Mit Überlängen musste ich mich schon immer auseinandersetzen. Auch bei meiner neusten Geschichte, „Postkarten aus Pjöngjang“, konnte ich diese Überlängen nicht vermeiden. Aus diesem Grunde hat mein Beitrag auch etwas länger auf sich warten lassen. Ich denke aber dennoch das bei all den Korrekturen immer noch haufenweise Fehler zu finden sind, die aber alle nicht das Lesevergnügen trüben dürften.
Zu „Postkarten auf Pjöngjang“ gibt es gar nicht mal so viel zu schreiben. Wieder einmal war ich überrascht zu sehen das geheimnisvolle Frauen in Salvos und meiner Geschichte eine wichtige Rolle spielen. Da steckt wohl zu viel von Murakamis Einfluss in uns.
„Postkarten aus Pjöngjang“ ist meine erste Kurzgeschichte seit beinahe 2 Jahren. Das besondere an der Geschichte ist jedoch, ich habe sie geschrieben, ohne das ich, bis kurz vor dem Finale (was die meisten unerklärlichen Situationen in der Geschichte aufklärt) wusste, in welche Richtung sich diese Geschichte noch entwickeln wird. Somit war es auch für mich immer wieder eine Überraschung, durch welch surreale Situationen Student Damien sich noch prügeln muss. In manchen Absätzen merkt man mir die Planlosigkeit vielleicht sogar an, die ich teilweise während des Schreibens hatte. Ich selbst hatte mir 3 verschiedene Endings überlegt, aber erst nachdem ich „Unterwassertheater“ von Salvo las, war mir klar, dass für das Ende eine besondere Auflösung herhalten muss. Ein Grund, wieso mein Beitrag auf sich warten lies.
Das Thema rund um Nordkorea ist für mich persönlich sehr interessant. Die asiatischen Einflüsse in der Geschichte halten sich dennoch in Grenzen.
Genau wie bei Salvos „Unterwassertheater“ verzichte ich auf eine Inhaltsangabe. Dieser wird sich während des Lesens entfalten. Damit möchte ich diese Einführung auch beenden.
Viel Spaß nun beim zweiten und letzten Teil unseres Specials: Postkarten aus Pjöngjang.
Die komplette Geschichte gibt es wie immer sobald ihr den kompletten Artikel anklickt. Sollte die Schrift der Geschichte etwas klein dargestellt werden, verwendet einfach den Zoom aus dem Browser, den ihr gerade benutzt.
Postkarten
aus Pjöngjang
James Bond
kehrt zurück
In
Kommunistische
Grüße aus Nordkorea
10
Dezember 2013
Witzig.
Unglaublich witzig. Selten so gelacht. Nach den ersten zehn
Postkarten dachte ich mir noch: „Ok, vielleicht sollte ich sie
einfach so hinnehmen. Irgendwann wird diese Person dem sinnlosen
verfassen belangloser Postkarten überdrüssig werden.“
Allerdings
sind bereits 9 Monate vergangen, und von Überdruss war nichts zu
erkennen. Euphorisch schrieb mir die Verfasserin dieser Postkarten
weiterhin fleißig. Der Absender dieser kryptischen Briefsendungen
war immer eine gewisse Frau Hangul. Ich hatte mich kürzlich
mal schlau gemacht. Als Hangul, oder auch Han-geul,
bezeichnet man das Südkoreanische Alphabet. Was wenig Sinn ergibt,
stammen die Postkarten doch angeblich aus Nordkoreas Hauptstadt
Pjöngjang und dort trägt das Alphabet eine leicht veränderte
Bezeichnung. Über die Logik, die hinter dieser Motivation steckt,
einem fremden Menschen gefälschte Postkarten zu schicken, machte ich
mir schon lange keine Gedanken mehr. Ein Kommilitone riet mir, all
das Material an die Polizei weiterzureichen. Aber was hätten die
schon tun können? Der Absender war anonym. Und in keiner einzigen
Postkarte wurde ich bedroht, noch wurde ich erpresst. Es würde wohl
auch keinen großen Sinn ergeben, einen finanziell nicht gerade gut
betuchten Student zu erpressen.
Das
kuriose an der Geschichte waren weniger die Inhalte dieser
Postkarten, als viel mehr die Poststempel. Mir war bereits nach der
ersten Postkarte klar, dass diese Karten nicht aus der Volksrepublik
Korea versendet wurden. Sowohl die Briefmarken, als auch die
Poststempel stammten immer aus Deutschland. Und wo bleibt der kuriose
Part? Es sind die Wege, die diese Postkarten zurückgelegt hatten.
Ich habe mal mitgezählt, wie viele verschiedene Poststempel ich
bereits entdeckte: Bad Oeynhausen, München, Berlin, Dortmund,
Frankfurt, Düsseldorf. Eine ganz nette Sammlung. Frau Hangul scheint
sehr gerne innerhalb der Bundesrepublik zu reisen.
Auf
den Postkarten befindet sich meistens ein Motiv von Nordkorea.
Panorama Aufnahmen von Pjöngjang zum Beispiel oder das Ryugyong
Hot'el. Die Schrift kommt einer Damenhandschrift gleich, zumindest
darin bestand für mich kein Zweifel. Die Schrift ist in lateinischen
Buchstaben (welch eine Überraschung) verfasst und sehr klein
gehalten. Obwohl die Schrift klein gehalten ist, damit einiges an
Text auf die Postkarte passt, wirkte sie nicht unordentlich, sondern
ist fein säuberlich lesbar. Ich möchte, zum Verständnis dieser
Geschichte gerne mal aus einer Postkarte zitieren. Dabei muss
beachtet werden, Frau Hangul kennt sowohl meinen Vor- und Nachname,
als auch die Adresse des Studentenwohnheims. Noch immer vermute ich
einige Witzbolde aus den fernöstlichen Sprachkursen hinter dieser
ganzen Aktion. Aber zurück zum Inhalt der Postkarte:
„An-nyeong-ha-se-yo!
Mein Verehrter Damian. Die Zustände in Chunghwa (ich hatte das
kleine Küstendorf Gestern besucht) sind als ungeheuerlich zu
bezeichnen. Die Leute arbeiten unter ihrem Existenzminimum. Väter
können ihre Frauen und Kinder nicht ernähren. Ich habe mich mit
Frau Kim unterhalten die 3 Kinder großziehen muss, und sie wünscht
sich so sehr, irgendwann nach Seoul auswandern zu können. Südkorea
scheint für diese Leute ein unerreichbarer Traum zu sein.
Aber
genug von diesen finsteren Themen. Wie geht es dir, mein Lieber
Damian? Lange hast du nichts von dir hören lassen. Du hattest doch
versprochen, den Kontakt zu mir zu halten? Aber ich möchte gar nicht
wissen, wie viele Briefe die Regierung abfängt. Hab ich dich jemals
gefragt, ob du 007 magst? Du weißt schon, dieser britische
Geheimagent. Glaubst du, der könnte einfach nach Pjöngjang
einmarschieren und für Demokratie sorgen? So einen Kerl braucht
Nordkorea! Ich habe einen Bond Film gesehen, da spielte Clint
Eastwood 007 und Lee Van Cleef den Bösen. Genau wie in Rio Bravo!
Ich glaube, Lieber Damian, nun geht die Phantasie zu sehr mit mir
durch. Ich würde dir aber so gerne noch mehr schreiben. Leider aber
reicht der Platz dafür nicht aus.
Auf
Bald, und das du auch meine nächste Postkarte mit Freude lesen
wirst.
Deine
Hangul“
Clint
Eastwood und Lee Van Cleef in einem Bond-Film? Und gemeinsam spielten
sie bereits in Rio Bravo mit? Alleine in dieser Zeile war so viel
verkehrt. Jeder Filmkenner würde weinend davonlaufen.
Bei
unserer Post hatte ich bereits einen Mitarbeiter gebeten, ob er
herausfinden könnte, von welcher Adresse aus diese Postkarten
verschickt wurden. Ich hätte ihn nicht einmal fragen müssen, mir
war die Antwort längst klar. Der Verfasser gab keine Hinweise auf
seine Identität. Hangul ist ein Pseudonym, eine Straße ist nicht
hinterlegt worden und da die Postkarten immer wieder aus anderen
Städten versendet wurden, sei es so gut wie unmöglich, den
Verfasser ausfindig zu machen. Der Angestellte bei der Post war aber
ebenfalls meiner Meinung. So lange die Texte auf den Postkarten keine
bedenklichen Nachrichten enthielten, solle ich den Scherz einfach
weiter mitmachen, oder mir ein privates Postfach mieten.
