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Freitag, 22. August 2025

Rezension: Das gelbe Haus (Mieko Kawakami)

 




Japan

Das gelbe Haus
Originaltitel: Kiiroi Ie
Autorin: Mieko Kawakami
Übersetzerin: Katja Busson
Veröffentlichung: 12.08.2025
Genre: Drama, Mystery, Coming of Age



"Grundsätzlich war meine Mutter mit mir lieber in Gesellschaft als allein. Oft hingen wir mit Hostessen aus ihrer Bar herum, alten Freunden oder Leuten, die sie durch ihre Kunden kennengelernt hatte; immer, wenn wir allein waren, fühlte ich mich gehemmt. Wenn ich in der Schule war, schlief meine Mutter; gegen Mittag stand sie auf, am frühen Abend schminkte sie sich und ging zur Arbeit, und mitten in der Nacht kam sie zurück. Wir lebten praktisch aneinander vorbei."


Japanische Literatur erlebt besonders in Europa derzeit eine Hochphase, die es so vielleicht noch nicht gegeben hat. Dies liegt nicht nur an japanischen Schwergewichten wie Haruki Murakami. In den letzten Jahren haben allen voran sogenannte "Cozy-Books", wo es um magische kleine Orte wie zum Beispiel Buchhandlungen und Cafés geht, wo Menschen zu ihrer inneren Glückseligkeit finden, die Gunst der Leser in einer stressigen Zeit gewonnen. Dass der sogenannte "BookTok-Trend" hier eine Rolle spielte, die Popularität dieser Bücher noch etwas in die höhe zu treiben, ist auch kein Geheimnis. Zur Folge hatte dies jedoch einen angenehmen Schneeballeffekt; Literatur aus Japan, mittlerweile auch aus Südkorea, sind fester Bestandteil unserer Buchhandlungen geworden. Mit stetig neuen Veröffentlichungen ist da auch kein Ende in Sicht.

Doch japanische Literatur sind eben nicht nur Murakami und Stories über gemütliche Rückzugsorte, sondern auch viel mehr. Allen voran auch weiblich. Und so ist es keine Überraschung, dass der Name Kawakami derzeit in zweifacher Besetzung große Erfolge feiert. Zum einen die routinierte Autorin Hiromi Kawakami, die aktuell besonders in englischsprachigen Gebieten mit ihren Werken große Aufmerksamkeit generiert und eine etwas jüngere Generation, aber mit nicht weniger beeindruckenden Geschichten, Mieko Kawakami. Während Hiromi Kawamai auch auf dem deutschen Buchmarkt schon seit vielen Jahren ein Name ist, hat sich die 48 Jahre alte Mieko Kawakami in den vergangenen Jahren als eine international anerkannte Schriftstellerin etabliert.

"Das gelbe Haus" ist nach "Brüste und Eier", "Heaven" sowie "All die Liebenden der Nacht" der bereits vierte Roman, den der DuMont Buchverlag von der Gewinnerin des Akutagawa-Preises von 2008 veröffentlicht hat. Das besondere hieran, es ist auch der derzeit aktuellste Roman der Autorin (zuvor hatte man immer etwas ältere Romane von ihr übersetzt). Das erste, was mir direkt aufgefallen ist, ist der Umfang des Romans. Mit über 500 Seiten ist der Roman deutlich schwerer als vergangene Übersetzungen. "Brüste und Eier" ist zwar auch im Umfang üppiger, hier muss man aber mit einberechnen, dass es sich hier prinzipiell um zwei Novellen handelt, die die Autorin vor einigen Jahren zu einem Gesamtwerk geformt hat.

