entschieden hat, das Sammelsurium verschiedenster Sci-Fi Stories auch in deutschsprachigen Gefilden zu veröffentlichen. Und dies geschah auch noch zu einer Zeit, wo nicht ganz einen Monat später, nämlich am 05.02.19, "Liu Lang Di Qu" seine Premiere in China feierte. Hierbei handelt es sich um eine aufwendige Filmadaption von Cixin Lius titelgebender Novelle aus dem Jahr 2000, "Die wandernde Erde". Hier sei noch anzumerken, dass die Verfilmung sehr wohlwollend von der internationalen Presse aufgenommen wurde und in China kommerziell extrem erfolgreich war, während die Filmadaption zum ersten Band von "Die drei Sonnen" wohl leider stattdessen endgültig auf Eis gelegt ist.

"Die wandernde Erde" enthält nicht nur die gerade erwähnte Titelgeschichte, es befinden sich in dieser umfangreichen Sammlung auch noch 10 weitere Geschichten. Darunter auch die von mir bereits besprochene Novelle "Weltenzerstörer", die es vergangenes Jahr in meine Top 3 der Bücher des Jahres geschafft hat (und auch als einzelne Veröffentlichung weiterhin erhältlich ist). Sämtliche Geschichten in dieser Anthologie sind von unterschiedlicher Länge. Zwischen der Entstehung der Kurzgeschichten und Novellen liegen oftmals viele Jahre und sie sind bewusst nicht chronologisch geordnet. Zum Beginn jeder Geschichte steht aber das Datum der Entstehung sowie andere nützliche Details.

Die Anzahl der Geschichten sowie der wirklich üppige Umfang der Sammlung machen es mir leider schwer, auf jede Geschichte in dieser Besprechung eingehen zu können. Die hier verlinkte Rezension zu "Weltenzerstörer" dürfte aber einen guten Ausblick auf das geben, was die Leser erwarten wird. Tatsächlich würde es mir sogar schwer fallen, eine Top 5 zu nennen. Würde man mich dennoch fragen, welche Geschichten ich hervorheben würde, wären das neben der bereits besprochenen Novelle "Weltenzerstörer" auch noch die Geschichten "Die wandernde Erde" sowie "Durch die Erde zum Mond", die inhaltlich mit der letzten Geschichte dieser Sammlung, "Mit ihren Augen", verknüpft ist. Die kürzeste Geschichte mit etwas über 30 Seiten ist übrigens "Fluch 5.0".

Eine besondere Erwähnung findet hier noch die Übersetzung des Dreiergespanns Karin Betz, Johannes Fiederling sowie Marc Hermann. Mein Lob gilt hier auch dem Heyne Verlag, den ich über einige Jahre hinweg dafür kritisiert habe, bei den japanischen Romanen die u,a. von Ring Autor Koji Suzuki stammen, auf bereits vorhandene, englische Übersetzungen zurückzugreifen. Bei Cixin Liu ist dies glücklicherweise nicht der Fall, obwohl bereits englische Übersetzungen existieren. Schon "Die drei Sonnen" ist in seiner deutschen Fassung nicht nur näher am Original, sondern auch länger als die von Ken Liu übersetzte englische Ausgabe. "Die wandernde Erde" wurde erneut aus der chinesischen Sprache übersetzt und die drei Übersetzer haben hier eine sehr gute Arbeit abgeliefert. Da ich auch einen Blick auf die englische Übersetzung werfen konnte, würde ich erneut ganz klar die deutschsprachige Ausgabe bevorzugen. Bei den Anmerkungen zu jeder neuen Geschichte wird übrigens auch der Übersetzer bzw. die Übersetzerin der jeweiligen Geschichte genannt.