Es
ist nicht so, dass ich mich vor diesen Postkarten fürchte. Es ist
eher die Neugierde, die mich verzweifeln lässt. Keiner der bisher
verfassten Texte von Frau Hangul ergab einen Sinn oder gab ihre
Motivation für all das preis. Sie ist der festen Überzeugung, mich
zu kennen, und, viel wichtiger, sie ist der Meinung, dass wir einen
regen Briefkontakt zueinander halten, der anscheinend etwas abgeebbt
ist.
Das
eigentlich ärgerliche an diesen Postkarten ist, ich vernachlässige
mehr und mehr die wichtigen Tätigkeiten für diese Frau Hangul. Ich
sollte mich besser wieder auf die wichtigen Aufgaben konzentrieren.
Sonst könnte es sein, dass ich eines Morgens aufwache und denke, ich
sei ein Agent des britischen MI6, der auf eine geheime Mission nach
Pjöngjang geschickt wurde und dort für Demokratie sorgen soll.
Klar, wieso auch nicht? Auf so eine gewagte Idee wird wohl noch
keiner gekommen sein.
15
Dezember 2013
Die
Lage spitzt sich zu, 007!
>>Hast
du nun komplett den Verstand verloren?<<
>>Sehe
ich so aus?<<
>>Ja.<<
Ich
musterte Tom, meinen Mitbewohner, argwöhnisch. Er schien besorgt zu
sein. Wieso nur?
>>Kannst
du dich nicht einfach damit zufrieden geben, dass dich irgendwelche
Idioten aus dem Sprachkurs reinlegen? Du bist schon komplett von
diesen dämlichen Postkarten eingenommen. Ich sehe doch, wie du sie
jeden Abend wieder und wieder liest.<<
>>Wenn
ich nicht hingehe, finde ich keinen Schlaf mehr. Ich muss das tun.<<
>>Dann
wirst du einen Fehler begehen, und dir nur umsonst den Arsch
abfrieren.<<
>>Keine
Sorge, ich werde mich schon warm anziehen.<<
Diese
Diskussion basierte auf einem Ereignis, welches vor zwei Tagen
stattfand. Gemeinsam kehrten Tom, Selina und ich von der
Weihnachtsfeier an unserer Uni heim. Wir machten es uns gemütlich im
Gemeinschaftsraum und köpften noch eine Flasche Glühwein. Es war
kurz nach 23 Uhr, da klingelte das Telefon. Keiner der beiden
signalisierte von sich aus eine Geste, abzunehmen. Also opferte ich
mich auf. Selina warf einen misstrauischen Blick zu Tom in die Küche
rüber, der gerade den Glühwein zubereitete. Beide warfen sich nun
Blicke zu, was ich sehr seltsam fand in jenem Moment. Ich versuchte
jedoch ihren Blickaustausch zu ignorieren und nahm den Anruf
entgegen. Erst war nur ein leises rauschen zu hören. Danach ertönte,
mit furchtbar metallischem Klang, die Nationalhymne von Nordkorea
-Aegukka-. Ich hörte eine Weile zu. Das ging 2-3 Minuten so.
Mittlerweile kam Tom mit 3 Tassen heißen Glühwein aus der Küche
zurück. Die beiden bemerkten, dass ich mich nicht unterhielt,
sondern irgendwem zuhörte. Ihre Blicke, ihr Getuschel, nervte mich
und ich verschwand auf mein Zimmer. Es wurde noch immer die
Nationalhymne gespielt. Mittlerweile war der Gesang von Kindern zu
hören. Aber wie auf Knopfdruck wurde es auf einmal ganz still. Nur
noch ein leichtes rauschen war zu vernehmen. Genau so mechanisch wie
die Hymne klang, ertönte nun eine Stimme. Ich umklammerte fest und
voller Unglauben den Hörer. Es waren koreanische Worte, ich verstand
kein Wort. Für einen simplen Scherz war das zu aufwendig.
Wenige
Augenblicke später gab die mechanische Stimme geläufige deutsche
Begriffe von sich. Es waren Worte wie Bäcker, Krieg, Wille,
Weihnachten und Freundschaft dabei. Anschließend wurde mir folgendes
gesagt: Vierundzwanzig, Dezember, Köln, Bahnhof, Gleis, Zehn,
Dreiundzwanzig, Uhrzeit. Diese Worte wiederholte er fünf weitere
male. Die mechanische Stimme sprach zwar die deutsche Sprache, der
koreanische Akzent war aber kaum zu überhören. Es gab keinen
Sprachfluss. Es klang kryptisch, es klang wie eine geheime Botschaft.
Ein Kommilitone erzählte mir damals ähnliches von sogenannten
Zahlensendern, die zu Zeiten des Kalten Krieges existierten und
spezielle Botschaften enthielten, die nur auserwählte Spione des
jeweiligen Landes entziffern konnten. Es war natürlich gut möglich
das ich auf der Weihnachtsfeier schon ein Glas zu viel getrunken
hatte, aber so weit würde mich mein Verstand nicht hinters Licht
führen. Ich vernahm also folgendes aus diesen Worten: Am
Vierundzwanzigster Dezember 2013 soll ich mich um 23:00 Uhr am Gleis
10 des Kölner Hauptbahnhofs einfinden. Für mich bestand kein Grund,
nach dem Sinn zu fragen. Es war eindeutig eine Nachricht, die für
mich bestimmt war. Noch einige Minuten hielt ich das Telefon fest
umschlossen.
Nachdem
ich mich wieder gefangen hatte, ging ich zurück in den
Gemeinschaftsraum wo Tom und Selina, mittlerweile mit halb gefüllten
Tassen Glühwein, auf mich warteten. Misstrauische Blicke wurden mir
zugeworfen, die ich jedoch mit einer erschreckenden Abgebrühtheit
konterte. Tom fragte mich, wer zu dieser Uhrzeit hier noch anrufen
würde. Ich sagte, es sei der Nordkoreanische Wetterdienst gewesen,
der, wie ein Wecker, zu einer speziellen Uhrzeit den Interessenten
über die Wetterlage des jeweiligen Landes informiert.
>>Witzig.
Sicher das du noch einen Glühwein verträgst?<<, fragte Tom.
>>Das
war Andy, seine Freundin hat sich, wörtlich gesagt, abgeschossen auf
der Weihnachtsfeier. Da er getrunken hat, fragte er, ob nicht einer
von uns noch könnte. Ich musste ihm leider absagen.<<
>>Der
Spinner weiß doch sowieso, wir drei haben nur Monatskarten für die
Bahn. Sag ihm bitte das nächste mal, er soll seine Freundin mal
etwas zügeln. Die war den ganzen Abend schon wieder zu anhänglich,
und wenn Caroline das gesehen hätte, dann müsste ich mir wieder was
anhören.<<
Es
sah beinahe danach aus, als habe Selina Tom erneut einen
misstrauischen Blick zugeworfen. Haben sie gelauscht? Sollte ich
ihnen von dem Anruf erzählen? Aber dazu gab es keinen Grund,
geglaubt hätten sie mir ja sowieso nicht. Also brauchten sie auch
von dem Anruf nichts wissen. Alles an dieser Geschichte war irgendwie
suspekt und surreal. Aber ich musste dieser Sache auf den Grund
gehen, komme, was wolle.
20
Dezember 2013
Bond?
Hier ist M. Die Welt steht vor einem Atomkrieg. Der Gegner, mit dem
sie es dieses mal zu tun haben? Noch nie haben sie einen Schurken wie
ihn bekämpft. Es ist.....
Meine
spontane Antwort wäre Blofeld gewesen. Ich bin aber der Meinung,
irgendwie wäre diese Lösung zu einfach gewesen. Fleming hat Blofeld
ein wenig zu oft benutzt als Gegenspieler von Bond. Frau Hangul, die
sich diesmal auf dieser Postkarte nicht zu erkennen gegeben hat (was
ich ein wenig seltsam finde), meinte bestimmt Kim-Jong Un. Oh, der
hätte mal was. Ein modernes kommunistisches Märchen und in der
Hauptrolle Idris Elba als erster afroamerikanischer James Bond.
