Ich schreibe, um mir die Zeit zu vertreiben. Es entspannt mich. Da ich sie eigentlich nicht verstauben lassen möchte, werde ich sie hier auf meinem Blog veröffentlichen, der fortan auch meine eigenen Geschichten sammeln wird.
Die Winter in Okinawa sind mild, ist eine kleine Erzählung. Wenn ich überhaupt mal ein eigenes Werk von mir präsentiere ist es meist diese Geschichte. Das liegt vermutlich daran das es meine einzige Erzählung ist, die man als persönlich bezeichnen könnte. Sie basiert nämlich teilweise auf einem Traum.
Die Winter in Okinawa sind mild
Etwas schläfrig vergrabe ich mich in die Seiten meines Buches. Ich lese Shutter Island von Dennis Lehane. Spannende Geschichte. Ich werde es ganz sicher kaufen. Doch eine Buchhandlung hat auch immer irgendwie etwas magisches an sich. Ich bleibe meistens über eine Stunde in der gemütlich eingerichteten Lese-Lounge sitzen. Man kann, zumindest in der Woche, entspannt in ein Buch reinlesen und sich dabei auf diesen komfortablen Sitzen zurücklehnen. Nach einigen Seiten wandert mein Blick aus dem riesigen Fenster vor mir und trifft die langweilige und ziemlich verschneite Dortmunder Skyline. Tatsächlich ist es der Schnee, der den Anblick von hier sogar etwas romantisch erscheinen lässt. Wieso schneit es eigentlich? Mir kommt es vor, als hätte ich den Sommer verschlafen. Nach einem kurzen Seufzer vertiefe ich mich wieder in die Geschichte des US Marshalls Teddy Daniels und seinen Ausflug ins Irrenhaus.
Die Plätze sind gut besetzt. In der Runde sitzen mit mir, ebenfalls vertieft in ihren Büchern, drei andere Leute. Allesamt Langweiler. Möchtegern intellektuelle in ihren Vierzigern.
Ich habe mitlerweile fünfzig Seiten gelesen und jegliches Zeitgefühl verloren. Ich entscheide mich nach dem kommenden Absatz das Buch zu kaufen. Anschließend werde ich den Heimweg antreten. Wie auf Kommando vernehme ich plötzlich einen Duft der mich völlig benebelt. Ich schaffe es nicht ihn zuzuordnen, aber er wirkt geradezu betäubend und wohltuend auf meine Sinne. Wer könnte das sein? Nicht der übliche Duft eines langweiligen Möchtegern Intellektuellen in seinen Vierzigern, so viel ist sicher. Ich senke ein wenig das Buch und bemerke, dass eine junge Frau sich den fünften Platz geschnappt hat. Ein Kribbeln umgibt meine Bauchgegend. Mein Blick trifft sie. Da sitzt nun, genau vor mir, ein echter Blickfang. Doch sie ist viel mehr als das. Meine Gedanken können sich gerade nur noch nicht richtig ordnen weil sie so benebelt von jenem Duft sind. Meine Sinne spielen nun völlig verrückt. Sie zieht ihren mit Schnee bedeckten roten Mantel aus und legt ihn über den Sitz. Sie nimmt Platz und ich kann ihre beinahe schon irreale Schönheit in voller Pracht geniessen. Sie trägt langes, glattes Haar welches weit über ihre Schultern hinaus verläuft. Es ist dunkelblond, gepflegt und gleicht Seide. Ihr Gesicht wirkt unschuldig, gebildet und völlig entschlossen. Eine stilvolle Brille rundet ihr perfektes Gesicht ab. Ihre Kleidung, schlicht und trotzdem modern. Ein Rollkragenpullover in weiß und eine dazupassende Jeans. Sie ist schlank und scheint nur um die 1,60 Meter groß. Ihre kleinen zarten Hände berühren das Buch welches sie in ihren Händen hält. Doch was liest sie da eigentlich? Meine Augen wollen mir diese Information nicht liefern weil sie so auf diese Frau fixiert sind. Ich schlucke. Das bringt meine Pläne völlig durcheinander. Was wollte ich überhaupt erledigen? Vernunft, melde dich, Bitte!
