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Mittwoch, 20. Juni 2012

Rezension: Michael Weins, Delfinarium




Delfinarium
Autor: Michael Weins
Alternativtitel: Die Delfinfrau
Erscheinungsjahr: 2009
Verlag: Mairisch
Genre: Jugendliteratur, Mystery



Ich schaue Susann an. Ich kann ihr Gesicht nicht richtig erkennen. Ich frage mich, ob sie das kennt, dass man vor einem Kornfeld steht und den Duft riecht, inhaliert, man fühlt sich weit und offen, man guckt in die untergehende Sonne und fühlt Sehnsucht, erinnert sich wehmütig an vergangene Sommer, als man irgendwie noch dichter dran, noch glücklicher war, noch enger, wahrer, aber es ist unwiederbringlich vergangen: Man steht von einer sanft schmerzenden Sehnsucht erfüllt und man denkt, dass die früheren Sommer irgendwie besser waren, erfüllter, damals war man noch ein Kind oder ein Jugendlicher und man lief irgendwo in den Ferien barfuß die staubigen Feldwege entlang, es wurde Abend und man stand am Rand des Kornfelds und alles war Licht und Freiheit und Heimat und Geruch, aber dann fällt einem ein, dass man auch damals schon Sehnsucht nach etwas Vergangenem hatte, als man am Feldrand saß und atmete, und wenn man sich wirklich ganz genau erinnert, weiß man eigentlich, dass man sich auch damals wehmütig an noch weiter zurückliegende Sommer und Kornfelder erinnerte. Dass es wohl immer so sein wird, dass man dasteht und sich nach etwas sehnt, das nicht da ist, dass Kornfelder einfach immer Sehnsucht auslösen, genau wie das Meer, man hat immer Sehnsucht, wenn man auf das Meer blickt, man kann gar nicht sagen, wonach oder wozu. (Aus: Delfinarium, Michael Weins, Mairisch Verlag)

Es ist schwer, sich für ein Zitat aus Delfinarium zu entscheiden. Denn es gibt beinahe auf jeder Seite eines, welches man problemlos zum zitieren benutzen könnte. Michael Weins gehört, ohne Frage, zu den ganz großen Poeten der deutschen Sprache. Auch alleine aus dem Grund, weil sich seine Texte so locker und unkompliziert lesen. Und dann übermittelt er auch noch eine ganz besondere, kaum zu beschreibende Philosophie, die in dieser Form eigentlich nur der japanische Schriftsteller Haruki Murakami zu übermitteln weiß. Bei Weins rätselt man über seltsame Dinge, man weint, man lacht oder man schwelgt einfach in Erinnerungen. Doch genau wie das von mir ausgewählte Zitat gilt: Nach welchen Erinnerungen schwelgt man eigentlich? Ich empfand bei Delfinarium unglaubliches Fernweh. Vermutlich nach einer Welt, die gar nicht existiert. Und obwohl Delfinarium sehr leicht zugänglich ist, wird an diesem exotischen Werk vermutlich nicht jeder gefallen finden. Es ist ein Roman für eine ganz spezielle Generation. Für die unentschlossenen und die Tagträumer. Für eine Generation, die nach eben jenem Alten Land sucht, von dem Weins in seinem Roman berichtet. Es ist ein kleines Märchen über einen jungen Mann, der nach seinem Platz in der Gesellschaft sucht, und sich bisher einfach nur hoffnungslos verloren fühlt.

