Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Montag, 21. April 2014

Review: True Detective




USA 2014

True Detective
Idee/Konzept: Nic Pizzolatto
Regie: Cary Joji Fukunaga
Darsteller: Matthew McConaughhey, Woody Harrelson, Michelle Monaghan, Michael Potts, Tory Kittles
Episoden: 8
Genre: Crime, Mystery, Gesellschaftsdrama
FSK: 16
Produktion HBO




Trailer




Der folgende Text sollte grundsätzlich nur von Zuschauern gelesen werden, die True Detective komplett gesehen haben. Ich werde aber alle Absätze markieren, in denen Spoiler auftauchen, die das Vergnügen an dieser TV-Serie einschränken, sollte man den Inhalt noch nicht kennen.



Die grobe Übersetzung des Wortes Review dürfte wohl bekannt sein. Im Jargon steht die Übersetzung für Rezension. Aber das Wort Review kann auch aus einer anderen Sicht betrachtet werden. Hier passt nämlich auch die Vokabel Rückblick. Genau genommen der Rückblick auf ein vergangenes Ereignis zum Beispiel. Obwohl mir die bekannte deutsche Variante, die Rezension, eigentlich sehr sympathisch ist, habe ich mich bei True Detective für das Wort Review entschieden. Denn das ist eine Vokabel, die zu dieser TV-Serie passt. Noch einmal muss ich mich nämlich nun meinen Dämonen stellen, und noch einmal muss ich zurück ins Jahr 1995, 2002 und 2012. Eigentlich hatte ich mir überhaupt nicht vorgenommen, TV-Serien in das Programm meines Blogs aufzunehmen. Bei einer so grandiosen Miniserie mache ich jedoch mal eine Ausnahme. Denn True Detective sollte geschaut werden, am besten von jeder Person, die ein Fernsehgerät besitzt.

Nach 4 von 8 geschauten Episoden brauchte ich eine Auszeit von True Detective. Ich konnte mich nicht dazu aufraffen, eine weitere Episode zu schauen. Es bestand Gefahr, auch wenn ich nur noch eine einzige Episode geschaut hätte, fortan unter Depressionen leiden zu müssen. An diesen Zeilen kann man glaube ich bereits ablesen, in True Detective gibt es nur wenig zu lachen. Genau wie seine zwei Protagonisten, wird auch der Zuschauer selbst an seine Grenzen gebracht. Für rund 1 Stunde pro Episode wird man (überwiegend) ins Jahr 1995 teleportiert und muss einen rituellen Mordfall an eine junge Prostituierte aufklären. Je nachdem für welchen Detective man mehr Sympathien hegt, schlüpft der Zuschauer dabei in die Rolle des mysteriösen, zwielichtigen und kontroversen Detective Rust Cohle (Matthew McConaughhey) oder dem verantwortungsvollen Cop und fürsorglichen Familienvater Detective Marty Hart (Woody Harrelson). Aber Achtung: Die Good Cop Bad Cop Nummer funktioniert in True Detective ein wenig anders. Denn spätestens bis zur letzten Rückblende fragt man sich eher, ob es in dieser Serie überhaupt einen Menschen gibt, der rechtschaffen handelt. Denn, letztendlich ist nichts so, wie es den anfänglichen Anschein macht.




Das Konzept, stammend aus der Feder von Nic Pizzolatto, ist durchaus ungewöhnlich. Das HBO für hochklassige TV-Serien bekannt ist, dürfte jedem klar sein. Spätestens seit den Sopranos oder nun aktuell auch Game of Thrones, dürfte sich Amerikas wohl bekanntester Pay-TV Sender umso mehr bestätigt fühlen, dass eine gute TV-Serie mehr wert sein kann als jeder große Blockbuster, der für absurde Summen in Hollywood produziert wird. Da ist es auch schon einmal möglich, dass große Namen einen Teil zur Serie beitragen (Regisseure und Schauspieler gleichermaßen). Die Konstellation McConaughey und Harrelson ist aber nicht nur etwas ungewöhnlich, sondern auch durchaus bekannt. Beide Schauspieler (untereinander gut befreundet) hatten bereits in den Neunziger die Leinwand unsicher gemacht, undzwar in Ron Howards EDtv. Allerdings nicht als gnadenlose Detectives, sondern es ging mehr in die Kategorie der Ulknudeln. Von daher war es nicht unbedingt der beste Schachzug, zwei Schauspieler zu wählen, die eher durch andere Rollen bekannt wurden. Besonders Matthew McConaughey dürfte der Rolle des Sunnyboy aber allmählich überdrüssig geworden sein, denn das in ihm viel Potential steckt, bewiesen wenige andere Rollen, die er im laufe seiner immer noch jungen Karriere immer mal spielte. Mit dem Oscar, den er dieses Jahr in der Kategorie Bester männlicher Hauptdarsteller für seine Darstellung des an Aids erkrankten Ron Woodroof im Film Dallas Buyers Club erhielt, dürfte er sein vielleicht etwas zu glattes Image endgültig abgeschüttelt zu haben. Doch spätestens seit True Detective dürfte Matthew McConaughey zu den begehrtesten Schauspielern gehören, die Hollywood derzeit im Köcher hat. McConaughey als misanthropischer, philosophischer und gleichermaßen undurchschaubarer Detective Rust Cohle ist nämlich so genial, dass er seinem Partner beinahe die Show stiehlt. Aber all das darf in keinster Weise die Leistung von Woody Harrelson schmälern, der hier, genau wie McConaughey selbst, eine der besten Leistungen seiner Karriere abliefert. Beide Schauspieler gaben bereits bekannt, weder in einer kommenden neuen Staffel True Detective dabei zu sein, noch als Produzenten weiterhin zu fungieren. Das Erbe, was die beiden hinterlassen haben, ist beinahe untragbar für ein weiteres Ermittler-Duo. Was die Fans wollen sind große Namen und eine brillante schauspielerische Leistung. Vielleicht wäre es für HBO besser gewesen, aus True Detective eine einmalige Affäre zu machen, als eine längerfristige Beziehung. Genug Namen werden schon seit längerem gehandelt.