Abschließende Worte


"Die wandernde Erde" ist eine beeindruckende Science-Fiction Reise eines begnadeten Autors, der das eingestaubte Genre revitalisiert hat. Thematisch beinhalten alle Geschichten in dieser Sammlung ein Gefühl von Neuanfang und Heimweh. Der Chinese Cixin Liu ist dabei gar nicht der große Romancier, auch wenn seine Trisolaris-Trilogie (Die Drei Sonnen, Der dunkle Wald, Jenseits der Zeit) andere Schlüsse zulässt. Stattdessen ist er mehr bekannt für seine kürzeren Werke wie Kurzgeschichten und Novellen. Sein letztes Werk liegt in seiner Heimat nun auch schon einige Jahre zurück und es wäre sehr schade, wenn er sich als Autor zurückziehen sollte. Wie auch immer die Pläne von Cixin Liu aussehen, er hat einen gewaltigen Beitrag bereits geleistet und "Die wandernde Erde" reiht sich nahtlos in sein beeindruckendes Werk ein. 
Von dem Umfang des Buches dürfen sich interessierte Leser nicht abschrecken lassen, denn jede dieser rund 11 Erzählungen ist ein neues Abenteuer und der Aufbruch in eine neue Welt.

Dienstag, 5. März 2019

Rezension: Serotonin (Michel Houellebecq)





Frankreich 2019

Serotonin
Originaltitel: Sérotonine
Autor: Michel Houellebecq
Verlag: DuMont
Übersetzung: Stephan Kleiner
Genre: Drama



Als 2010 "Karte und Gebiet" erschienen ist konnte ich nicht so recht einordnen, was Michel Houellebecq mit diesem Roman eigentlich aussagen wollte.  Ich habe es ungefähr bis Seite 100 geschafft bis ich den Roman enttäuscht zur Seite gelegt habe. Bis Heute habe ich mein Exemplar auch nicht mehr angerührt. Aber das Leben ist bekannt für zweite Chancen und nach "Unterwerfung (2015)" und "Serotonin" möchte ich dem Provokateur aus Frankreich eine weitere Chance geben. Denn wer mich zum zweiten mal in Folge begeistern kann, der hat meine Aufmerksamkeit sicher.

Serotonin (eine Anspielung auf die Antidepressiva, um die es in der Geschichte geht) ist eine emotionale Odyssee die irgendwo zwischen Drama, Liebesroman und Satire pendelt. Houellebecq, der seit den Anschlägen in Paris aus dem Jahr 2015 anscheinend keinen öffentlichen Auftritt mehr abgelegt hat, mag vielleicht irgendwo wie ein Eremit leben, aber was er schriftstellerisch noch immer zustande bringt ist eine Wucht. Eine provokante Wucht, wie nicht anders zu erwarten. So offensichtlich provokant, dass es selbst den größten Kritikern des Franzosen auffallen muss, dass der Autor gerne mit ihnen spielt. Houellebecq liefert seinen Kritikern einmal mehr neuen Zündstoff, rechnet zugleich aber auch gnadenlos mit der aktuellen EU-Politik ab. Die feine Kluft zwischen Satire und bitterem Ernst verschwimmt bei Houellebecq einmal mehr, doch besonders in Zeiten wo Artikel 13 düstere Realität werden könnte, ist der neue Roman von Houellebecq aber mal wieder zur richtigen Zeit erschienen.


"Seinen Vornamen zu ändern, ist nicht schwierig, wobei ich das nicht aus behördlicher Sicht meine, aus behördlicher Sicht ist so gut wie gar nichts möglich, das Ziel der Behörden ist eine maximale Beschränkung der Lebensmöglichkeiten, sofern es ihnen nicht gelingt, sie schlicht ganz zu vernichten, aus behördlicher Sicht ist ein guter Staatsbürger ein toter Staatsbürger, ich rede ganz einfach von der praktischen Anwendung: Es genügt, sich unter einem neuen Vorname vorzustellen, und nach ein paar Monaten oder sogar Wochen haben sich alle daran gewöhnt, es kommt den Leuten gar nicht mehr in den Sinn, dass man einmal anders geheißen haben könnte."