Anscheinend ging diesmal mit mir ein wenig die Fantasie durch. In den
letzten Tagen bekam ich wenig Schlaf, und auch Tom wandte sich von
mir ab, während Selina nicht einmal mehr ein Wort mit mir in den
vergangenen Tagen wechselte. Mein Verhalten war ihr wohl zu
„Strange“, um es mal in ihre Sprache zu übersetzen. Das letzte,
was Tom mich aufrichtig fragte, war, ob ich mich in Frau Hangul
verliebt hätte. Ich schmunzelte und verschwand wortlos auf mein
Zimmer. Bin ich wirklich in Frau Hangul verliebt? Eine Frau, die mir
mysteriöse Postkarten aus Nordkorea schreibt, und die
zufälligerweise alle ausschließlich in Deutschland abgestempelt
wurden?
Mir
fiel keine passende Antwort für Tom ein. Ich hatte mich in etwas
hineingesteigert, und ich driftete ab. Noch einmal sah ich mir die
neuste Postkarte vom 19 Dezember an: „Bond? Hier ist M.....“
Ich
war zwar kein Experte in solchen Themen, aber selbst ein Laie
erkannte, dies war nicht Frau Hanguls Schrift.
23
Dezember 2013
Keine
neuen Nachrichten, Mister Bond
Einen Tag vor Heiligabend, und es schneite. Ich
verbrachte den Abend mit einigen Kommilitonen auf dem Kölner
Weihnachtsmarkt. Es ging recht unpersönlich zur Sache. Was erzähle
ich da, es ging nur um den Glühwein und das gemeinsame Besäufnis.
Ich trank meinen Glühwein (mit Rum), und schaute in den verschneiten
Himmel. Aus der Ferne hörte ich Züge rauschen, und auf einmal
überkam mich Fernweh, ich fragte mich jedoch, nach was genau. Wurde
ich etwa sentimental?
Ich war in Gedanken versunken als eine Person sanft an
meinen Wintermantel zupfte. Ich drehte mich um und sah ein weniger
vertrautes Gesicht, dem ich jedoch nicht selten genug heimlich
nachspioniert hatte. Es war Carina Picard (sie sagte einst, bei der
gemeinsamen Begrüßung der neuen Mitglieder des Literaturkurses, sie
ohrfeige jede Person für eine Star Trek Bemerkung. Sah mir nach
einer komplizierten Schulzeit aus). 24 Jahre alt, zweites Semester
Jura. schulterlanges, blondes Haar, sympathisches Gesicht, gerade mal
um die 1,60 groß. Ihre kristallblauen Augen machten die fehlende
Größe Jedoch wieder wett. Da stand sie vor mir, in ihrem schwarzen
Wintermantel, ihr Kopf bedeckt von einer weinroten Wollmütze.
Meine Reaktion muss ein Reflex gewesen sein.
>>Frau Hangul?<<
>>Mister Bond?<<
Ich erschrak kurz. Das ergab doch gar keinen Sinn. Doch
bevor ich nachdenken konnte, kicherte sie lieblich.
>>Verzeihung, Carina, ich war etwas in Gedanken
versunken. Was führt ausgerechnet dich zu so einem Träumer?<<
Obwohl Carina und ich uns lediglich den Literaturkurs
teilten, was gemeinsame Aktivitäten betraf, wusste sie, dass ich ein
wenig über die Strenge schlage, was Hobby und Realität anging.
Daher war sie über meinen Kommentar anscheinend auch sichtlich
amüsiert.
>>Naja, die Jungs und Mädels hier haben bereits
gut getankt. Hättest du was dagegen, wenn wir gemeinsam gemütlich
einen Glühwein in warmer Atmosphäre trinken? Ich kenne eine
gemütliche Bar.<<
Mir war Carinas Gesellschaft wesentlich angenehmer als
die der männlichen Kommilitonen, und erst recht als die der
weiblichen, die sich allesamt aufführten wie Grundschülerinnen.
Zwar kam mir auch dieses Angebot etwas seltsam vor, aber in letzter
Zeit wunderte mich einfach gar nichts mehr.
>>Sicher, ich wäre eigentlich Heim gegangen, weil
ich mit den Schluckspechten hier nicht mithalten kann.<<
>>Also dann, auf gehts<<, gab Carina
fröhlich von sich und wir marschierten, ohne uns zu verabschieden,
davon.
Fast wortlos durchstreiften wir die Kölner Innenstadt,
die beinahe einen irrealen Eindruck auf mich machte. Der heftige
Schneefall und die vielen bunten Lichter bekräftigten diesen
Eindruck. Mir war etwas unbehaglich, aber ich folgte ihr. Sie packte
meinen rechten Arm und zog mich durch verwinkelte Gassen, die ich nie
zuvor gesehen hatte. Am Ende einer langen Gasse, voll von kleinen
Restaurants und Bars, machte Carina halt. Vor uns baute sich ein
Leuchtschild auf: „Cologne Reloaded“. Unter der
Leuchtreklame war auch der Eingang zu sehen, der in einen kleinen
Keller führte. Beinahe zärtlich stieß Carina die relativ schwere
Tür zur Bar auf. Wie sie es versprach, baute sich vor uns ein
gemütliches Szenario auf. Es waren nur wenige Leute da, und es war
dementsprechend ruhig. Wir suchten uns am ende der Bar, ganz in der
Ecke, ein ruhiges Plätzchen. Ich hatte für Romantik noch nie etwas
übrig, aber selbst der größte Eisblock wäre in Begleitung einer
Dame bei dieser Atmosphäre geschmolzen.
Wir legten unsere Mäntel ab und machten es uns auf den
gepolsterten Sitzen bequem. So ganz konnte ich es immer noch nicht
fassen, Carina Picard gegenüber sitzen zu haben. Ich hoffe nicht,
dass sie mich ertappt hat, als ich sie des öfteren in unserem Kurs
angesehen habe. Nicht einmal Tom hatte ich was von meinem kleinen
Crush erzählt, den ich für Madame Picard hegte.
Eine Dame im mittleren Alter kam zu unserem Tisch und
fragte, was wir trinken möchten. >>Zwei Glühwein mit einem
Schuss Sandeman Medium Dry bitte<<, orderte Carina
selbstbewusst und die Bedienung zwinkerte ihr zu. Noch immer war ich
ein wenig verwirrt weil mir der genaue Sinn hinter Carinas Angebot
noch nicht bewusst wurde. Erneut war ich in Gedanken versunken. Als
ich aber aus ihnen erwachte, sah ich Carina in voller Pracht vor mir.
Jetzt, wo sie die Mütze abgelegt hatte, kamen ihre wunderschönen
blonden Haare vollkommen zur Geltung. Ein paar Schneeflocken hatten
sich noch immer in ihr Haar verfangen. Und als ob die Überdosis
Romantik noch nicht genug war, wurde im Hintergrund dezent „Crying“
gespielt, ein Duett zwischen Roy Orbison und K.D. Lang.
Ich lauschte dem Song eine weile, der ungefähr meine Stimmung
widerspiegelte.
Es dauerte nur fünf Minuten bis die Bedienung mit
unseren Tassen an unserem Tisch zurückkehrte. In diesen Minuten
starrten wir uns an, ohne auch nur ein Wort miteinander zu reden. Als
die dampfenden Tassen vor uns standen, mit dieser ungewöhnlichen
Mischung an Glühwein und Sherry, brach Carina endlich das Schweigen.
>>Du hast an Heiligabend also nichts besseres zu
tun als den Kölner Hauptbahnhof zu besuchen, hörte ich?<<
Und da wurde mir alles klar. Carina Picard besucht ganz
zufällig den gleichen Kurs wie.....
>>Selina, oder?<<
Auf eine sehr charmante Art kniff Carina ihre Augen
zusammen.
>>Dann kennst du doch schon die ganze Geschichte.
Ich werde hingehen. Weder Tom, noch Selina konnten mich bisher davon
abbringen.<<
Und damit wurde mir auch klar, dass Tom und Selina an
dem Abend nach der Weihnachtsfeier mein Gespräch abgehört hatten,
welches mich mysteriös über ein Treffen mit Frau Hangul am 24
Dezember in Kenntnis setzte. Ich war verblüfft und enttäuscht
zugleich. Wir wussten, dass unser Anschluss darüber verfügte, dass
wir gegenseitig unsere Telefonate monitoren können, haben uns aber
geschworen, dieser Sünde zu widerstehen. Zumindest ich hielt mich
immer daran, zumal ich auch nie einen Sinn darin sah, meine Freunde
zu belauschen.