Ein weiterer Verantwortlicher, der von True Detective profitiert haben könnte (und daran besteht eigentlich kein Zweifel) ist der junge Regisseur Cary Fukunaga. In einem Interview bestätigte Fukunaga, was viele bereits nach der ersten Episode vermutet hatten. Als Pate der Inspiration diente ihm Twin Peaks. So gesehen war Twin Peaks das fehlende Gewürz, welches True Detective fehlte. Allerdings ist True Detective kein Twin Peaks Abklatsch. Es wurden lediglich die Mystery-Aspekte übernommen. Fukunaga legte den Fokus in True Detective auf die menschlichen Abgründe. Die Entwicklung der Charaktere steht im Vordergrund, sogar mehr, als der eigentliche Mordfall (dazu später mehr). Auf insgesamt 17 Jahre erstreckt sich die Geschichte von True Detective. In geschickt erzählten Rückblenden und Ereignissen aus der Gegenwart erfahren wir immer mehr über die beiden Ermittler und den Albtraum, den sie durchlebten und immer noch durchleben müssen. Einen ganz genauen Einblick bekommt man in ihr Privatleben. So ist der undurchschaubare Rust Cohle vielleicht wesentlich abgeklärter als der verunsicherte, cholerische Marty Hart, der, und das nur zum Wohle der Familie, ausgiebig seine Frau betrügt. Je weiter die Geschichte voranschreitet, umso mehr entfaltet sich ein Gemälde des Schreckens. Besonders gelungen ist dies was die Kulisse der Serie angeht. Regisseur Cary Fukunaga gelingt es grandios, wie beklemmend und gefährlich er die Südstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika darstellt. Nicht unbedingt ein Bewerbungsvideo für Louisiana, hat man vor, dort demnächst Urlaub zu machen. Unterlegt ist die ganze Szenerie stets mit einem sehr stimmungsvollen Soundtrack (besonders gut wurden die Songs zum Ende einer jeden Episode ausgewählt).

Spoiler Voraus!

Doch nicht alles was glänzt, ist automatisch auch ein frisch gewachstes Auto. In den gerade einmal 8 Episoden kommt nämlich die eigentliche Haupthandlung ein wenig zu kurz. Die Mordfälle geraten bei den ganzen privaten Fäden von Cohle und Hart ein wenig aus dem Fokus. Besonders deutlich wird dies in den letzten beiden Episoden, die wieder in der Gegenwart der Geschichte spielen. So genial das Finale auch umgesetzt wurde, den großen Knall gab es nicht. Dazu gehört der recht klischeehafte Mörder, die eher wenig befriedigende Auflösung der Geschehnisse als aber auch der etwas vorausahnende Showdown. Musste ich als Zuschauer die vorherigen Episoden so leiden, wollte ich zumindest zum Ende noch einmal den Gnadenstoß abbekommen. Dieser blieb aus. Zwar sind die letzten Momente mit Cohle und Hart sehr emotional und brillant in Szene gesetzt, das Ende wird einer so furiosen Serie aber nicht ganz gerecht. So kann man sich fragen, ob True Detective ohne diese komplexe Mordserie vielleicht besser dran gewesen wäre, weil es schwer ist, so viel Stoff in nur 8 Episoden unterzubringen. Allerdings war diese Mordserie letztendlich doch unverzichtbar, da sie die Geschichte erst einmal vorantrieb. Ohne Morde hätte die Serie natürlich auch absolut keinen Sinn gemacht. Man hätte True Detective zwar als klassisches Gesellschaftsdrama aufbauen können, dies hätte dem Konzept aber sehr geschadet.


Fazit

Ganz gleich der einzigen Kritik, die ich True Detective zur Last lege, haben wir es hier vermutlich mit eine der ungewöhnlichsten und spannendsten TV-Serien der vergangenen Jahre zu tun. Geplant als einmalige Miniserie, war die Begeisterung jedoch so groß, dass eine Fortsetzung beinahe unausweichlich ist. Für HBO wird es ein schweres Erbe werden, dieses Niveau aufrecht erhalten zu können.
True Detective war für HBO auch äußerst lukrativ. Mit weit über 10 Millionen Zuschauern wurde True Detective zum erfolgreichsten HBO Debüt seit der Gründung des Pay-TV Senders in den USA. Genug Hype also für Tweet Explosionen auf Twitter und unlustige Parodien, die man wohl bald auf YouTube so häufig finden wird wie frisch gezapftes Bier in einer Kneipe.

Wer sich auf den Pessimismus und die Spannung in True Detective einlassen kann, der wird von dieser nahezu perfekt inszenierten TV-Serie aufgesogen wie es ein Schwamm mit Wasser tut. Allerdings wird es euer Schweiß sein, und der Schwamm vermutlich euer Shirt/Pullover/BH.
True Detective ist eine Kriminalgeschichte auf allerhöchstem Niveau, und dieses wird noch einmal durch meisterhafte Schauspielkunst der beiden Protagonisten verdeutlicht.