Protagonist der Geschichte ist der zwanzigjährige Daniel Martin. Daniel lebt, gemeinsam mit seinem Vater, der in einer tiefen Midlifecrisis steckt, in einem verschlafenen Dorf in Hamburg. Die Idylle ist perfekt. Die Elbe ist in Reichweite, Obstbauern besiedeln das Land. Aber die Idylle trübt. Die Airbus Gesellschaft will das Land plätten. Die Felder müssten zum Beispiel einer Landebahn weichen. Natürlich würden die Anwohner großzügig von der Gesellschaft entschädigt werden. Während im Dorf eine riesige Debatte herrscht, in der es um Tradition und Moderne geht, möchte sich Daniel aus all den komplizierten Dingen, mit denen sich die Erwachsenen rumplagen, raushalten. Sein eigenes Leben ist bereits kompliziert genug. Was Daniel jedoch noch nicht ahnen kann, ihn erwartet der Sommer seines Lebens. Eine unfassbare Geschichte wartet auf ihn. Als er ahnungslos den Job annimmt, sich um eine geistig verwirrte Frau zu kümmern, werden Geschehnisse in Gang gesetzt, die nicht mehr aufzuhalten sind. Daniel soll sich um Susann Windgassen kümmern. Susann erlitt durch Komplikationen bei der Geburt ihres Kindes einen mentalen Schaden. Seitdem spricht sie nicht mehr, scheint geistesabwesend zu sein. Daniels Misere beginnt bereits, als er sich lediglich bei Henry Windgassen, dem Ehemann von Susann, vorstellt. Durch eine Verwechslung ist Daniel Martin fortan unter Martin Daniel bekannt. Er soll Susann ausführen. Henry ist mit dem Kind und seinem Job bereits überfordert. Die Bezahlung sei gut, er müsse Susann eigentlich auch nur ins Delfinarium im Zoo begleiten. Denn seit dem Vorfall fährt sie total auf Delfine ab. Beinahe schon fanatisch.
Eines Tages im Zoo, als Daniel Susann kurz alleine lässt, näher sich ihr ein unbekannter Mann. Daniel eilt herbei und fragt, was der Mann möchte. Der geheimnisvolle Unbekannte stellt sich als Max Braun vor, und behauptet tatsächlich, Susann sei seine verschwundene Ehefrau Marie. Und tatsächlich liefert er Beweise, denen Daniel kaum widersprechen kann. Daniel will der Sache auf den Grund gehen. Gemeinsam mit seiner guten Freundin Petra will der das Mysterium lösen. Ist Susann wirklich Marie? Welcher der beiden Ehemänner tischt Daniel ein Märchen auf? Und wäre die Geschichte nicht schon kompliziert genug, beginnt Daniel, Gefühle für Susann zu entwickeln. Für alle Beteiligten steht eine surreale Reise durch ein geheimnisvolles Hamburg an. Und wer weiß, vielleicht hat der Oberalte des Alten Landes ja eine Lösung für all die Geschehnisse.

Es ist kein Geheimnis, Michael Weins liest Murakami. Das Zitat zur Eröffnung in seinem dritten Roman Lazyboy stammt aus Hard Boiled Wonderland und das Ende der Welt.
Und genau so sehr finden sich in Delfinarium teilweise Elemente aus Kafka am Strand.
Allerdings ist Weins kein Dieb oder Möchtegern. Sein eigener Still ist stets zu lesen. Er benutzt Murakami als Vorbild. Das war es auch schon. Alleine das reicht aber bereits aus, um ein außergewöhnliches Werk zu erschaffen. Und das liegt ganz besonders daran, wie Weins sein Hamburg beschreibt. Für Weins ist es das Alte Land. Als Schauplatz dient eine verschlafenes Dorf an der Elbe. Weins Beschreibungen lesen sich, als würde er über einen Ort am anderen Ende der Welt berichten. Es ist eine Eigenschaft, die ich bei so vielen deutschen Autoren vermisse. Ich fühle mich selten verbundenen mit deutschen Orten. Dabei muss ein Autor auch immer in gewissen Maßen ein Lokalpatriot sein. Und hier punktete Weins das erste mal bei mir. Ich konnte das Meer förmlich riechen, hörte es rauschen. Und inmitten dieser seltsamen Welt, befindet sich ein zwanzigjähriger Junge. Und da erwischte mich Weins zum zweiten mal. Denn beinahe immer wieder fand ich mich selbst in Daniel wieder. Daniel fühlt sich verloren. Mit der Schule hat er längst abgeschlossen. Hat sich Pläne gemacht, sie aber nie in die Tat umgesetzt. Er möchte sich am liebsten aus allen Angelegenheit heraushalten. Er kann nie für eine Sache Partei ergreifen. Kann sich nicht auf eine Seite stellen. Er kann sowohl die Ansichten der Anwohner, als aber auch jene von Airbus nachvollziehen.
Bei seinem, wie er vermutet, einfachen Nebenjob, wird er aber, ob er will oder nicht, vor großen Entscheidungen gestellt. Das geht so weit, bis Daniel völlig die Kontrolle über sein Handeln verliert.
Nicht einmal seine langjährige Freundin Petra, die das komplette Gegenteil seines Charakters darstellt, hat noch die Möglichkeit, ihn von seinen Entscheidungen abzuhalten.