Genau! Es war das Buch. Ich muss damit zur Kasse und es bezahlen. Der Versuch aufzustehen scheitert jedoch.
„Das war zu erwarten“, meldet sich Kitano zu Wort.
Das ging gerade nochmal gut. Der Kerl hat einfach ein perfektes Timing. Mit Kitano an meiner Seite kann ich diese Situation meistern.
Ohne dass sie auch nur etwas bemerkt, starre ich sie an, wie ein Kleinkind das vor einem Spielzeug steht welches es sich nicht leisten kann. Ihre Augen, ihre Nase und ihre Lippen machen sie perfekt. Dieses unerträgliche Verlangen diese Lippen sofort zu berühren und zu küssen macht mich wahnsinnig. Wieso sagt Kitano nichts mehr? Ich bin auf seinen Rat angewiesen. Was war denn zu erwarten?
„Deine Reaktion! Du konntest dich noch nie beherrschen wenn du eine hübsche Frau triffst. Aber Geschmack hast du, das muss ich dir lassen. So eine triffst du nicht so schnell wieder, schon gar nicht hier, in Dortmund!“, erklärt mir Kitano endlich. „Und was soll ich deiner Meinung nach nun machen?“, frage ich ihn.
„Wie wäre es, wenn du einfach abwartest was passiert? Wird bestimmt wieder richtig unterhaltsam!“, antwortet er. Den leichten Schritten zu urteilen, bemerke ich wie er sich zurückzieht. Nun bin ich auf mich allein gestellt. Ein Glück, dass die Lute so in ihren Büchern vertieft sind. Keiner bemerkt wie ich dieses Frau vor mir bestaune und begehre.
Ich entschliesse mich dazu noch etwas weiter zu lesen. Ich muss versuchen mich wieder einigermaßen zu konzentrieren, so dass meine Hormone sich etwas abkühlen können. Doch bereits nach ein paar Zeilen schaue ich wieder zu ihr. Während sie liest, fallen ihr andauernd die Haare ins Gesicht. Zärtlich streicht sie sich die Strähnen aus dem Gesicht und liest weiter in einem Buch dessen Titel mir verschwiegen bleibt. Ich bin mir im klaren, dass dies kein körperliches Verlangen ist. Es ist nicht so, dass ich jetzt unbedingt mit ihr schlafen möchte. Da ist viel mehr. Ich will sie besitzen, von ihr begehrt werden. Ich will sie umarmen und stundenlang so verharren, draußen, auf dieser schneebedeckten, schon fast langweiligen und doch romantischen Skyline.
„Sie ist die Frau deiner Träume. So viel ist mal sicher“, flüstert mir Kitano ins Ohr, kichert und verschwindet wieder. Er wird bereits wissen, dass auch diese Frau für mich wieder unerreichbar bleibt.
Es vergehen Minuten, vielleicht aber auch Stunden oder Dekaden die ich hier nun sitze und Shutter Island lese. Dabei blättere ich lediglich die Seiten um, dem Inhalt kann ich schon längst nicht mehr folgen.