Samstag, 12. April 2014

Der Club Bertelsmann und sein knurriger Kundenservice



Ich beame mich wieder ins Jahr 2012, denn vor rund 2 Jahren war der Club Bertelsmann schon einmal ein Thema auf meinem Blog: Die Vorteile, die man nicht hat, wenn man Mitglied im Club Bertelsmann ist.
Damals kritisierte ich hauptsächlich die hohen Versandkosten für Büchersendungen. Ich glaube mittlerweile werden pro Sendung 4,99 3,99 Euro veranlasst, und viele Sendungen werden noch immer lediglich als einfache Briefsendung versendet. Da sind die 2 Euro, die man circa bei den Club-Ausgaben spart, schnell wieder futsch. Natürlich will man mir bei meiner Bestellung immer wieder die Abholung in einer Club oder Zeilenreich Filiale schmackhaft machen. Aber wieso sich in Bewegung setzen, wenn Amazon und Thalia Bücher immer versandkostenfrei versendet?

Heute geht es mir aber um etwas anderes. Etwas, was mich auch persönlich recht ärgert, und mir bei meiner letzten Bestellung vor einigen Tagen erst einmal wieder bewusst wurde. Natürlich wird man sich die Frage stellen, wenn man so unzufrieden ist, wieso bestellt der Kerl dann da überhaupt noch?
Die Antwort ist jedoch einfach. Die Club-Ausgaben sind einfach ein Hingucker und vermitteln einen Hauch von Exklusivität. Als Beispiel wäre da eine wirklich schöne Hardcover-Ausgabe zu Haruki Murakamis Naokos Lächeln, oder auch die äußerst gelungenen Club-Ausgaben zu Das Lied von Eis und Feuer.

Und da bin ich nun angelangt bei der Exklusivität. Ein Club soll ja immer diesem Motiv folgen. Dem Mitglied dieses Clubs muss etwas schmackhaft gemacht werden. In diesem Falle halt mit exklusiven Ausgaben aktueller Bestseller. Und theoretisch gehört auch ein exklusiver Kundenservice dazu, der zumindest so tun könnte, als sei der Kunde ein wertvolles Objekt.



Der Kundenservice des Club Bertelsmann scheint diesen Aspekt jedoch anders zu interpretieren.
Natürlich wird einem die Möglichkeit geboten, Online zu bestellen. Ich habe aber, und das wird sich nie ändern, menschlichen Kontakt lieber und gebe meine Bestellungen daher persönlich auf. Dafür gibt es ja immerhin die telefonische Bestellannahme. Sobald jedoch die Dame den Hörer abnimmt, weht ein eisiger Wind durchs Telefon. Immer wieder erwische ich die gleiche, knurrige Dame vom Kundenservice des Club Bertelsmann (die Stimme ist auch recht markant und hat somit Weiderkennungswert). Der Tonfall, kühl, die Stimmlage, gelangweilt. Fast klingt es, als müsse ich mich entschuldigen, eine Bestellung aufzugeben und den Kundenservice damit zu belästigen. Selten hatte ich schon einmal einen Kundenservice am Apparat, der gleichgültiger klang. Besonders schlimm wird es, wenn ich eine ISBN als Bestellnummer durchgebe. Denn dann muss erst einmal ein anderes Programm ausgewählt werden, um meine Bestellung aufnehmen zu können.

Ich beschwerte mich bei einem anderen Mitarbeiter bereits 2013 einmal (und erhielt sogar tatsächlich eine Entschuldigung). Ich sandte damals 2 Artikel mit mangelhafter Qualität zurück, dabei wurde auf meinem Club-Konto wohl etwas falsch verrechnet. Ich wollte die Sache telefonisch klären, bekam aber gleichzeitig folgenden Satz an den Latz geknallt: "Sie sind ja auch selbst schuld, wenn sie so viele Artikel zurücksenden."
Natürlich kann man auch dieser art von Kundenservice eine gewisse Exklusivität nicht absprechen.

An die knurrige Kundenbetreuerin scheine ich aus seltsamen Gründen häufig zu geraten. Ich hatte mir vor einigen Tagen vorgenommen, dem nächsten Kundenberater meinen Unmut über das neue, unübersichtliche Design der Website kundzutun. Als Frau Knurrer jedoch gelangweilt meine Bestellung entgegennahm, habe ich das Vorhaben resigniert zu den Akten gelegt.

Etwas scheint im Busch zu sein in Gütersloh. Zwar will ich nicht, dass man mir den Zucker in den Hintern pustet, aber nach fast 10 jähriger Treue wünscht man sich vielleicht eine etwas sanftere Behandlung bei der Bestellannahme. Mit dem Kundenservice von vor einigen Jahren ist das nicht mehr zu vergleichen. Ich vermisse die Zeiten, als ich noch Nachts (oder war es bereits am frühen Morgen?) beim Club bestellen konnte und ich selbst zu unmöglichen Uhrzeiten noch freundlich bedient wurde. Die Zeiten sind jedoch vorbei, denn die Bestellannahme hat schon seit einiger Zeit strikte Öffnungszeiten. Eine andere Mitarbeiterin wollte mir damals wiederum weismachen es hätte nie eine nächtliche Bestellannahme gegeben. Dann haben wohl Phantome der Vergangenheit meine Bestellungen entgegengenommen.

Ganz sicher, und das muss noch gesagt werden, möchte ich hier nun auch nicht alle Mitarbeiter des Clubs (darunter die sehr freundlichen Verkäufer in den Filialen) über einen Kamm scheren. Meine Kritik richtet sich ausschließlich an den telefonischen Kundenservice, der, meiner Meinung nach, unglaublich zu wünschen übrig lässt.

