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Mittwoch, 15. Februar 2012

Rezension: Rückkehr nach Reykjavik: Steinar Bragi, Frauen




Autor: Steinar Bragi
Originaltitel: Konur
Erscheinungsjahr: 2009 (Island), 2011 (Deutschland, Antje Kunstmann Verlag)
Übersetzung: Kristof Magnusson
Genre: Mystery, Horror, Drama


"Er spreizte die Beine ein wenig, ließ den Kopf nach hinten fallen und starrte nun direkt an die Decke, in die Kamera - als ob er wüsste, dass ich zusehe. Dann schloss er die Augen, sein Körper zuckte oder sie bildete sich das zumindest ein, dann spritzte etwas Weißes hervor. Wenig später streckte er sich, knöpfte die Hose wieder zu, setzte sich auf und wandte sich wieder dem Computer zu."


Das kleine, gar nicht mal so unbedeutende Island, hat mich nun bereits zum zweiten mal in seine Hauptstadt eingeladen. Filmisch erstmals mit dem Slasher Reykjavik Whale Watching Massacre. Leider war der Film ein Schuss in den Ofen, wenn auch keine Katastrophe. Zumindest war es ein einigermaßen witziger Ausflug. Literarisch entführt einen Steinar Bragi da in ein ganz anderes Island.
Island macht auf sich aufmerksam. 2011 war das kleine Land, und ich bin mir sicher, das viele Europäer es immer noch nicht kennen, Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. Der Autor war samt Deutschen Übersetzer Kristof Magnusson (ja, der Autor Kristof Magnusson) anwesend.


Der Kunstmann Verlag war mutig genug das eigenwillige Werk ins Programm aufzunehmen.
Bragis Roman hat International durchaus für Furore gesorgt. Die Kritik war eine bunte Mischung aus Begeisterung und Empörung. Und die Empörung kam nicht nur von der femininen Fraktion.
Für sein Land werben, das geht eigentlich anders. Bragis Reykjavik ist ein düsterer, finsterer und unrealer Ort an den eigentlich niemand freiwillig hin möchte. Und doch faszinierte mich diese teils extrem surreale Geschichte sehr. Auf der anderen Seite fand ich sie aber auch irgendwie absurd. Ich für meinen Teil kann das Buch weder lieben, noch hassen. Eine Hassliebe ist es aber auch nicht. Um es kurz zu machen: Hätte es mir nicht auf irgendeine Weise gut gefallen, würde Frauen vermutlich, zur Hälfte gelesen, in einer Ecke verstauben.

Doch was kann man von einem Titel erwarten, der ganz schlicht Frauen heißt? Zumal viele Kenner der Originalausgabe vermutlich an Stieg Larssons Verblendung denken müssen. Ähnelt sich das Schwedische Frauen (Kvinnor) sehr mit dem Isländischen (Konur). Lautet Larssons Buch im Original folgendermaßen: Män som hatar Kvinnor. Männer, die Frauen hassen (Deutsch: Verblendung). Liest man den Titel, Inhalt und die ersten Seiten von Bragis Roman, könnte man meinen, hier will jemand einen ähnlichen Erfolg erzielen.
Hat man Frauen aber gelesen, wird man spätestens dann, nach der letzten Zeile, bemerken, zwischen diesen beiden nordischen Romanen liegen Planeten. Ungefähr gleichzusetzen mit einer Entfernung von unserer geliebten Erde zum fernen Jupiter. Das Larsson hier der irdische Autor ist, dürfte ebenfalls nach dem Lesen klar werden.