Weins studierte Psychologie. Nach dem, was ich so las, übt er sogar den Beruf des Psychologen aus. Und seinen Charakteren sieht man seine berufliche Herkunft immer wieder an. Sie haben alle ihre Probleme. Kein Charakter ist auch nur in irgendeiner Form normal. Kein Charakter? Das wäre falsch. Die normalste Person von allen Charakteren ist in dieser Geschichte Susann/Marie. Nur sie ist in der Lage, frei zu denken. Unabhängig zu sein. Sie geht einfach ihren Weg. Auch wenn sie nicht sprechen kann, und geistig verwirrt zu sein scheint. Aber die Frage ist viel mehr, die man sich vermutlich auch am Ende stellt, spielt sie diese Rolle vielleicht sogar nur? Vielleicht hat Susann ganz einfach aufgehört, an dieser Welt teilzuhaben. Worauf ich hinaus will, Weins entwirft Charaktere mit schweren Lastern, die aber beinahe hauptsächlich aus Alltagssorgen bestehen. Diese können irgendwann so enorm werden, dass sich vielleicht einer dieser Personen denkt: Hm, wieso sollte ich dieses Spiel überhaupt weiterspielen? Ich sehen da keinen Sinn drin.
Praktisch ergeht es uns allen so. Mir würde spontan keine Person in meinem Umfeld einfallen, die wirklich völlig sorgenfrei lebt. Wir alle tragen halt unsere Zwänge und Laster.
Trotzdem schafft es Michael Weins immer, den Leser zu unterhalten. Es ist der trockene Humor, die Situationskomik, die trotz der ernsten Thematik dem Leser immer ein Lächeln stehlen kann.


Eine melancholische Geschichte über das Fernweh

Ein ganz großes Lob geht an den Mairisch Verlag. Der kleine unabhängige Verlag aus Hamburg macht deutsche Literatur wieder salonfähig. Modern und, ganz wichtig, jung. Michael Weins ist kein Teenager mehr, aber er spricht die Sprache aller jungen Leute, die in irgendeiner Weise auf der Suche nach ihrem Lebensinhalt sind. Delfinarium ist eine verträumte Geschichte. Und das Ende dieser Geschichte verbreitete eine liebliche Melancholie in mir. Der sympathische Hamburger hat seiner Stadt eine einmalige Liebeserklärung gewidmet. Das Alte Land scheint gar nicht so fern zu sein. Ich glaube sogar fest daran, dass es existiert. Wir alle sind vermutlich auf der Suche nach diesem Ort. Und genau wie Daniel aus dem Roman, der erst ganz am Ende allmählich sein Schicksal akzeptiert, so müssen auch wir erst unser persönliches Altes Land  finden, um unsere Bestimmung endlich zu akzeptieren.
Um all die schweren Worte mal kompakt zusammenzufassen: Delfinarium ist ganz große Literatur. Auf etwas über 200 Seiten erfahren wir viel über die verschiedensten Menschen und ihre Sorgen. Und vermutlich wird sich jeder Leser in einen von Weins Charakteren wiederfinden. Und wenn wir dann plötzlich einen mysteriösen sowie schweigsamen Hund treffen, der uns auf leisen Pfoten folgt, oder auf einem einsamen Landweg den Oberalten vom Alten Land  treffen, wissen wir, bald haben wir das Ziel unserer Bestimmung gefunden. Aber bis dahin können wir uns ja auch noch ein wenig die Zeit vertreiben. Und mit solch guter Literatur ist das gar nicht mal so schwer.


Wertung: Fünf Dante (Sehr Gut)


Ich starre auf dieses gezähmte Meer hinaus und sehe nichts. Ich denke daran, dass, wenn ich nur weit genug schwimmen würde, irgendwann Skandinavien käme, Schweden und Finnland. Und noch weiter nach Osten liegt das Baltikum und von dort ginge es immer weiter bis nach Russland. Wie bei Raumschiff Enterprise: Unendliche Weiten. Ein Typ wie ich braucht dafür noch nicht einmal ein Weltall, da reicht schon die Ostsee. Ich stehe hier, und hier ist der Punkt, an dem sich die Welt nach Osten öffnet. (Aus: Delfinarium, Michael Weins, Mairisch Verlag)

Anmerkung:


Ich mache mit meiner Arbeit auf meinem Blog keinen Profit. Daher ist die Werbung, die jetzt kommt, völlig ungezwungen.

Alle Interessenten, die solch eine Literatur anspricht, sollten sich bei dem Mairisch Verlag mal genauer umsehen. Unterstützt den Verlag und seine Autoren. Lesungen finden meistens in Hamburg statt. Genauere Informationen findet ihr aber auf der Website.

Link: Mairisch Verlag

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