Plötzlich zucke ich zusammen als ein lautes Hachhhuuuuu ertönt. Die besondere Betonung liegt dabei auf dem Chhhuuuuu. Es ist der Kerl der Rechts neben mir sitzt und einen Nies-Böller nach dem anderen zündet. Es klingt voller Schmerz und Leid. Er zündet fünf davon. Seine Augen tränen, ich kann das Grinsen nicht verbergen. Sein recht inhaltsloser Blick dabei macht die ganze Situation noch wesentlich komischer. Ich merke, dass ich nicht der einzige bin der dies sehr amüsant findet. Sie lächelt. Sie versucht es zu verbergen, kann sich dem aber nicht widersetzen und muss ebenfalls schmunzeln und wirft mir dabei einen schüchternen Blick zu. Es scheint als hätten nur wir beide diese Szenerie als witzig empfunden. Keiner der anderen Leser in unserer Runde schien etwas bemerkt zu haben, oder diese extrem peinlichen Nieser auch nur ansatzweise komisch zu finden. Ob wir nun den gleichen Humor teilen, oder dies einfach an der Jugend liegt, die durch uns zwei diese langweilige Runde erfrischt, sie hat meine Präsenz definitiv wahrgenommen. Als unsere Blicke sich wieder trennen, richtet sie ihre Brille und liest weiter interessiert in ihrem Wälzer. Mich hingegen interessiert, zumindest für den Moment, der niesende Kerl der neben mir sitzt. Während er seine Lektüre geradezu aufsaugt, versuche ich ihn etwas zu begutachten. Sein Anzug und seine Uhr scheinen teuer zu sein. Sein Blick, arrogant und doch nichtssagend. Ein Geschäftsmann Ende Vierzig wahrscheinlich. Ein absoluter Stereotyp. Recht interessant ist dafür die Lektüre die er liest: Die Winter in Okinawa sind mild. Ihr Reiseführer und Begleiter. Ein seltsamer Titel. Was dieser Kerl wohl in Japan will? Kurios ist ebenfalls, dass dieser Reiseführer um die 1000 Seiten dick ist.
Während ich mich kurz mit diesem seltsamen Geschäftsmann befasst habe, habe ich nicht bemerkt das sie bereits ihren Platz verlassen hat und an der Kasse steht. Wie ist das möglich? Eine unbekannte Stimme flüstert mir ständig zu, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.
Zeit zu handeln. Mir ist vollkommen klar, dass mir Kitano nicht helfen wird. Verspiele ich diese Chance, werde ich auch alle anderen, noch folgenden Möglichkeiten nicht nutzen. Und selbst wenn sie mir eine Abfuhr erteilen würde, hier sitzen zu bleiben würde mich später noch viel mehr ärgern. Diese Chance werde ich nicht sausen lassen. Dieses Mal nicht. Ich knalle das Buch in Eile auf den Tisch und verlasse diese lesenden Zombies und laufe ihr hinterher. Doch so sehr ich mich auch beeile, meine Beine wollen mich nicht schneller zu ihr tragen.
Endlich im Erdgeschoss angekommen muss ich mir leider eingestehen sie verloren zu haben. Den Ausgang verlassen, erblicke ich lediglich verschneite Straßen und Gassen. Das Wetter ist ungemütlich und scheint bitterkalt, doch ich friere einfach nicht. Meine Blicke huschen in alle Richtungen bis sie weit vor mir in der Ferne endlich ihren roten Mantel entdecken. So schnell wie möglich versuchen meine müden Beine mich zu ihr zu befördern.
Nach einigen Metern habe mein Ziel erreicht. Nur wenige Schritte von mir entfernt begutachtet sie ein weiteres Mal das Buch welches sie gerade gekauft hat. Mein rechter Arm bewegt sich wie von selbst. Und wie von selbst berührt dieser rechte Arm diesen weichen, roten Mantel der Frau. Sie hat es bemerkt. Nun gibt es kein zurück mehr.
„Hey, könntest du mal kurz warten?“, frage ich schüchtern. Die Geste kam an, sie dreht sich um. Schneeflocken bedecken ihre Haare. Sie kommt mir nun noch kleiner vor als vorhin in der Buchhandlung. Doch ihre Schönheit haut mich um.
„Hallo. Was möchtest du denn?“, fragt sie mich. Zum ersten Mal höre ich ihre Stimme. Es fällt mir schwer sie zuzuordnen. Meine ganze Umgebung, all die Menschen hier kommen mir gerade so plastisch vor. Dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen: „Dies ist wahrscheinlich das dümmste was du je gehört hast, aber ich kann dich nicht einfach gehen lassen. Wenn du willst verachte oder amüsiere dich über mich wenn ich mit meinem gestammel hier fertig bin, aber bitte höre mir kurz zu.....“
„Du bist echt süß“, kichert sie. Mein Blick sagt nun genau so wenig aus wie der des Geschäftsmannes aus der Buchhandlung.