Die Exklusivität beim Club Bertelsmann ist mir zumindest im letzten Jahr nicht großartig aufgefallen. Und 2014 scheint sich das fortzusetzen. Was das neue Design der Website angeht, man tut glaube ich viel, um sich selbst abzuschaffen. Das einst so entspannte Surfen auf der Website, die Bestseller zu durchstöbern, ist zu einer nervigen Angelegenheit geworden. Selbst die Artikelsuche scheint irgendwie zu schlafen, fast so wie Frau Knurrer, die immer so begeistert ist, wenn ich mir ein Buch bestellen möchte.


*Frau Knurrer existiert selbstverständlich nur in meiner Phantasie und ist keine echte Mitarbeiterin bei dem Club Bertelsmann.

Donnerstag, 10. April 2014

Kurzgeschichten-Intermezzo: Kurt Vonnegut - Harrison Bergeron



 



USA 1961

Harrison Bergeron
Autor: Kurt Vonnegut
Sammlung: Welcome to the Monkey House (1968)
Format: eBook
Verlag: RosettaBooks (2011)
Sprache: Englisch
Genre: Kurzgeschichte, Science-Fiction, Dystopie


"George came back in with the beer, paused while a handicap signal shook him up. And then he sat down again. >>You been crying?<< he said to Hazel.
>>Yup,<< she said.
>>What about?<< he said.
>>I forget,>> she said. >>Something real sad on television.<<
>>What was it?<< he said.
>>It's all kind of mixed up in my mind,<< said Hazel.
>>Forget sad things,<<  said George. >>I always do,<< said Hazel.
>>That's my girl,<< said George. He winced. There was the sound of a rivetting gun in his head.
>>Gee - I could tell that one was a doozy,<< said Hazel.
>>You can say that again,<< said George.
>>Gee -<< said Hazel, >>I could tell that one was a doozy.<<"
(Kurt Vonnegut, Harrison Bergeron, Rosetta Books)


Ein Hauch von Philip K. Dick liegt in der Luft. Zwar gibt es bei Harrison Bergeron keine Precogs oder suspekte Raumsprays, dafür aber jede menge Dystopie.
Kurt Vonnegut Jr. (1922-2007) gehörte, ohne Frage, zu den ganz großen amerikanischen Schriftstellern, die mit ihrer Literatur auch außerhalb der Vereinigten Staaten auf sich aufmerksam machten. Mit Slaughterhouse Five (Schlachthof 5) gelangte Vonnegut zu Weltruhm als Autor und machte sich einen Namen als großer Science-Fiction Autor und Humorist. So bedrückend die Thematik in seinen Geschichten auch sein kann, aus ihm sprach immer wieder der Satiriker.
Als Kettenraucher sagte Vonnegut einst, Zigaretten seien der langsamte Selbstmord, den man begehen kann. Suicide Sticks, so nannte er die Glimmstängel. Und dennoch wurde Kurt Vonnegut 84 Jahre alt. Vermutlich hätte er sein eigenes Ableben als ironisch bezeichnet, könnte er noch das Wort ergreifen. Denn es waren nicht die Zigaretten, die ihm sein Leben kosteten, sondern der Sturz von einer Treppe in seinem eigenen Heim.

Mit Harrison Bergeron, einer Kurzgeschichte aus der 1968 veröffentlichten Anthologie Welcome to the Monkey House, hat Vonnegut eine seiner bekanntesten Kurzgeschichten geschrieben. Diese Dystopie spielt in einer Gesellschaft, in der es nur "Gleiche Menschen" geben soll. Das kommt ungut für klügere Menschen. Diese werden nämlich vom Statt gleich mit einem bizarren Malus belegt. So ergeht es auch George Bergeron. George ist intelligenter als die Mehrheit, und somit auch intelligenter als seine durchschnittlich verlangte Frau Hazel. George wurde vom Statt mit einem schweren Rucksack bestraft, den er den ganzen Tag über tragen muss. Doch damit nicht genug. Das Sahnehäubchen ist ein kleiner Sender in seinem Ohr, der immer mit dem Statt verbunden ist. Sobald George auch nur anders denkt als die Masse, wird er mit grauenhaften Geräuschen bestraft, die durch seinen Gehörgang gepustet werden (Autounfälle, Scheißereien). Das Ehepaar wird natürlich durchgehend vom Staat kontrolliert, so wie einfach alles im Staat kontrolliert wird. Einen besondereren Fall stellt jedoch der Sohn des Ehepaars dar, Harrison Bergeron. Dieser wurde verhaftet, weil er überdurchschnittlich intelligent ist und individuell denkt. Der Teenager hat jedoch genug von der Überwachung und will dem Staat beweisen, dass sich nicht alle Menschen kontrollieren lassen.

Harrison Bergeron ist eine bitterböse Satire an die Gesellschaft. Die bizarre Handlung wird immer wieder durch das Unwissen und die Naivität des Ehepaars Bergeron überspielt. Die Gesellschaft ist zu einem massigen Big-Brother Staat verkommen. Eine erschreckende Dystopie, denn vergleicht man die Geschichte mit aktuellen Ereignissen aus China, oder, noch eine Stufe krasser, Nordkorea, wird einem schnell bewusst wie weit Kurt Vonnegut seiner Zeit voraus war. Mit einem lockeren Schreibstil versetzt uns Vonnegut in eine Zukunft, die hoffnungsloser nicht erscheinen kann. Mit einer großen Portion an schwarzem Humor verleiht er dieser Kurzgeschichte, die angesiedelt ist zwischen Science-Fiction und Satire, einen noch schärferen Unterton.