>>Du solltest einer Frau die Chance geben, zu Wort
zu kommen<<, sagte Carina amüsiert.
Ich verzog unbeabsichtigt meine Mundwinkel.
>>Wie soll ich das denn nun verstehen?<<,
fragte ich, beinahe ein wenig eingeschüchtert.
>>Diese Information habe ich nicht von deiner
Mitbewohnerin. Um ehrlich zu sein, wir wechseln im Astronomie-Kurs
nur selten Worte miteinander. Aber es ist nur logisch, dass du sofort
an sie denken musstest. Worauf ich hinaus will, dein Date am
Hauptbahnhof, du solltest dich warm anziehen. Die Personn, die du
dort vorfinden wirst, lässt ihre Verabredung gerne mal warten.<<
Unweigerlich musste ich anfangen zu grinsen. Ich
verarbeitete Carinas Worte, als hätte ich eine größere Menge an
Daten auf eine externe Festplatte verschoben. Ich nahm einen großen,
heißen Schluck aus der Tasse, stellte diese wieder ab und ließ mich
von dem starken Getränk berieseln.
>>Ich verstehe<<, sagte ich. >>Wessen
Idee war es, mich reinzulegen? Benedikt Schwegler? Bitte sag mir
nicht es war Benedikt Schwegler. Ich garantiere dir, wenn er hinter
den Postkarten steckt, ich werde ihm den Arsch aufreißen.<<
Carina schaut mich ungläubig an. Als sei sie empört
darüber, dass ich mich aufrege. Sie führte ihre Tasse zum Mund und
nahm einen kleinen Schluck des noch immer dampfenden Glühwein. Sie
schüttelte leicht mit dem Kopf.
>>Damian Preus, kann es sein, dass dir der
Glühwein nicht so gut bekommen ist? Sei doch mal ehrlich zu dir
selbst, welchen Grund gäbe es, die Echtheit der Postkarten
anzuzweifeln? Nun schau mich nicht so an. Ich habe dich aus einem
bestimmten Grund hierher geführt.<<
Ich war naiv zu glauben eine Frau wie Carina Picard
würde aus sentimental-weihnachtlichen Gefühlen mit mir in eine
gemütliche Bar gehen. Mir war die ganze Geschichte allmählich zu
blöd und ich kam mir auf einmal so dumm vor, mich so sehr in diese
Postkarten-Affäre hineingesteigert zu haben. Die einzige Frage, die
ich mir noch stellte, war, bleibe ich sitzen oder soll ich wortlos
die Bar verlassen? Ich entschied mich, Carina Picard zumindest
ausreden zu lassen.
>>Du musst wissen, worauf du dich da einlässt<<,
fuhr Carina fort. >>Steigst du in den Zug ein, gibt es für
dich erst einmal kein zurück.<<
>>Ich werde also ein Abenteuer bestreiten<<,
gab ich lässig von mir, angetrieben von dem Glühwein.
>>So kann man es sagen. Ich weiß das du nichts
von all dem glaubst was ich dir gerade erzähle. Aber es kommt ganz
alleine auf dich an, ob du diese Geschichte für wahr oder erfunden
hältst. Es gibt nur zwei Optionen für dich. Entweder du gehst, oder
feierst entspannt Weihnachten.<<
Ich nickte ihr zu und speicherte auch diese Worte
aufrichtig auf meine innere Festplatte.
>>Du hast die dritte Option vergessen.<<
>>Ach ja, welche denn?<<
>>Weißt du, was ein Light Gun Shooter ist?<<
>>Nein?<<, antwortete sie ehrlich.
>>Diese Titel waren damals in Spielhallen sehr
beliebt. Der Spieler hielt eine Waffe aus Plastik in den Händen und
durch Infrarot sendeten diese Light Guns ein Signal an den Bildschirm
zurück sobald man den Abzug betätigte. So hat man seine Gegner
beseitigt. Der Spieler bewegte sich aber lediglich auf Schienen. Der
Weg war vorgefertigt, man konnte sich nicht frei bewegen, aber ab und
an konnte man sich zwischen Route A oder Route B entscheiden. Ich
befinde mich gerade auf Route A in diesem doch sehr vorhersehbaren
Szenario. Aber ich weiß das es auf diesen Schienen noch eine weitere
Abzweigung gibt. Manchmal hat man sogar zwischen drei Routen die
Entscheidung. Es gibt mehrere Bahnhöfe. Und genau wie diese Schienen
zu mehreren Bahnhöfen führen, so gibt es auch noch eine Route C.
Vielleicht glaubst du, dass die Welt so einfach gestrickt ist, dass
ich nur die Wahl habe zwischen „Ich gehe“ und „Ich gehe nicht“
habe. Aber die Entscheidungsfreiheit hat noch so viel mehr zu bieten
als du glaubst.<<
Carina sah mich beinahe enttäuscht an und nahm einen
großen Schluck von ihrem Glühwein. Dann blickte sie wieder zu mir
und sah mich wortlos an. Mittlerweile hat der Barmann die Musik
lauter gestellt, diesmal laufen -The Hics – Cold Air-.
>>Du irrst dich, Damian.<<
Ohne das wir viele Worte miteinander wechselten, und ich
mich noch immer nach dem Sinn dieser Konversation fragte, zog sich
Carina ihre Jacke an und verließ, ihre Tasse war noch halb voll,
ihren Platz. Sie legte mir ihre zärtliche Hand auf die Schulter,
griff in ihre Handtasche und zückte einen Briefumschlag,
>>Du solltest einer Frau die Chance geben, zu Wort
zu kommen.<<
Diesmal war sie nicht amüsiert, als sie diese Worte von
sich gab. Es schwang eher ein Bedauern in ihrer Stimme mit. Sie
überreichte mir den Umschlag und verschwand. Ich machte keine
Anstalten, ihr hinterher zu gehen. Das war doch auch meine
persönliche Entscheidungsfreiheit, oder etwa nicht? Nicht einmal der
Inhalt des Umschlags interessierte mich mehr. Viel zu verdutzt war
ich von all der Absurdität und Sinnlosigkeit die mir die letzten
Wochen widerfahren ist. Ich machte also Gebrauch von meiner
Entscheidungsfreiheit und griff zu Carina Picards noch anständig
gefüllter Tasse. Cheers.
24
Dezember 2013
Ich
traf einmal einen Jungen, der wuchs in der Nähe von Peace Village
auf. Obwohl wir aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten kamen,
verstanden wir uns auf Anhieb bestens. Ich war gerade einmal zwölf
Jahre alt und er war wohl kaum mehr als zwei Jahre älter als ich.
Die Slums in diesem kleinen nordkoreanischen Dorf aus dem er stammte,
wirkten arm- und trübselig. Und dennoch herrschte eine optimistische
Stimmung zwischen uns. Ich weiß nicht ob ich in den Jungen verliebt
war. So ein Teenager verliebt sich doch praktisch in jeden Jungen,
der eine leicht rebellische Art an sich hat. Als er mich durch sein
Dorf führte, setzten wir uns an einen alten Brunnen. Der junge
zückte ein altes Taschenbuch in englischer Sprache aus seiner
Jackentasche. Ich warf einen Blick auf das Cover. Im Vordergrund war
eine Frau in leicht geduckter Haltung zu sehen. Dann sah ich eine
Rakete im Hintergrund, die gerade startete. Ganz oben Links im Bild
war das finstere Gesicht eines Mannes zu sehen, doch die Hälfte
blieb durch die abhebende Rakete verdeckt. Ich konnte den Namen des
Autors nicht lesen, aber der Schriftzug Moonraker würde mir für
immer in Erinnerung bleiben. Stolz präsentierte der Junge mir,
dessen Name mir nicht mehr einfällt und ich ihn somit einfach James
nenne, das zerfetzte Buch. Er grinste und schaute mich hoffnungsvoll
an. Ich fragte, worum es in diesem Buch ginge und wo er Englisch
gelernt habe. Er klärte mich kurz über die Handlung auf und
erzählte mir, er habe sich heimlich selbst die Sprache beigebracht.