In Frauen spielt Steinar Bragi mit seinen Lesern. Nicht nur die isländische Wirtschaft muss dran glauben, auch Männlein und Weiblein, die allesamt auf das primitivste dargestellt werden, kommen in der Geschichte nicht gut weg. Verschont wird in Bragis Roman niemand. Provokant behaftet er dabei sämtliche Charaktere mit sämtlichen Klischees. Seine Protagonistin ist Eva Einarsdottir, eine junge Dokumentar Filmerin. Bereits in jungen Jahren hat sie mit ihrem Vater ihre Heimat Island verlassen und lebte fortan in den Vereinigten Staaten. Dort lernte sie auch ihre große Liebe, einen Landsmann namens Hrafn, kennen. Während Eva eine Karriere in den USA anstrebt, spielt Hrafn jedoch mit dem Gedanken nach Island zurück zu kehren. Eva verfällt immer mehr dem Alkohol. Die ständigen Streitigkeiten mit ihrem Ehemann zerren an ihren Nerven. Als ihre gemeinsame Tochter später an Kindstod verstirbt, bricht für beide endgültig die Ehe auseinander. Doch Eva kann nicht loslassen. Sie folgt Hrafn bis nach Island. Will versuchen die Ehe aufrecht zu erhalten und reitet sich bei diesem Versuch immer weiter ins persönliche Verderben. In Island ist Eva komplett allein. Einsam in ihrer Heimat, ein für sie fremdes Land, das wie sie selbst, in einer Krise steckt.  In Reykjavik wartet jedoch eine sehr komfortable, und vor allem kostenfreie Unterkunft auf Eva. In den USA vertraute sie sich dem charmanten Banker Emil an (ebenfalls ein Landsmann), den sie um finanzielle Unterstützung für ein Filmprojekt bat. Als Emil von Evas persönlicher Lage erfährt, bietet dieser ihr ein komplett eingerichtetes Penthouse-Zimmer als temporäre Unterkunft an. Da die Mieterin derzeit verreist sei, brauche Eva sich lediglich um die dort heimische Katze kümmern. Ein verlockendes Angebot, auch wenn sie Emil nicht so ganz traut. Doch aus Verzweifelung nimmt sie das Angebot an. Im Luxus Penthouse könne sie in aller Ruhe überlegen, wie sie Hrafn zurück gewinnen kann. Doch scheinen in diesem Penthouse seltsame Dinge vorzugehen wie Eva Tage später am eigenem Leibe erfahren muss. Die Mitbewohner scheinen allesamt verschroben und skurril zu sein. Die eigentliche Mieterin soll vor längerer Zeit Selbstmord begangen haben. Die Katze scheint unauffindbar. Und dann wäre da noch diese eigenartige Einkerbung mit der Form einer Maske in Evas Schlafzimmer. Evas Ritt in die Hölle nimmt seinen Lauf. Und am Ende wird sie kaum noch wissen ob sie träumt oder längst Tod ist. Eva wird spüren, aus diesem Penthouse wird es kein Entkommen geben.

Den Inhalt wiederzugeben ist äußerst schwer. Die Geschichte ist vollgepackt mit Mysterien und Seltsamkeiten. Schräge Charaktere und Albträume spinnt Bragi wie eine Spinne ihre Netze.
Dabei beginnt Frauen äußerst ruhig. Beinahe könnte man den Roman als ein Twin-Peaks mit Thriller Elementen bezeichnen. So einfach ist das aber nicht, wie es Anfangs noch scheint. Das Buch ist aufgeteilt in zwei Hälften und vielen kleinen Kapiteln. Nach der ersten Hälfte wird man bereits vergeblich nach Lösungen suchen, die Story logisch aufzuklären. Konfrontiert wird man mit Themen wie Angst, Paranoia, Alkoholismus und Vergewaltigung. Männer und Frauen werden auf ihre niedrigsten Triebe reduziert. In diesem Roman gibt es keine netten Menschen.

Aber was genau geht denn da vor sich? Wieso kann Eva ihr Apartment nicht verlassen? Warum geschehen all diese Merkwürdigen Dinge? Ist das eine Reise in Evas kaputtes Unterbewusstsein? Ein wenig erinnerte mich Eva an einen weiblichen Shinji Ikari (Neon Genesis Evangelion, TV Serie Japan 1995). Geplagt von Selbstzweifel und, ganz besonders, Selbstmitleid. Eva, die nie über den Tod ihrer Mutter hinweg kam, und nun auch ihre Tochter verloren hat, und in Trennung mit ihrem Ehemann lebt, erleidet an jeder Straßenecke ein weiteres tragisches Schicksal, welches sie hinnehmen muss. Das geht so weit, bis sie bei einem Spaziergang am Haus ihrer ehemaligen Therapeutin Sigurlina entlang marschiert. Sigurlina trägt ebenfalls den Nachnamen Einarsdottir. Ob die beiden Frauen wirklich miteinander verwandt sind verrät uns Bragi allerdings nicht (zumindest meine ich nichts derartiges gelesen zu haben).  Bei Sigurlina scheint sich jedoch einiges geändert zu haben. Ein älterer Herr berichtet ihr, momentan seien keine Plätze für neue Patienten frei.

Eva ertrinkt ihre Sorgen in Alkohol. Versucht aber immer wieder sich aufzuraffen. Versucht, eine Beziehung zu den allesamt suspekten Bewohnern des Penthouse aufzubauen. Allen voran, die alte Bergthora. Diese scheint jedoch mehr zu wissen als sie vorgibt. Der große Wendepunkt kommt schließlich dann, wenn Eva in dem mysteriösen Apartment eingesperrt wird. Von diesem Punkt an verliert die Geschichte jeden Hang zur Realität. Steinar Bragi baut ein Albtraum Szenario vom feinsten auf. Der Leser wird verfrachtet in eine Welt voll Paranoia und Wahnsinn.