Resümee

Das Prädikat Kurzgeschichte verdient Harrison Bergeron allemal, denn der Höhepunkt findet nach nicht einmal 30 Seiten statt. Aber nach der Seitenanzahl darf man eine Kurzgeschichte nicht messen. Es kommt auf den Inhalt an. Und wer diesen versteht, den wird Harrison Bergeron auch nach dem Ende noch einige Zeit beschäftigen.



Mittwoch, 9. April 2014

Einwurf: Blogger - Wachablöse des klassischen Journalismus?



Kürzlich habe ich gelesen, der Bundestag vergebe Jahresakkreditierungen an die einst so ungeliebten Blogger (unter speziellen Kriterien). Kann man das nicht als eindeutigen Sieg für die unzähligen Blogger in Deutschland ansehen? Oder sind das einfach Schnorrer, die mit wenig Aufwand etwas umsonst abstauben wollen oder etwas vergünstigt erhaschen möchten? Wenn der Bundestag schon nicht mehr zwischen Online und Offline Journalismus unterscheidet, dann kann man schon sagen, für die Blogger war das ein kleiner Triumph.

Aber ist das denn richtig so? Also richtig so in dem Sinne, dass die Blogger auch so einfach über alles berichten dürfen, akkreditiert werden können wie echte Journalisten, und Rezensionsexemplare anfordern dürfen? Sollte es da nicht eine Grenze geben? Automatisch erinnerte mich das an eine Folge bei den Simpsons. In dieser Episode weigerte sich Reverend Lovejoy homosexuelle Pärchen zu vermählen. Homer Simpson kam dann auf die geniale Idee, selbst Priester zu werden und fortan die homosexuellen Pärchen in Springfield zu vermählen, weil das nämlich eine ziemlich lukrative Geschichte sei. Und im Zeitalter des Internets ist ja nichts unmöglich, und so lässt er sich Online in wenigen Klicks zum Priester weihen.



Wenn das Internet Homer Simpson zum Priester macht, dann kann man es doch auch so interpretieren, dass Google und Wordpress uns in circa 5 Klicks zu einem waschechten Journalisten macht. Website besuchen, Konto erstellen, Layout wählen, Hintergrundbild wählen, Debütpost verfassen, fertig. So einfach kann es gehen. Dem Internet sei dank.

Natürlich darf man nicht vergessen, kaum ein Blogger verrichtet seine Arbeit an seinem Blog aus eben jenen materialistischen Gründen, nur um etwas abstauben zu können. Es ist allen voran das Hobby, die Passion, die viele Blogger antreiben dürfte. Denn im Gegensatz zu den Journalisten muss wohl auch bedacht werden, circa 70% aller Blogger dürften für ihre Arbeit gar nicht bezahlt werden. Bestimmt gibt es Ausnahmen wie die Fashion oder Kosmetik Bloggerinnen (da sträuben sich mir persönlich die Haare), die Mehrheit allerdings verrichten ihre Arbeit alleine aus Spaß an ihrem Hobby.

Dennoch dürften die einst so unbeliebten Blogger (in der Vergangenheit besonders auch bei großen Verlagen) an Ansehen gewonnen haben in den vergangenen Jahren. Denn meistens ist der gratis Journalismus sponsored by Google hochwertiger als alles, was die Printmedien zum Beispiel in ihre Feuilletons verewigen.

Und man darf ja auch folgendes nicht vergessen. Die neuen Bestsellerautoren kommen aus dem Internet. In diesem Sinne trinke ich mir ein eisgekühltes Glas Übermut garniert mit einem Topping aus Überheblichkeit. Cheers.

Dorothee Elmiger: Schlafgänger (Rezension)







Schweiz/Deutschland 2014

Schlafgänger
Autorin: Dorothee Elmiger
Erscheinungsjahr: 2014, DuMont Buchverlag
Genre: Philosophie, Zeitgeist



"Ich stellte erstmals eine Veränderung fest, als ich nachts durch eine Großstadt fuhr, sagte der Logistiker, ich war zu jenem Zeitpunkt dreiundzwanzig Jahre alt, und bei der Stadt muss es sich um Berlin gehandelt haben. Ich sah die Lichter der Stadt, die magischen Lichter, aber sie bedeuteten mir nichts. Später dieselbe Erfahrung an anderer Stelle: Ich rechnete stets mit allem, nichts erstaunte mich, nicht der tote Passagier in der U-Bahn, der plötzlich in sich fiel zwischen zwei Haltestellen - der Kopf sank tief zwischen die Schultern, der Brustkorb, leer, faltete sich leise pfeifend zusammen -, auch nicht die unvermittelte Aussicht über die karge Wüste, die sich vor einem Busfenster entfaltete, erstaunte mich, still, den Rucksack eng an meine Brust gedrückt, saß ich da, nicht ein nackter Körper neben mir, der einer Frau gehörte oder einem Mann in einem Zimmer hoch über den engen neapolitanischen Straßen, nicht jene Momente, als ich in den Großstädten durch unauffällige Eingänge in versteckte Räume gelangte, in denen sich alles Mögliche ereignete: Nichts wunderte mich, alles nahm ich nur zur Kenntnis.
Sie verspürten keine Angst?, fragte Frau Boll. Antwort: Selten.
Ich fürchtete mich nicht, weil ich ja wusste, dass die Zeit verging. Ich wartete alles ab, und alles ging vorbei, jeder Moment, alles war zufällig so oder hätte auch anders kommen können. Die Bäume trugen ihr Laub oder sie warfen es ab, ich saß an diesem Tisch oder an jenem und sagte ein Wort im Gespräch oder tat es nicht, der Bratschist hielt den Ton lange oder spielte ihn kurz, der Journalist stand an diesem oder jenem Tag auf oder er entschied sich dagegen, blieb liegen und schrieb kein Wort. Und die Zeiten: Flut oder Ebbe, und ein Leck wurde versiegelt oder es blieb bestehen, die Kühlkette wurde eingehalten oder nicht, der Automobildienst fuhr in einen Pfeiler und er lebte oder er starb, die Sonne wurde vom Mond verfinstert oder der Mond von der Erde, und die Lichter der Hochhäuser schienen oder sie gingen aus."
(Dorothee Elmiger, Schlafgänger, DuMont Buchverlag)