Zwar könne er nur schlecht Englisch sprechen, aber er würde es
ziemlich gut verstehen. Er kam aus dem schwärmen gar nicht mehr
raus. Er sagte, er wolle gerne einmal ein Geheimagent wie James Bond
werden. Ich fragte ihn, was er als Agent so vorhabe. Ich wette, du
erwartest nun irgendeine patriotische Floskel, oder? Aber dem war
nicht so. James fand einfach keine Antwort auf diese Frage. Wir
fingen beide an wie verrückt zu lachen, dabei wussten wir gar nicht,
was so witzig an der Situation war. Ich erinnere mich noch genau an
die Schneeflocken, die danach vom Himmel fielen, einige davon
bedeckten das Cover des alten Buches. Ich glaube, Damian, selbst
Nordkorea kann man etwas romantisches abgewinnen. Selbst wenn man
sich am finstersten Ort dieser Welt befindet, kommt es doch immer
drauf an, was man aus dieser Situation macht, oder?
Mit
diesen Worten möchte ich mich von dir verabschieden, mein liebster
Damian. Dir diese Postkarten zu schicken erfüllte meine Seele mit
Glück. Ich weiß es klingt kitschig und ich übertreibe maßlos,
aber ich wollte es dir unbedingt einmal gesagt haben. Ich hoffe, du
wirst mich niemals vergessen. In Bester Erinnerung, Deine Hangul.
Ich habe den letzten Bus genommen, der von der
Haltestelle am Studentenwohnheim abfährt. Da Morgen Feiertag ist,
komme ich auch nicht vor 08:00 Uhr am morgen Tage zurück, sollte ich
mich nicht entscheiden, rund 2 Stunden zu laufen.
Es ist nun 22:30 Uhr. Als ich um 22:00 Uhr das Wohnheim
verlassen habe, wünschte ich Tom und Selina einen schönen
Heiligabend und bin, ohne weitere Worte, gegangen. Beide nahmen mich
kaum ernst und wünschten mir ebenfalls einen angenehmen Heiligabend
mit den Zügen. Ich versuchte, die Bemerkung zu ignorieren, ärgerte
mich aber dennoch über sie.
Der Bus ist bis auf ein älteres Ehepaar komplett leer.
Es hat wieder angefangen zu schneien, und die beleuchteten
Hintergründe, die sich vor mir auftun, berieseln mich auf eine
seltsame weise. Ich lasse die letzten Tage noch einmal Revue
passieren und komme mir erneut dumm vor. All diese surrealen
Ereignisse wurden gekrönt von Carina Picard und ihren kryptischen
Bemerkungen. Noch immer frage ich mich, wie konnte ich mich überhaupt
darauf einlassen. Und nicht selten habe ich mir die Frage gestellt,
habe ich jemals diesen Anruf erhalten? Hat das Gespräch mit Carina
je stattgefunden? Hat irgendeiner meiner Kommilitonen mich mit ihr
weggehen sehen? Ich traute mich nicht einen der Anwesenden vom
Weihnachtsmarkt-Aufslug zu fragen. Ich wollte die Antwort einfach
nicht hören. Wie Carina es mir nahelegte, habe ich mich warm
angezogen. Die Kölner Innenstadt baute sich vor mir auf und funkelte
genau so schön wie am gestrigen Abend. Als der Sprachcomputer des
Busses die letzte Haltestelle ansagt, richte ich mich auf. Das ältere
Ehepaar schien ausgestiegen zu sein, ohne das ich es bemerkt hatte.
Ich richte meinen Mantel, atme noch einmal tief durch und verlasse
den Bus.
Auch um 22:40 Uhr am Heiligabend herrscht noch ein
überraschend reger Betrieb am Hauptbahnhof. Meine Hände in die
Jackentasche vergaben, marschiere ich durch diesen riesigen Komplex.
Der Kölner Hauptbahnhof hat unlängst mehr zu bieten als so manche
Kleinstadt in Deutschland. Meine Blicke schweifen gelegentlich auf
die ansässigen Geschäfte ab. Selbst die Imbissbuden haben noch
geöffnet, und hungrig bin ich zufällig auch. Doch eine Currywurst
als Weihnachtsessen? Das bringe ich wirklich nicht über mich,
außerdem würde ich jetzt sowieso nichts runter kriegen. Gleis 10.
Das befindet sich ganz am Ende. Es ist das vorletzte Gleis dieses
Bahnhofes. Noch habe ich rund 20 Minuten Zeit. Vielleicht Zeit, mir
etwas Mut aus der Tasse zu beschaffen. Ich gehe auf einen dieser
kleinen Glühweinstände zu und bestelle mir einen Glühwein mit
einem Schuss Rum. Die hübsche asiatische Verkäuferin schaut mich
gedankenverloren an, als habe sie noch nie einen Deutschen gesehen,
der sich zu solch einer Uhrzeit an so einem bedeutenden Tag an einem
Hauptbahnhof aufhält. Dabei habe ich viele Europäer auf meinen Weg
hierher gesehen.
Nach wenigen Handgriffen reicht mir die Verkäuferin
einen Plastikbecher mit Glühwein. Er ist nicht mehr ganz so heiß
das man sich an ihm verbrennt. Ich bedanke mich bei der Verkäuferin
und lächle.
Ich trinke entspannt meinen Glühwein. Von irgendwo
ertönt ein Song, den ich sogar recht gut kenne. Es sind die Doobie
Brothers mit What a Fool Believes. Ich beginne zu lachen,
der Becher in meiner rechten Hand schwingt dabei unweigerlich mit und
die asiatische Verkäuferin schaut besorgt zu mir. Mit einem
Handzeichen mache ich der Verkäuferin klar das alles in Ordnung bei
mir ist.
Kaum ein anderer Titel würde derzeit besser zu meiner
Situation passen. Ich komme mir weniger wie James Bond vor als viel
mehr der Hauptcharakter in einem Film von Wong Kar-Wai zu sein. Der
gutgläubige Protagonist und die mysteriöse Unbekannte.
>>Darf man mitlachen?<<
Ich war nicht wirklich vorbereitet und wusste auch nicht
genau, woher die angenehme Stimme kam. Weit entfernt konnte sie
allerdings nicht sein. Ich schaue mich verdutzt in alle Richtungen
um, ignoriere aber das, was sich hinter mir abspielte. Und bevor ich
es realisiere, zupft eine Hand an meinem Mantel. Es ist die
asiatische Verkäuferin.
>>Darf man mitlachen?<<, fragt sie noch
einmal freundlich und grinst dabei regelrecht. Ich hätte nach dem
wortkargen Blickkontakt, den wir beide vor wenigen Minuten
ausgetauscht haben, nicht einmal gedacht das sie mich überhaupt gut
versteht. Nicht einmal ein Akzent war bei ihrer Frage, die sich auch
noch einmal wiederholte, zu hören.
>>Gerne. Aber wenn ich dir die Hintrgründe dazu
erzähle, würdest du eher schnell das Weite suchen<<, gebe ich
amüsiert zurück. Sie muss ungefähr in meinem Alter sein, und
denke, die Ansprache mit „Du“ passt besser.
>>Ach was, ich höre jeden Tag die seltsamsten
Geschichten. Ich vertrage das.<<
Erst jetzt mustere ich die Verkäuferin genau. Sie ist
um die 1,75 groß. Sie hat lange, schwarze Haare, zusammengebunden zu
einem Zopf, trägt kaum Make-up, was ihre großen runden, braunen
Augen gut zur Geltung bringt. Sie trägt Arbeitskleidung, und ein
Namensschild auf dem Hyun steht.
Ich schaue auf die Uhr, es ist nun kurz vor 23:00 Uhr.
Ich muss mich beeilen, will aber auch nicht abgedrehter wirken als
ich es vielleicht ohnehin schon bin und wortlos verschwinden. Ich
nehme einige große Schlucke von meinem Becher mit Glühwein und
leere ihn.
>> Seit einiger Zeit erhalte ich Postkarten von
einer mysteriösen Frau Hangul aus Pjöngjang. Sie hält mich für
einen modernen James Bond und durch geschickte Handlungen hat sie
meine Freunde manipuliert und einen Sprachcomputer auf mich angesetzt
der mir mit kryptischen Botschaften dieses Date am heutigen Abend
eingehandelt hat.<<
Ernst schaue ich die Verkäuferin an, doch dann brechen
wir beide in Gelächter aus.
>>Frau Hangul also?<<, gibt die Verkäuferin
amüsiert zurück. Ich nicke.