Bereits zu  Beginn feuert Houellebecq einen Giftpfeil gegen die in Papierkram versinkenden Behörden ab. Ein Bild, welches in Deutschland, Frankreich, Italien oder wo auch immer man sich in der EU befindet, vermutlich überall gleich ausschaut. Obwohl die Bürokraten hier schnell ihr Fett wegbekommen, ist Serotonin kein überwiegend politisch/gesellschaftskritisch angehauchter Roman. Genau so war auch "Unterwerfung" kein klassisches Gesellschaftsdrama. Im Mittelpunkt stehen wie immer Houellebecq's Protagonisten aus der Mittelschicht. Allesamt nicht unbedingt die besten und geselligsten Gesprächspartner. Gleich zu Beginn des Buches macht der Erzähler Florent-Claude darauf aufmerksam, wie überaus dankbar er seinen Eltern dafür ist, ihn zu einer aufrichtigen Person erzogen zu haben. Allerdings wäre da die Sache mit dem Vorname, der so gar nicht zu ihm passt und er seine Eltern in dem Punkt nie verstanden habe, wie sie diesen Namen für ihn wählen konnten. Florent-Claude würde diesen Namen am liebsten ablegen, tat dies jedoch aus Bequemlichkeiten bisher nie. Als Florent-Claude mit seiner japanischen Freundin Schluss machte, geriet er anschließend in einen depressiven Strudel. Daraufhin verschrieb ihm sein Arzt ein neues Antidepressivum namens Captorix, dieses ist weitaus zahmer als bekannte Antidepressiva, bringt jedoch Nebenwirkungen wie Libidoverlust bis hin zur Impotenz mit sich. Florent-Claude, 46 Jahre alt, bleibt auch nichts erspart.

Der stets trockene Humor begleitet einmal mehr Houellebecq's Dialoge. Wie von ihm gewohnt sind die meisten seiner Sätze ausufernd lang. überraschend dabei ist jedoch, dass man dabei nicht den Faden verliert. Zu verdanken hat man dies mit großer Wahrscheinlichkeit auch der sehr flüssigen und gut lesbaren Übersetzung von Stephan Kleiner. Es müsste eigentlich nicht erwähnt werden, aber da eine englische Ausgabe noch nicht existiert, wurde hier, wie bei DuMont üblich, aus der Originalsprache übersetzt.

Ob es auch wieder irgendwelche Tabubrüche in Serotonin gibt? Wer Houellebecq kennt, der weiß, dass es ohne pikant beschriebene Sex-Szenen nicht geht. Es gibt in diesem Roman noch die ein oder andere berüchtigte Szene, die jedoch einige Leser vielleicht verstören könnten. Auch hier ist Houellebecq wieder ganz das klassische Enfant Terrible.
Ein bisschen geht Serotonin auch in die Richtung Existentialismus, was ein stets wiederkehrendes Thema nicht nur von Houellebecq ist sondern die französische Literatur schon begleitet, noch bevor Satre die Thematik in Europa populär gemacht hat


"Diese wenigen Sätze entfalteten eine magische Wirkung, ich spürte, wie sie sie beruhigten, natürlich gibt man lieber den Antidepressiva des anderen die Schuld als seinen eigenen Fettwülsten, aber es huschte auch ein mitfühlender Ausdruck über ihr Gesicht, und zum ersten Mal an diesem Abend wirkte sie an mir interessiert, als sie mich fragte, ob ich eine depressive Phase durchliefe, weshalb und seit wann."
 


Fazit


Mit "Serotonin" läuft Michel Houellebecq zur Höchstform auf. Eine revitalisierende, aber auch eine kuriose Geschichte zugleich. Es ist schwer, diese Höchstform in Worte zu fassen wenn der Gegenüber das Buch selbst nicht gelesen hat. Wie genau macht man einen so vulgären Roman schmackhaft? Wie genau kann man Skeptikern erklären, dass vielleicht diese unverschämt vulgäre art von Houellebecq den Charme seiner Geschichten ausmacht? Denn eines ist sicher, Houellebecq provoziert gewollt und absichtlich, mal vollkommen überzogen, mal mit brutaler Ernsthaftigkeit. Doch hinter all dem steckt eine unglaublich ehrliche Geschichte, die sich mit modernen Problemen unserer Gesellschaft auseinandersetzt. So zu schreiben vermag nur dieser kauzige Franzose. Ein Mann, der sich bewusst dazu entschieden hat, die Öffentlichkeit, mit der er noch nie viel anfangen konnte, zu meiden. Genau diese Philosophie spiegelt Serotonin wider. Ein beeindruckender Start ins Bücherjahr 2019.