Was genau ist Schlafgänger für ein Roman? Oder die bessere Frage wäre: Wer oder was sind die Schlafgänger? Zumindest auf die zweite Frage fand ich eine Antwort. Die erste Frage kann ich jedoch versuchen, zu beantworten. Was ist Schlafgänger denn nun für ein Roman? Schlafgänger ist ein Roman, der Philosophie und den Zeitgeist unser Generation miteinander verknüpft. Mit nicht einmal 150 Seiten scheint es, als würde der Roman der jungen Schweizerin Dorothee Elmiger (geboren 1985) das Gewicht der Welt stemmen. Ein Atlas im Miniaturformat, wenn man es genau erklären möchte.
Denn was Dorothee Elmiger hier geschrieben hat ist kein philosophisches Möchtegern-Geschwafel eines gelehrten, der mit Fremdwörtern hantieren will, sondern der Versuch, unsere Welt zu erklären. Und die Autorin versucht gar nicht erst, eine Antwort auf die Fragen des besagten Zeitgeistes zu finden, sondern sie diskutiert, und der Leser kann sich, wenn er mag, an dieser Diskussion beteiligen, auch wenn dieser genau so wenig Antworten finden wird, wie die schlaflosen Protagonisten in der Geschichte.

Da ich, aufgewachsen im Ruhrgebiet, nicht wirklich mit der Schweizer Grenze und ihrer Geschichte vertraut bin, habe ich mich ein wenig schlau gemacht. Und (nun kommt die Erklärung für die Schlafgänger), habe prompt gefunden, was diese Schlafgänger denn überhaupt sind, denen die Autorin diese Geschichte gewidmet hat. Es war die Rezension des Spiegels zu Schlafgänger, die diesen Begriff sehr zufriedenstellend erklären:

Es war einmal eine Zeit, im 19. Jahrhundert, da zogen Zehntausende Glücksritter in die Großstädte der Industrialisierung: nach Berlin, München, Frankfurt, Wien, Zürich. Es waren Landflüchtlinge, die Arbeit suchten und meist auch fanden, irgendwie. Was sie nicht fanden, war eine eigene Wohnung, und so wurden die Neuankömmlinge zu sogenannten Schlafgängern: flüchtigen Existenzen, die sich stundenweise das Bett eines anderen Menschen mieteten, sich dieses Bett oft sogar noch schichtweise mit einem Kollegen teilten.
(Zitat: Rezension zu Schlafgänger auf Spiegel.de)

Eine fortlaufende, Handlung in Schlafgänger, der allseits bekannte Rote Faden, den gibt es in dieser Geschichte nicht. Zumindest nicht im klassischen Sinne. Auf den ersten Seiten erzählt eine Übersetzerin über einen Traum, den sie einmal im Schlaf erlebte. Sie berichtet auf eine bedrückend schöne art, wie sie träumte, dass das europäische Gebirge (in diesem Falle meint sie mit großer Wahrscheinlichkeit das Schweizer Gebirge) in sich zusammenbricht. Alles vor ihren Augen. Still schaut sie zu. Als hätte jemand den Ton ausgeschaltet. Beinahe wie in Zeitlupe bricht die ganze Szenerie in sich zusammen. Bereits nach dieser kurzen Einführung wird der Leser in eine Diskussion eingeladen, die sich beinahe auf 150 Seiten erstreckt. Eine Diskussion, von einer Gruppe anscheinend wahllos zusammengewürfelter Menschen, alle aus den unterschiedlichsten Berufen. Dabei ist die schon erwähnte Übersetzerin, ein Logistiker, ein Journalist, eine Schriftstellerin, eine Studentin (etc.).
Sie reden über Gott und die Welt, ihr Leben, ihre Träume, und natürlich die Heimat.
Lokalpatriotismus. Darum geht es ja auch irgendwie, liest man so zwischen den Zeilen.

Dorothee Elmigers Stil ist kühl und surreal gehalten, verpackt in einer wunderschönen Sprache. Für den Leser wird es manchmal schwer, den Geschehnissen zu folgen. Nur selten weiß man, wer gerade spricht, auch eine Chronologie scheint es nicht zu geben. In einer Zeile spricht A.L. Erika über eine Erinnerung aus ihrem Leben, in der nächsten Zeile spricht der Logistiker über einen Ort, an den er denkt, während aus heiterem Himmel ein Einwurf von Herr Boll erfolgt:

Der Ort, an den ich denke, sagte A.L. Erika, ist nicht über eine Straße zu erreichen, man gelangt nur zu Fuß oder auf Pferden dorthin.Der Ort, an den ich denke, sagte der Logistiker, ist ein Schwimmbad in einem mittelländischen Städchen, das große Becken ist blau gekachelt, das Wasser fast unberührt, noch kühl, aber direkt von der Sonne beleuchtet, sein leises Plätschern ist ganz friedlich, der Sommer hat jetzt begonnen oder geht schon dem Ende zu.
Der Ort, an den ich denke, ist wie gesagt ein Wald, sagte Herr Boll.