>>Ich muss zugeben, mit dieser Geschichte
verschreckst du die Frauen eher, anstatt sie zu beeindrucken. Nur mal
so als Tipp. Wann und wo soll dieses Treffen denn stattfinden?<<
Ganz schön neugierig, denke ich mir. Aber ihre lockere
Art erheitert mich. Besonders nach der Unterhaltung mit Carina.
>>In wenigen Minuten auf Gleis 10.<<
>>Da fahren Heute keine Züge mehr.<<
>>nicht?<<
>>Nein.<<
Sie scheint gut informiert zu sein.
>>Ich muss wissen wer oder was da hinter steckt.
Tut mir echt leid, ich muss nun los.<<
Ich werfe den Becher weg und mache mich auf zu Gleis 10,
bis erneut eine Stimme ertönt.
>>Warte!<<
Ich drehe mich um, es ist schon wieder die Verkäuferin.
>>Ja?<<, frage ich etwas nervös.
>>Es ist nun 11. Ich habe Feierabend. Ich möchte
dich gerne begleiten.<<
Habe ich das nun richtig gehört? Diese Frau kennt mich
nicht einmal. Nicht nur locker, sondern auch leichtsinnig. Ich schaue
sie erstaunt an.
>>In fünf Minuten bin ich umgezogen. Okay?<<
Ich schlucke und nicke wortlos.
Ich werde meinen Zeitplan wohl nicht einhalten können,
Frau Hangul. Die Verkäuferin hat den kleinen Stand geschlossen und
ich sehe wie langsam die Jalousien herunter gelassen werden.
Ich warte ungeduldig. Ich schaue erneut auf die Uhr.
23:02 Uhr. Ich bin etwas in Gedanken, da nehme ich einen
süßlich-exotischen Duft wahr. Es ist die Verkäuferin die auf
einmal vor mir steht. Eingepackt in einen cremefarbenen Wintermantel
mit einer viel zu großer Kapuze. Dennoch steht er ihr gut.
Mittlerweile trägt sie ihre Haare offen. Diese reichen ihr fast bis
zum Becken. Ich muss meine Faszination für diese Frau etwas im Zaum
halten.
>>Gehst du jeden Abend auf eine fremde Odyssee mit
irgendwelchen Leuten, die bei dir einen Glühwein kaufen?<<
Sie lacht.
>>Nein, sicherlich nicht. Aber ich habe dich die
letzten Minuten beobachtet. Deine Mimik schwankte sekündlich
zwischen „Ich springe gleich von der Rheinbrücke“ und „Wenn
ich heimkomme umarme ich all meine Liebsten mehrmals“. Als du
angefangen hast zu lachen, hatte ich mir echt Sorgen gemacht.<<
Ich scheine wirklich einen abgedrehten Eindruck gemacht
zu haben.
Aus der Ferne ist bereits die Aufschrift 10 zu sehen.
>>Oh, das mit der Rheinbrücke hätte ich erst
nach diesem Abend erwogen<<, sage ich aus Spaß was sie
gleichzeitig zu verstören und amüsieren scheint. >>Und du
hast am Heiligabend nichts weiter vor, als Glühwein zu verkaufen?<<
>>Meine Familie macht sich nichts aus Weihnachten,
und ich habe damit ebenfalls nicht viel am Hut. Allerdings langweile
ich mich schon den ganzen Abend. Viel los war nicht.<<
Um Punkt 23:05 erreichen wir das einsame Gleis 10. Wenn
Frau Hangul ihre Verabredungen gerne warten lässt, dann wird diese
kleine Verspätung wohl nicht weiter relevant sein.
Wir marschieren die Treppe hinauf. Ein kühler Wind weht
uns entgegen. Es hat noch heftiger begonnen zu schneien. Ich blicke
mich um und sehe einen Intercity vor uns, der genau so einsam wie
dieses Gleis die Schienen beherbergt.
>>Siehst du. Deswegen fahren hier Heute Abend
keine Züge mehr. Der ist liegengeblieben.<<
Auch die elektronische Anzeige über uns scheint bereits
einige Glühweine getrunken zu haben, sie zeigt nämlich nur wirr
angeordnete Buchstaben und Zahlenreihen an. Bis auf die Verkäuferin
und meine Person ist weit und breit keiner zu sehen. Etwas besorgt
schaut mich die Verkäuferin an.
>>Da hinten ist eine Bank, setzen wir uns.<<
Ich nicke ihr zu und wir bewegen uns auf die Bank zu.
Wir haben es uns halbwegs bequem gemacht und sehen den
Schneeflocken dabei zu, wie sie die Gleise weiß färben. Der Anblick
auf das beleuchtete Köln hinterlässt einen unrealistischen Eindruck
auf mich. Wortlos schauen wir uns das Treiben der Schneeflocken an
und wechseln kein Wort miteinander. Die Minuten vergehen und ein
Anflug der Enttäuschung überkommt mich. Es ist die Verkäuferin die
mich aus meiner Melancholie reißt und mir einen Becher mit einem
Heißgetränk hinreicht.
>>Nimm schon<<, sagt sie in einem
freundlichen Tonfall und reicht mir den Becher. Es ist Glühwein. Ich
bedanke mich bei ihr.
>>Erfrieren werden wir hier nicht. Ich habe eine
ganze Thermoskanne davon in meine Tasche gepackt.<<
Schweigend trinken wir unseren Glühwein und schauen auf
die Skyline von Köln. Zumindest auf das davon, was sich vor uns
aufgebaut hat. Gleich halb 12. Mein Blick geht abwechselnd auf die
elektronische Anzeige, die Abfahrt und Ankunft der Züge anzeigt, und
den einsamen Intercity, der seine Fahrt nicht mehr aufnehmen kann. Er
fühlt sich vermutlich gerade genau so leer wie ich. Aber noch will
ich nicht aufgeben.
>>Ich denke, die Geschichte ist weitaus
unspektakulärer ausgegangen als du angenommen hast<<, sage ich
und breche das Schweigen. Sie streckt sich und kichert.
>>Du bist nicht schon einmal auf die Idee
gekommen, dass dich wer verarscht haben könnte?<<
Als sie das sagte,
habe ich vor lauter Schreck beinahe meinen Becher fallen lassen.
Diese Frau, die ich gerade erst kennengelernt habe, hat mich auf das
Offensichtlichste aufmerksam gemacht. Obwohl es zuvor zwei gute
Freunde von mir taten, war ich verblendet von irgendwelchen
Postkarten und Kommilitonen, die vermutlich nur einen Teil ihrer
Rolle für dieses Theaterstück spielten. Ob ich jemals den Regisseur
hinter all dem kennen lernen werde, bleibt abzuwarten. Ich ärgere
mich nur über mich selbst, dass ich nichts anderes getan habe, als
mich für Route A zu entscheiden. Oder habe ich mich, ohne das es mir
wirklich aufgefallen ist, bereits für eine andere Route entschieden?
Was erwartet mich? Das Good Ending? Das Bad Ending oder vielleicht
sogar das Comedy Ending? Letzteres wird dann wohl so auffallen das
auf einmal die Lichter in diesem trostlosen Intercity angehen, Meine
Kommilitonen aus dem Zug gestürmt kommen, und die asiatische
Verkäuferin neben mir ihre Maske abnimmt, und das Gesicht von Carina
Picard zum Vorschein kommt.
>>Nun, ich habe ein Fable für abstrakte
Geschichten<<, sage ich zu ihr und grinse ebenfalls.
>>Ich heiße Damian.<<
>>Ich bin Hyun-Jin. Das hast du vermutlich auf dem
Namensschild schon gesehen. Die Kurzform reicht aber.<<
Hyun-Jin. Klingt nicht ganz so einfach wie Hangul, aber
wesentlich schöner.
Nach knapp 30 Minuten des Schweigens zeigt der Glühwein
allmählich seine Wirkung und wir beide haben uns in ein
ausführliches Gespräch vertieft. Dabei reden und lachen wir wie
zwei gute Freunde, die sich zwar noch nie gesehen haben, sich aber
seit vielen Jahren Postkarten schreiben. Die Zeit verrennt und im
Intercity bleibt es dunkel. Lediglich bei der elektronischen Anzeige
hat sich mittlerweile was getan, diese wurde nämlich ausgeschaltet.
Das Schneetreiben wird heftiger doch der Glühwein hält
uns warm. Ich glaube, ich bin ein wenig beschwippst. Ich schaue auf
die Uhr, 0:30. Frau Hangul scheint einen echt gerne warten zu lassen.