„Du hast mich da die ganze Zeit beobachtet. Hab ich gesehen. Etwas unbeholfen, aber richtig süß. Du bist kein Kerl der einfach so eine Frau ansprechen würde, nein. Dich hat es nun all deinen Mut gekostet und vielleicht wirst du es hier nach nie wieder tun.“
Erneut fehlen mir die Worte. Dann, völlig unerwartet für mich, berühren ihre in Handschuhe gehüllten Hände die meine.
„Diese Stadt ist so grau. Es kommt mir vor als sei ich die Hauptdarstellerin in einem Film Noir. Halt mich etwas. Sag nichts. Halt mich fest und lass uns danach etwas zusammen unternehmen. Schliesse mich in deine Arme und sei still, egal wie kitschig du das findest. Doch ich weiß das wir uns ohne weitere Erklärungen verstehen werden“.
Das brauch sie mir nicht zweimal sagen. Ich erfülle ihren Wunsch der auch mein Begehren ist. Ich nehme sie in meine Arme. Ein tolles Gefühl. Meine Hände berühren ihre Haare die nicht nur so aussehen, sondern sich auch anfühlen wie Seide. Anschließend berühre ich zärtlich ihr Gesicht. Sie schmiegt sich an mich und schweigt.
„Bitte verrate mir deinen Namen“, flüstere ich ihr ins Ohr.
„..... und du?“
„Tut mir leid, ich habe dich nicht verstanden. Hier dröhnt irgendwas ziemlich laut“
„Den würdest du auch so nie verstehen“, fügt sie traurig hinzu.
Nun kommt es auch mir so vor als befände ich mich in einem alten Film Noir Klassiker. Der Ostenhellweg, nein, die komplette Stadt und all ihre Menschen sind grau, nur wir zwei nicht. Alles dreht sich nur um uns. Und endlich bemerke ich auch was hier nicht stimmt. Um so fester drücke ich sie an mich, nur um zu vergwissern, das ich mit meiner Vermutung falsch liege.
Sie richtet ihren Kopf auf, nimmt die Brille ab und schaut mir in die Augen. Jeder Mann würde diesem Blick verfallen.
„Läuft alles ein bisschen zu gut, oder?“, sagt sie zu mir.
„Ja. Ein bisschen zu gut“, stimme ich ohne weiteres zu.
Ein Kuss wird mir wohl verwehrt bleiben. Kitano hatte recht. Sie ist die Frau meiner Träume. Und jetzt wo ich diesen Kerl so dringend benötige, da wird mir klar, das er sich aus dem Staub gemacht hat. Es wäre falsch zu behaupten er hätte nie existiert. Doch je mehr ich über ihn nachdenke, desto unwirklicher wird mir seine Existenz jedoch. Ich hätte ihn gerne noch gefragt ob die Winter in Okinawa wirklich so mild sind wie es der Titel dieses Reieseführers behauptet.
Ein letztes mal schaue ich sie hoffnungsvoll an bevor mich ein Team von Garten und Landschaftsbauern endgültig aus meinem Traum zieht. Wir haben August und diese fleißigen Arbeiter mähen den Rasen und kümmern sich um den trockenen Boden. Durch den Spiegl kann ich meinen völlig planlosen Gesichtsausdruck wahrnehmen. Meine Gedanken sind noch ganz bei ihr. Vielleicht werde ich sie wiedersehen. Nur dich, Kitano, dich werde ich wohl nicht mehr wiedersehen. Ich reibe mir die Augen, knalle das Fenster zu um dem Lärm zu entkommen und lege mich wieder hin. „War ja mal ein ganz angenehmer Traum“, sage ich zu mir selbst und merke wie ich direkt wieder einschlafe. Noch immer am rätseln über diesen bezaubernden Duft und dem niessenden Geschäftsmann.
Ende
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