Viele Male scheint es, dass hinter all dem Wahnsinn der Skandal-Künstler Joseph Novak stecken könnte. Dieser wird in der Geschichte meistens nur in Interviews erwähnt und zitiert. Ob er tatsächlich jemals in der Realität auftaucht bleibt fraglich wie so viele andere Rätsel in dem Roman. Die Passagen mit Novak als geheimen Antagonisten sind Bragi einfach wunderbar gelungen. Als ich diese Zeilen las, hatte ich manchmal das Gefühl, als würde gerade ein Film von David Lynch laufen.
Genau so vielseitig wie die Geschichte, entpuppt sich später auch der Titel der Geschichte. Frauen. Wer ist damit eigentlich gemeint? Handelt es sich um ein Kunstwerk von Novak? Geht es um Frauen im Allgemeinen? Oder bezieht man sich lediglich auf einen Zeitungsbericht, den Eva über eine E-Mail erhält. Dies und vieles mehr muss der rätselnde Leser für sich selbst heraus finden. Ob er jemals Antworten finden wird, darf aber bezweifelt werden.

Bragi schafft es, eine sehr mysteriöse Atmosphäre aufzubauen. So manche Ekel-Einlage hätte er sich dabei sparen können. Zu oft übertreibt Bragi leider bei der Beschreibung der jeweiligen Situationen. Manchmal verlangt einem eine Szenerie einfach zu viel Fantasie ab. Dabei habe ich übrigens nicht Magnussons deutsche Übersetzung in Verdacht, sondern einfach Bragis verschrobene Gedankenwelt. Ich hatte des öfteren ziemliche Probleme, mir so manche Szenarien bildlich vorzustellen.

Gegen Ende driften einige Mini-Kapitel zu sehr ins Absurde ab. Manche Kapitel wirken auch einfach wie Füllmaterial, welches den Roman länger erscheinen lassen soll. An einigen Stellen war ich teilweise sogar genervt und fand schwer die Konzentration, das Lesen fortzusetzen. Allerdings hielten sich diese Füller auch in Grenzen.

Wer am Ende meint, Antworten zu bekommen, den kann ich bereits jetzt enttäuschen. Steinar Bragi macht sich gar nicht erst die Mühe, irgendein Szenario (und es gibt so verdammt viele in dieser Geschichte) in dem etwas über 250 Seiten langen Roman aufzuklären. Frauen ist ein Trip in die Hölle. Eine Irrfahrt in die tiefsten Abgründe der Menschen. Die Geschichte verlangt viel von seinem Leser. Zurückgeben wird sie einem am Ende nichts. Doch vermutlich ist das auch besser so. Wer braucht absurde Antworten zu genau so absurden Fragen? Vermutlich wird der Autor selbst diese Absurditäten nicht erklären können.


Trotz einiger Schwächen gegen Ende, und das hohe Maß an Konzentration und Vorstellungskraft, die der Roman einen abverlangt, war Frauen das wohl außergewöhnlichste literarische Ereignis bisher für mich. Allmählich werde ich wohl warm mit der isländischen Philosophie. Auch wenn ich sie noch nicht ganz irgendwo einordnen kann. Meine Rezension deckt vermutlich nicht einmal 20 Prozent des Inhalts ab, der eigentlich besprochen werden müsste.


Frauen ist ein Roman, der einen bis zum Ende und darüber hinaus im ungewissen lässt. Man hat zwei Möglichkeiten. Entweder denkt man weiter über das Geschehene nach, oder schließt mit dem Roman möglichst schnell ab. Theoretisch ist es eigentlich auch unmöglich, Frauen zu bewerten. Ich kann einen Punkt, oder gleich fünf vergeben. Es würde kaum einen Unterschied machen. Aber ich dachte mir, das es vielleicht einen Kompromiss gibt. Und so bin ich auch mit meiner Wertung mittlerweile einverstanden.


Für all die Leser, die sich an Frauen wagen werden, sich trauen werden, wünsche ich jetzt schon einmal viel Glück. Euch wird ein außergewöhnliches, literarisches Erlebnis erwarten.



Wertung: 3 Dante.

Anhang:

Wer Steinar Bragi mal ganz privat, in einem inhaltslosen Video sehen will, dessen Wunsch wird sich nun erfüllen.

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