Im Gespräch hat mir Hyun erzählt, dass sie seit über
15 Jahren in Deutschland bei einer Pflegefamilie lebe. Sie war über
meine Geschichte deshalb so verblüfft, weil ihre leiblichen Eltern
aus Nordkorea stammen. Die Gründe, wie sie genau nach Deutschland
kam, wollte sie mir jedoch nicht nennen. Sie lebt zwar hier in Köln,
studiert aber Sprachwissenschaften in Düsseldorf.
>>Es ist nun kurz vor 1. Glaubst du wirklich,
deine Frau Hangul wird noch auftauchen?<<
>>Eigentlich habe ich nicht einmal dran gedacht,
als ich mein Studentenwohnheim verlassen habe und in diesen Bus
gestiegen bin. Ich weiß selbst nicht so wirklich, warum ich hier
bin.<<
>>Was tun wir dann noch hier? Mit wird kalt, und
ich wohne nicht sehr weit vom Bahnhof entfernt. Du kannst bei mir
bleiben, bis die Busse wieder fahren, oder sogar zum Frühstück,
falls du magst.<<
Ein verlockendes Angebot. Zu verlockend? Ich weiß nicht
ob es der Alkohol ist oder eine Stimme, die der Wind mit sich weht,
und mir sagt das hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung zu sein
scheint. Aber ich kann noch nicht genau ausmachen, was genau es ist.
>>Du hast recht. Ich habe aber eine Bitte. Lässt
du mich noch eine halbe Stunde allein? Du musst mir nur mitteilen wo
du.....<< da unterbricht sie mich schon.
>>Ich weiß was du sagen willst. Du hast einige
anstrengende Tage hinter dir und möchtest nun mit dieser Geschichte
abschließen. Ich will sowieso noch etwas Glühwein aufwärmen. Der
Stand gehört meinem Stiefvater, ich kann rein und rausgehen wann ich
will. Ich werde noch etwas Glühwein aufwärmen, dann treffen wir uns
um halb 2 wieder am Stand und gehen gemeinsam zu mir.
>>Klingt super<<, sage ich.
>>Frohe Weihnachten, Damian<<, sagt sie und
streicht mit ihrer behandschuhten Hand durch mein Gesicht. Ich zucke
vor Überraschung zusammen. Diese Geste kam mir sehr bekannt vor.
Doch auch diese Geste kann ich gerade nicht zuordnen. Es fällt mir
überhaupt schwer, klare Gedanken gerade zu fassen. Wieso fühle ich
mich zu einer Frau so dermaßen hingezogen, die ich gerade erst
kennen gelernt habe?
>>Dir auch. Und danke das du mit mir hier
ausgeharrt hast.<<
Hyun zwinkert mir zu und schon bald ist in der
Finsternis nur noch eine Silhouette zu erkennen, bis sie auf einmal
ganz verschwunden ist.
Ich atme die kalte Winterluft ein und lasse die letzten
Tage und Wochen Revue passieren. Die Luft und der Alkohol haben mich
so müde gemacht, ich könnte sofort einschlafen. Aber Geheimagenten
dürften nicht so einfach einschlafen. Ich habe jegliches Zeitgefühl
verloren. Ich schaue erneut auf meine Uhr. 23:05 Uhr. Ich erschrecke,
zucke noch einmal heftigst zusammen. Was zur.....?
Ich stehe auf und bemerke das der Bahnsteig sich
verändert hat. Da, wo gerade noch Hyun die Treppen hinuntergestiegen
ist, ist nur noch eine von schneebedeckte Fläche. Ich laufe den
Bahnsteig rauf und runter, doch es gibt keinen Ausgang mehr.
>>Hallo? Ist noch jemand da?<<
Ich rufe.
Vergeblich. Was soll ich nur tun. Bin ich eingeschlafen und träume?
Ich werde von irgendwas geblendet. Es ist die elektronische Anzeige,
die wieder eingeschaltet ist. Die wirr angeordneten Buchstaben und
Zahlenreihen sind wieder da. Aber es tut sich was. Sie setzen sich zu
etwas zusammen.
Intercity
A90 Nach Pjöngjang
Abfahrt
23:30
Ankunft
Unbekannt
Nur wenige Sekunden später gehen die Lichter in dem mit
Schnee bedeckten Intercity an. Mittlerweile hat sich ein so starker
Nebel auf dem Bahnsteig gebildet, dass ich kaum noch was erkennen
kann. Es ertönt die Durchsage einer Frau. Ich verstehe jedoch kein
Wort da sie koreanisch spricht. Ein heftiger Schauder überkommt
mich. Ich laufe zu dem Intercity, dieser öffnet bereits seine Türen.
Alle fünf Waggons sind mittlerweile beleuchtet. Ohne mir weitere
Gedanken über das Spektakel hier draußen zu machen steige ich in
den Zug. Zumindest dieser ist eingerichtet wie ein gewöhnlicher
Intercity. Der Nebel draußen ist nun so stark das ich nichts mehr
erkennen kann. Ich muss wissen, was hier vor sich geht. Doch wo soll
ich hin? Ich kämpfe mich bis Abteil 1 durch, doch keine
Menschenseele ist zu sehen. Keim Kommilitone wäre zu solch einem
aufwendigen Spektakel fähig. Resigniert setze ich mich auf einen der
Sitze. Erneut ertönt eine Durchsage in koreanischer Sprache. Und mit
der Beendigung dieser Worte schließen sich alle Türen. Selbst wenn
ich jetzt noch raus wollte, draußen kann ich nichts mehr sehen. Also
bleibe ich sitzen und warte was passiert. Ja, genau, genau das werde
ich tun. Unter mir bemerke ich leichte Bewegungen, ich spüre, das
dieser Zug sich bewegt. Der Nebel der sich vor mir aus dem Fenster
erstreckt zieht auf einmal wie ein Windstoß an mir vorbei. Dieser
Zug beginnt seine Reise. Ich kralle mich an die Sitze, Angst
überkommt mich und alle möglichen Gedanken spuken mir durch den
Kopf. Aber sind das wirklich meine Gedanken, oder sind es die einer
anderen Person?
Ich wende den Blick von dem Fenster ab und habe nicht
bemerkt das mir mittlerweile jemand gegenüber sitzt. Es ist eine
Frau. Eingehüllt in einem Schwarzen Kleid, lange Haare so Schwarz
wie die Nacht. Ihre Augen sind bedeckt von einer großen
Sonnenbrille. Abgerundet wird all das durch einen eleganten Damenhut.
Zwar kann ich nicht in ihre Augen sehen, aber es besteht kein
Zweifel, dass auch sie ist Asiatin ist. Sie lächelt mir zu. Es ist
ein angenehmes lächeln was mir ein wenig Trost spendet in diesen
fürchterlichen Augenblicken. Ich kralle mich noch immer am Sitz fest
und wage es nicht zu sprechen.
>>Es tut mir leid Damian, ich habe mich verspätet.
Ich hoffe, du hattest gute Gesellschaft.<<
Ich kann nichts weiter tun außer zu nicken.
>>Bitte, entspann dich<<.
Die Stimme dieser Frau klingt sanft und wirkt
gleichzeitig beruhigend. Ich lockere meine angespannte Haltung und
löse die Hände vom Sitz.
>>Sehr gut.<<
>>Was geht hier vor sich?<<
>>Was glaubst du?<<
>>Schluss damit. Ich will wissen was die letzten
Wochen und Heute los war. Stehe ich unter Drogen? Was war in diesem
Glühwein. Glauben sie, ich weiß nicht, dass mir irgendwer was
untergemischt hat?<<
>>Beruhige dich Bitte, Damian<<, redet sie
auf mich ein. >>Möchtest du, dass ich dir alles erkläre?
Antworte nur mit Ja oder Nein.<<
Ich gebe auf. Rebellieren führt zu nichts.
>>Gut. Je mehr
ich dir das, was ich dir nun erzähle, fortführe, umso mehr wirst du
dich selbst erinnern können. Zuerst einmal, es war nicht leicht,
dich zu erwischen. Ich habe es mit Postkarten versucht, mit einem
Anruf und mit Freunden von dir. Aber du hattest immer noch Zweifel in
dir und wärst niemals in diesen Zug gestiegen. Zu viele Gedanken
plagten dich noch, und du konntest nicht loslassen. Aber gewisse
Dinge mussten einfach geschehen, damit du Sie noch einmal wiedersehen
konntest. Und ich bin froh, dass es geklappt hat.<<
>>Sie?<<, frage ich, völlig perplex.