(Dorothee Elmiger, Schlafgänger, DuMont Buchverlag)

Aber keine Bange. All die Verwirrung, der geheimnisvolle Stil, ist gewollt von der Autorin. Man ist nicht dazu verpflichtet, alle Geschehnisse bestens interpretieren zu können, um Schlafgänger genießen zu können. Es ist sogar dieser sehr kryptische Stil, der die Geschichte erst ins Rollen bringt.
Man versucht die Charaktere und ihre Beziehungen untereinander zu verknüpfen. Aber es gelingt einem einfach nicht, diese Charaktere zu durchschauen.
Am meisten dabei haben mich die Erzählungen des Logistikers fasziniert. Auf eine sehr bedrückende weise berichtet der Logistiker aus seinem Leben. Er berichtet von seinen Reisen, von seiner Schlaflosigkeit. Er berichtet über Menschen in seiner Wohnung, die gar nicht da sein dürften. Das scheinen Phantome oder Geister zu sein. Und ganz unbeeindruckt nimmt er all diese Gestalten hin. Er akzeptiert sie, redet sogar mit ihnen. Hinter all den Ereignissen stecken natürlich auch politische Hintergründe. Es geht um Migranten/Flüchtlinge, Schmuggler. Neben den Protagonisten, die eine Diskussion führen, ergreifen in Schlafgänger immer mal wieder TV oder Radiomoderatoren das Wort. Die absichtliche Verwirrung des Lesers ist Dorothee Elmiger wirklich gelungen.


Resümee

Schlafgänger ist kein einfacher Roman. Es ist keine Geschichte, die man gemütlich nach dem Feierabend verspeist, wie man es vielleicht bei Stephen King oder Dan Brown tut. Schlafgänger muss man sich dosieren. Jeden Abend 20 Seiten, jedes Wort aufsaugen, und selbst ein wenig über die gelesenen Zeilen philosophieren.

Mit ihrem zweiten Roman beweist die junge Schweizerin Dorothee Elmiger, dass sie die deutsche Sprache nicht nur schön verpacken, sondern ihr auch eine Seele verleihen kann. Denn Schlafgänger ist ein Roman, den man in diesem Stil noch nicht so genau kennt. Es ist etwas exotisches, düsteres, befremdliches. Diesen Roman zu lesen kommt einer kleinen Reise gleich. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass man sich auf eine solch ungewöhnliche Reise auch einlassen kann.



Mein Dank für das außergewöhnliche Lesevergnügen geht an den DuMont Buchverlag, der mir ein Rezensionsexemplar zu Schlafgänger zur Verfügung gestellt hat.

Donnerstag, 3. April 2014

Saša Stanišić: Vor dem Fest (Rezension)




(Foto: Drew Farrell  Website: drewfarrell.com)



Deutschland 2014

Vor dem Fest
Autor: Saša Stanišić
Erscheinungsjahr: 2014, Luchterhand Literaturverlag
Genre:



"Der Fährmann ist tot, und die anderen Toten wundern sich, was soll ein Fährmann unter der Erde? Er hätte ordentlich im See bleiben sollen und gut.
Niemand sagt, ich bin der neue Fährmann. Die wenigen, die verstehen, dass wir unbedingt einen neuen Fährmann brauchen, verstehen nichts von Fähren. Oder davon, wie man Gewässer tröstet. Oder sie sind zu alt. Andere tun so, als hätten wir niemals einen Fährmann gehabt. Die dritten sagen: Der Fährmann ist tot, es lebe der Bootsverleih.
Der Fährmann ist tot, und niemand weiß, warum.
Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Und die Seen sind wieder wild und dunkel und schauen sich um."
(Saša Stanišić, Vor Dem Fest, Luchterhand Literaturverlag)

Saša Stanišić macht die deutsche Sprache wieder attraktiv. Ich wollte eigentlich erst Sexy schreiben, aber dann würde ich mich praktisch selbst ins Aus katapultieren, weshalb ich Attraktiv für die wesentlich geschmeidigere Bezeichnung für diesen Roman halte.
Eigentlich schon geplant im März, musste ich diese durchaus wichtige Rezension leider auf Anfang April verschieben. Dies soll aber diesen grandiosen Roman nicht schmälern, wenn bei mir die Technik nicht mitspielt.

Der Gewinner des diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik galt von vornherein als Geheimfavorit. Das Saša Stanišić dennoch den Preis für sein exotisches wie außergewöhnliches Werk erhält, dürfte eine freudige Überraschung für viele Fans des noch jungen Autors gewesen sein. Mit seinem Erstling Wie der Soldat das Grammofon repariert erntete der talentierte Autor bosnischer Herkunft 2006 viel Anerkennung. Schaut man sich Interviews auf YouTube von Saša Stanišić an, so könnte man den Autor beinahe als schüchtern und zurückhaltend bezeichnen. Ein sehr sympathischer Mann, und wenn man genau hinhört, dann hört man noch den leichten Akzent aus der Heimat. Ein so komplexes Werk wie Vor dem Fest würde man ihm nicht unbedingt zutrauen. Vielleicht denken einige sogar, der Autor sei noch ein wenig Grün hinter den Ohren. Doch all diese Zweifel verpuffen in Rauch sobald man die ersten Zeilen dieser Geschichte liest:

"Wir sind Traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm man, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben."
(Saša Stanišić, Vor dem Fest, Luchterhand Literaturverlag)

