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Montag, 15. November 2021

Rezension: Schnee fällt auf Chinas Erde (Ai Qing)

 





Schnee fällt auf Chinas Erde

Autor: Ai Qing
Vorwort: Ai Weiwei
Erscheinungsdatum: 02.11.2021 beim Penguin Verlag
Übersetzung und Nachwort: Susanne Hornfeck
Format: Hardcover, E-Book
Genre: Lyrik


"Die Poesie wirkt wie ein Schlüssel der Weisheit gegenüber der Mittelmäßigkeit des Despotismus, sie ist der Tod jeder banalen Politik. Ihre Existenz beweist, dass die Seele nicht unterworfen werden kann. Ganz gleich wann oder wo, mit ihrer Hilfe kann man innere Wahrheit reflektieren und sich in den Wüsten der Macht einen eigenen subversiven Gegenentwurf schaffen: unabhängig und aufmüpfig. Durch ihre Unbeugsamkeit kann Poesie zur Erlösung werden."
- Ai Weiwei im Vorwort über das Werk seines Vaters Ai Qing


Normalerweise ist das erste, was ich bei meinen Buchbesprechungen tue, das Heimatland des Autors oder der Autorin zu nennen. Im Falle von "Schnee fällt auf Chinas Erde" tue ich dies aber nicht. Um Ai Weiwei hier mal in einem neueren Interview aus dem Jahr 2019 zu zitieren: "Ich besitze keine Heimat, weil China mich zurückgewiesen hat, seit ich geboren wurde. Wer sein Ziel kennt, ist kein Flüchtling mehr. Ich bin ein Flüchtling."
Die Geschichte der Familie Ai ist bewegend und kann brandaktueller überhaupt nicht sein. China, dieses Land mit über 1,4 Milliarden Einwohnern, steht derzeit wieder einmal im weltweiten Blickpunkt. Eine technologische Weltmacht. Kein anderes Land in der Neuzeit hat es geschafft, in wenigen Jahrzehnten zu einer unangefochtenen Weltmacht zu werden. Und doch wissen wir so wenig über dieses Land und hören tagtäglich nur etwas über das zensierende und gnadenlose Regime.

Ai Qing (1910-1996), Vater des Künstlers Ai Weiwei, gehörte zu seiner aktiven Zeit zu den bedeutendsten Lyrikern in China. Ai Qing verkehrte in erlesenen Kreisen, fiel aufgrund seiner Texte und politisch kritischen Einstellungen jedoch beim Regime in Ungnade. Was folgte waren Gefängnis, Arbeitslager und Exil. Erst 1979 wurde Ai Qing rehabilitiert. In einem beeindruckendem Vorwort in diesem Gedichtband schreibt Ai Weiwei über seinen Vater, welches auch als Schlüssel zum Verständnis des Werkes dienen dürfte. In diesem Vorwort bewundert Ai Weiwei Ai Qing nicht nur als Vater und Mensch, sondern auch als Künstler. Viele Texte sind damals auf Anordnung des Staates verbrannt worden. Doch einiges ist auch erhalten geblieben. Der Penguin Verlag hat gleich zwei Werke der Familie Ai in diesem Monat veröffentlicht: "1000 Jahre Freud und Leid: Erinnerungen" von Ai Weiwei sowie den hier besprochenen Gedichtband "Schnee fällt auf Chinas Erde" von Ai Qing. Auf über 100 Seiten wurden hier Gedichte des Lyrikers gesammelt und chronologisch abgedruckt.


"Aus der Dunkelheit
blicke ich sehnsuchtsvoll
auf ein Universum von weißer Klarheit,
wo
das Leben kreist,
wo
die Zeit sich dreht wie ein flinkes Rad,
wo
das Licht anmutig fliegt."
Aus  "Der Schrei" (1933)


Lyrik ist etwas, was man hier auf "Am Meer ist es wärmer" eher selten findet. Ich selbst besaß nie das Talent auch nur ansatzweise etwas zu schreiben, was einem Gedicht gleichkommt. Tat mich aber auch immer schwer, Lyrik zu lesen. Meine Ansichten änderten sich als ich in den vergangenen Jahren einige Sammelbände von japanischen Haikus und Tankas las. Mein Verständnis gegenüber der Lyrik und Poesie erweiterte sich und ich begann, den Wert und die Schönheit dieser kurzen Werke schätzen zu wissen. Bei den Gedichten von Ai Qing geht dieses noch einmal eine Stufe weiter. Er schreibt in freien Versen, die jeweiligen Gedichte sind natürlich deutlich länger als die japanischen Varianten (manche Gedichte umfassen sogar gleich mehrere Seiten). Was man in den jeweiligen Werken von Ai Qing findet ist ein ganzer Ozean an verschiedensten Emotionen. Manchmal melancholisch, manchmal sehr düster, aber oftmals auch sehr humoristisch beschreibt der Dichter alltägliche und surreale Situationen. In der Rubrik "Anmerkungen zu den Gedichten" befinden sich zu ausgewählten Werken einige Erklärungen über die Entstehungen zu den jeweiligen Texten. Es wäre natürlich schön gewesen, wenn es Anmerkungen zu allen Gedichten gegeben hätte, aber die vorhanden Anmerkungen dürften besonders dafür sorgen, einen besseren Zugang zu den eher kryptischen Texten zu bekommen.

Solch einen Gedichtband ins Deutsche zu übertragen stelle ich mir als große Herausforderung vor. Ein Grund, wieso sich die hier vorliegenden Texte so flüssig und gleichzeitig elegant lesen, hat man der Germanistin und Sinologin Susanne Hornfeck zu verdanken, die für diesen Band noch ein äußerst interessantes Nachwort verfasst hat. Man muss auch hier wieder bedenken, die chinesischen Schriftzeichen sind bereits ein Teil der Kunst und es ist somit nicht möglich, diese Kunst in unser lateinisches Alphabet zu übertragen. Die Übersetzerin hat hier jedoch eine ausgezeichnete Arbeit abgeliefert, da besonders längere Gedichte oftmals sperrig und trocken wirken können.


"Den treibenden Schneeflocken zusehend
denke ich an einen Sommerwald,
an einen Morgen im Wald
vor langer, langer Zeit:
Überall glitzerte Tau,
die Sonne eben aufgegangen.
Aus dem Morgenlicht trat ein kleiner Junge, barfüßig,
das Gesicht frisch wie eine Blume,
dem Mund entstieg ein leises Lied,
in der Hand den Bambusstab.
Er hob den zierlichen Kopf
die leuchtenden Augen durchdrangen
das dichte Laub auf der Suche
nach dem Laut der Zikade"
Aus "Schnee am Morgen" (1956)





Abschließende Gedanken

Die Gedichte von Ai Qing sind höchst beeindruckend. In jedem einzelnen Gedicht spürt man die Liebe zum Wort, die Liebe zum Moment und die Liebe zur Heimat. Und doch waren diese Werke für eben jene Heimat zu freizügig, zu ungefiltert. In "Schnee fällt auf Chinas Erde" scheint es, kommen wir diesem verschlossenem Land wieder etwas näher. Doch es ist auch ein bisschen so wie Kafkas Schloss: Je näher wir ihm kommen, desto weiter entfernt es sich wieder. Ganz besonders noch einmal aufgrund der Aktualität ist die Relevanz dieses Gedichtbandes umso größer. Zudem ist dieser Band aber auch der Einblick in die Gedankenwelt eines Mannes, der auf seiner langen Reise eigentlich immer nur eines wollte: Mit seinen Texten die Menschen erfreuen, die sie einmal lesen werden.

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