Im Zentrum von "Das gelbe Haus" steht die Ich-Erzählerin Hana, mittlerweile Anfang 40, die durch Zufall auf einen Artikel stößt, mehr eine Fußnote als alles andere, der sie schockiert zurücklässt. Berichtet wird dort von einer sechzigjährigen Frau namens Kimiko Yoshikawa, der der Prozess in mehreren Anklagepunkten gemacht wird, darunter Misshandlung und Freiheitsberaubung. Hana ist sich sofort sicher, es handelt sich hier um ihre Kimiko. Eine Frau, die im Leben von Hana einstmals eine wichtige Rolle spielte. Kontakt zu Kimiko hatte Hana seit vielen Jahren nicht, sie hat die Frau erfolgreich aus ihrem Leben gelöscht. Doch aus Furcht, dass die Vergangenheit Hana einholen könnte und Kimiko pikante Details über Hana sowie ein paar anderer Mädchen ausplaudern könnte, muss sie noch einmal Menschen um sich herum mobilisieren, die bestenfalls nur noch als Geister der Vergangenheit in ihrem Leben durchgehen.

Dem Leser wird schnell klar, dass die Farbe "Gelb" hier eine besonders symbolische Rolle einnehmen wird. Wieso ich die Geschichte auch dem Genre "Mystery" zuordne, liegt daran, dass direkt zu Beginn des Buches viele Fragen aufgeworfen werden: Wer ist Kimiko? Was hat sie getan? Auf welche schiefen Bahnen sind Hana und die anderen Mädchen in ihrer Jugend geraten? Es sind Fragen, die sich im Verlaufe der Geschichte beantworten werden und dazu sind die Erinnerungen der erwachsenen Hana und die der siebzehnjährigen Hana nötig. Sehr gekonnt verwebt Mieko Kawakami das Coming of Age Drama eines Mädchens aus einem sozialschwachen Haushalt mit einer glaubhaften Mystery-Geschichte, die durchweg spannend bleibt, neue Fragen aufwirft und dadurch zu einem Pageturner wird. Der übliche Stil von Kawakami, sämtliche Szenen ausführlich zu beschreiben, fehlt auch in ihrem aktuellsten Roman nicht. Ihre Beschreibungen von Räumen, Dingen und Menschen werden lebendig - man hat die Szene genau vor sich. All das muss für die Übersetzerin Katja Busson eine Herausforderung gewesen sein, da ich immer wieder lese, wie schwer es sei, den Osaka-Dialekt von Kawakami in eine andere Sprache zu übertragen. Doch wie immer liest sich die Übersetzung flüssig und detailreich. Für bestimmte Begriffe gibt es zudem am Ende des Buches einen kleinen Glossar.

"Das Geld verschaffte mir Freiraum. Es erlaubte mir nachzudenken. Es erlaubte mir zu schlafen. Es erlaubte mir, krank zu werden. Es erlaubte mir zu warten. Andere Menschen brauchten sich diese >>Erlaubnisse<< vielleicht nicht zu beschaffen. Bis zu einem gewissen Grad hatten die meisten sie wahrscheinlich schon immer. Aber nicht Kimiko und ich. Ich wusste, dass ich niemandem erzählen konnte, was ich tat. Deswegen konnte ich ja so oft vor Angst nicht schlafen. Wenn das rauskam, war ich geliefert!"



Abschließende Gedanken

Was bedeutet es, geliebt zu werden? Sich geborgen zu fühlen? Sich zugehörig zu fühlen? Ein sorgenfreies Leben zu führen? Und wie schmal ist der Grad, abzurutschen? Die falschen Menschen kennenzulernen und immer tiefer in ein Milieu zu entgleiten, wo man eigentlich nie landen wollte. Das sind Themen, mit denen sich Mieko Kawakami in ihrem neuen Roman befasst, der diesmal etwas länger ist, aber auf keiner Seite langatmig. Sie erzählt genau das, was sie erzählen möchte. Die Geschichte rund um Hana und Kimiko ist ein Puzzlestück, welches sich nur zu einem Bild zusammenfügt, wenn man jede einzelne Seite gelesen hat. Wie man das Motiv am Ende betrachtet, bleibt dem Leser überlassen. Einmal mehr beweist die japanische Autorin, dass sie mittlerweile unverzichtbar geworden ist. Nicht nur für die japanische Literatur, sondern für die Weltliteratur an sich. Große Literatur muss sich genau so lesen.

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