Der Beginn dieser Geschichte dürfte verwirrend, seltsam und völlig zusammenhangslos erscheinen. Aber, es ist sofort diese Sprachgewalt, die einen in den Bann dieses Buches zieht. Allmählich, liest man sich durch die ersten Seiten, befreit Saša Stanišić uns aus diesem dichten Nebel und macht uns klar, worum es in dieser Geschichte ungefähr gehen wird, ohne dabei zu viel zu verraten. Er stellt uns die eigenwilligen Protagonisten vor, er bereitet uns auf ein kleines Abenteuer vor. Ein Abenteuer welches in der Uckermark spielt, in einem kleinen, beinahe unscheinbaren Dorf, umgeben von Wäldern und Seen, Fürstenfelde. Ich musste mich natürlich erst einmal informieren, da ich absolut keine Ahnung hatte wo Fürstenfelde überhaupt liegt. Nach meiner Recherche, und ich glaube ich liege richtig damit, gehört dieses idyllische Dörfchen bereits zu Polen und hört dort auf den Namen Boleszkowice (gehörte bis Kriegsende zu Brandenburg). In dieses kleine Dorf entführt uns der Autor, und man kommt sich vor, als würden die Ereignisse in einem ganz anderen Land spielen. In diesem Dorf werden wir auf ein bevorstehendes Fest vorbereitet, welches jedes Jahr, ganz traditionell zum Ende des Sommers, von den Anwohnern veranstaltet wird. In diesem Jahr scheint aber etwas anders zu sein, nicht nur ist der Fährmann des Dorfes verstorben, es geraten auch noch Ereignisse ins Rollen, mit denen keiner der Dorfbewohner je gerechnet hätte.


(Fürstenfelde)


Wer die Rezensionen auf diesem Blog verfolgt, dem wird vielleicht etwas auffallen. Zum einen fehlt das Genre in der Kurzbeschreibung, zum anderen hätte längst etwas zum Inhalt erwähnt werden müssen. An diesen Punkten bin ich jedoch gescheitert. Wieso? Nun, ein Genre will mir partout nicht einfallen, und eine Inhaltsangabe würde nicht nur sämtliche Überraschung nehmen, sondern wäre auch zu komplex und würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Ich möchte es diesmal dabei belassen und am Gesamteindruck wird das selbstverständlich nichts ändern. Aber das sollte nur einmal deutlich machen, wie tiefgründig Vor dem Fest doch ist. Dabei nimmt sich Autor Saša Stanišić niemals zu wichtig. Im Gegenteil. Trotz der vielen unterschiedlichen Schreibstile (von Altdeutsch bis hin zum Modernen Slang der heutigen Jugend) ist die Sprache immer verständlich. Selten hatte ein deutscher Roman in vergangener Zeit so eine Aussagekraft wie Vor dem Fest. Und das ist etwas, was mich wirklich beeindruckt hat. Man muss im komplizierten Umgang mit der deutschen Sprache recht sicher sein, um so etwas zu kreieren. Ein fremdsprachiger Übersetzer hätte hier wahrlich eine Mammutaufgabe vor sich, die Sprache und die Wortspiele halbwegs anständig zu übersetzen.

Und da wäre ich bei den Wortspielen angekommen. Zwar steckt die Geschichte, die in Vor dem Fest erzählt wird, in einem ernsten Kern, der herrlich trockene Humor kommt aber nicht einmal zu kurz. Die markanten Charaktere hauen einen Brüller nach dem anderen raus. Tränen gelacht habe ich bei der Rückblende des ehemaligen Oberstleutnant Schramm, die sich in einer Sauna abspielt. Die Situationskomik mit dem usbekischen General Trunov ist genial dargestellt, so genial, dass ich die Szene bildlich vor Augen hatte. Hier ein kleiner Auszug aus dieser recht umfangreichen Rückblende:

"In der Sauna hatte er neben Trunov gesessen. Drehte er den Kopf, konnte er Trunovs Schulter riechen. General Trunovs Schulter roch nach der der erfolgreichen Verteidigung eines Brückenkopfs gegen einen dreimal stärkeren Gegner. Schramm roch Steppengras und Pferdeflanken, roch Afghanistan, roch Tänze mit usbekischen Dorfschönheiten."
(Saša Stanišić, Vor dem Fest, Luchterhand Literaturverlag)

Aber egal ob Oberstleutnant Schramm, Burkhard Imboden oder Lada. Sie alle sind echte Unikate, sie alle haben ihre Klischees so wie wir Deutschen halt unsere Klischees haben. Das macht die absurden Aktionen in dieser Geschichte erst einmal so authentisch. Ohne diesen herrlichen Humor würde Vor dem Fest auch gar nicht so brillant funktionieren. Die eigentliche Stärke in dem Humor liegt aber darin, dass in all den kleinen Geschichten immer auch ein ernster Untertont versteckt ist.


Resümee 

Zwischen Lokalpatriotismus, Heimatverbundenheit, Sky Bundesliga, Sexy Sport Clips und dem feiern von Festen, irgendwo zwischen diesen Kategorien kann man Saša Stanišić "Vor dem Fest" ansiedeln.
Der Autor schlüpft hier gleich in mehrere Rollen. Zeitzeuge, Dramatiker, Humorist oder auch Märchenerzähler. All das porträtiert Saša Stanišić in seinem zweiten Roman. Das ist eine beachtliche Leistung, und auch wenn ich die Werke seiner Mitkonkurrenten der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik nicht gelesen habe, so kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass es in diesem Jahr ein außergewöhnlicheres Werk als "Vor dem Fest" gab. Ich gönne Saša Stanišić diesen Erfolg und hoffe, dass er uns noch weiter mit so einer Sprachgewalt begeistern wird. Ich habe den Auslug nach Fürstenfelde in keiner Sekunde bereut. Eine ganz große Empfehlung.


Mein Dank geht an den Luchterhand Literaturverlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.