>>Hast du es immer noch nicht begriffen? Die
Berührung? Dieser Moment kam dir doch vertraut vor. Hier, schau dir
das an.<<
Die Frau vor mir reicht mir ein Foto. Skeptisch nehme
ich es entgegen. Ich betrachte es. Meine Hände fangen an zu zittern.
Meine Augen.....
Und dann kann ich mich nicht mehr halten und lasse den
Tränen ihren freien lauf.
Ich kenne diese Frau auf dem Foto. Aber wieso berührt
mich das so? Das ist..... Hyun-Jin. Nur viele Jahre älter. Von ihrer
Schönheit hat sie kaum etwas eingebüßt.
>>Was soll das?<<
>>Möchtest du den Sinn hinter all dem nun hören?
Möchtest du wissen, was mit dir vorgeht. Bedenke. Sobald du die
Wahrheit akzeptierst, gibt es kein zurück mehr. Erinnerst du dich
noch, als du von Routen gesprochen hast, die du einschlagen kannst?
Man hat oft in seinem Leben mehr als eine Route, der man folgen kann.
Es gibt vorgegebene Wege, und Wege, die man frei wählen kann. In
diesem Falle hast du aber nur 2 Routen, die dir zur Verfügung
stehen. Eine lange Zeit hattest du jedoch nur eine. Nun kannst du
dich entscheiden. Möchtest du wissen was hier vor sich geht, oder
nicht? Entscheidest du dich für Ja, wird dieser Zug seinen Weg
fortsetzen. Entscheidest du dich dagegen, bist du hier in wenigen
Minuten wieder raus.<<
Ich kralle mich erneut an dem Sitz fest. Ich will
endlich wissen, was hier vor sich geht. Egal wie unangenehm die
Wahrheit sein wird.
>>Erzähl mir alles.<<
>>Ich freue
mich über deine Entscheidung, Damian. Diese Geschichte begann vor
über 27 Jahren in Köln. Ein Mädchen, ein Flüchtling aus
Nordkorea, lernte einen aufgeweckten Jungen kennen. Sie war zwölf,
er vierzehn. Das Mädchen hatte nicht viele Freunde in ihrer neuen
Heimat und verbrachte häufig ihre Zeit alleine auf dem Spielplatz in
der Nähe des Mehrfamilienhauses, in dem es mit ihren Eltern wohnte.
Der aufgeweckte Junge schloss jedoch schnell Freundschaft mit dem
Mädchen, welches so große Probleme mit der deutschen Sprache hatte.
Von Tag zu Tag kamen die beiden aber besser miteinander zurecht. Der
Junge war ein großer Fan von einem Geheimagent namens James Bond.
Jeden Tag, egal welche Jahreszeit herrschte, las der Junge ihr aus Moonraker
vor. So lange, bis das Mädchen allmählich die Texte verstand.
Natürlich war das Mädchen nicht dumm, und jeden Abend las es und
hat viel Arbeit investiert, sich die deutsche Sprache so gut es ging anzueignen.
Man konnte nicht sagen, dass die Aussprache gut war, aber die kleine
verstand das meiste. Drei Jahre pflegten der Junge und das Mädchen eine
aufrechte Freundschaft, und als er siebzehn und sie fünfzehn war,
bemerkten sie, dass sie mehr füreinander empfanden. Die beiden
gestanden sich gegenseitig ihre Zuneigung, die jeder für den anderen hegte. Aber viele
Liebesgeschichten haben meistens kein Happy End, und so kam es, dass
das Mädchen in ihre Heimat zurückkehre, nach Korea. Allerdings nach
Seoul, Südkorea. Die beiden schworen sich, den Kontakt zu halten.
Erst waren es Briefe, später aber gab es einfachere Möglichkeiten
wie Mails oder Skype. Beide gingen ihren Weg, verloren sich aber nie
aus den Augen. Die strenge Hand des Vaters verbot dem Mädchen aber,
die Heimat zu verlassen. Der eigenwillige Junge verlor über die
Jahre etwas seine Unbekümmertheit. Aus Freundschaften machte er sich
auf einmal nicht mehr so viel, und obwohl er bei den Mädchen nicht
unbeliebt war, war er nicht an Beziehungen interessiert. Nur das
Mädchen aus Nordkorea interessierte ihn. Einige Jahre später; der
Junge studierte bereits, und auch das Mädchen studierte, und zwar
Sprachwissenschaften. Deutsch sprach sie mittlerweile fließend. Als
das Mädchen dem Jungen sagte, sie werde ihr Studium in Deutschland
fortsetzen, nämlich in Düsseldorf, freuten sich die beiden
übermäßig. Nach so vielen Jahren würden sie sich endlich wiedersehen. „Hättest du nicht schon Lust, wenn ich dich Weihnachten
besuchen würde?“, fragte das Mädchen den Jungen. Dieser willigte
überglücklich ein. Es sollte der 23 Dezember 2013 werden, durch
einen Schneesturm flog die nächste Maschine aber erst später ab und
so verschob sich der ohnehin schon lange Flug auf den 24 Dezember.
„Auf einen Tag kommt es auch nicht mehr an“, sagte sich der
Junge. Am Hauptbahnhof Köln sollte sie jener Junge abholen, doch
dieser ist nie zum angegeben Treffpunkt aufgetaucht. Denn wie so
viele Liebesgeschichten hatte auch diese kein Happy End. Erneut. Der
Junge traf am Abend am 23 Dezember eine Kommilitonin auf dem
Weihnachtsmarkt. Diese konnte ihn noch zu mehreren Glühweinen in
einer gemütlichen Kneipe überreden. Der Junge trank vielleicht eine
oder zwei Tassen zu viel. Doch den Treffpunkt am morgigen Abend würde
der Junge nie vergessen. Hauptbahnhof
Köln, 23 Uhr, Gleis 10.
Es könne auch etwas später werden, sagte das Mädchen aus Korea
ihm. Der Junge und die Kommilitonin verließen die Kneipe,
verabschiedeten sich und jeder ging seines Weges. Der Junge war etwas
unsicher auf den Beinen, und draußen herrschte Glatteis. Das Wetter
war diesen Winter unbeständig und es war häufig nasskalt, anstatt
das es, wie üblich im Winter, schneite. Wie der Zufall es so wollte,
knickte der Junge auf dem Weg zu seinem Studentenwohnheim um. Es war
ein ganz gewöhnlicher Sturz, kaum der Rede wert. Es war nur eine
kleine, falsche Bewegung. Allerdings war die Landung das Problem.
Der Junge schlug sich fürchterlich seinen Kopf auf, verlor das
Bewusstsein und sollte es niemals mehr zurückerlangen. Dieses
Unglück ereignete sich vor über 15 Jahren. Heute ist der 24
Dezember 2028, und noch immer findet der Junge keine Ruhe. Das
Mädchen wurde mittlerweile zu einer Frau, und noch Heute besucht sie
den Jungen, der nun im Körper eines erwachsenen Mannes lebt, häufig
an seinem Krankenbett. Mittlerweile hat der Junge sich aber so sehr
verlaufen, dass er in einen Strudel geraten ist, aus dem es kaum noch
ein Entkommen gibt.<<
Ich vernehme ein rauschen. Es ist ein sehr angenehmes
rauschen. Der Zug fährt weder zu schnell, noch zu langsam. Es ist
genau richtig so. Mir laufen noch immer Tränen die Wange herunter.
Aber es ist nicht schlimm, denn ich weiß endlich, woher sie kommen.
Es sind meine Tränen. Und es sind meine Gedanken. All das gehört
mir. Ich bin erleichtert, erleichtert all das endlich wieder zuordnen
zu können. Dabei war es so einfach. Natürlich, das Mädchen aus
Pjöngjang, das war Hyun. Und die Frau, die da gerade vor mir sitzt,
ist keine geringere Person als Frau Hangul. Die Frau, warum ich
überhaupt all das hab über mich ergehen lassen.
Frau Hangul lächelt. Mit ihrer rechten Hand streicht
sie mir die Tränen aus dem Gesicht. Dann nimmt sie endlich ihren Hut
und ihre Sonnenbrille ab. Dann werden auch ihre Augen glasig. Und
Tränen scheint diese Frau schon häufig vergossen zu haben. Hyun hat
sich kaum verändert. Natürlich, sie ist fraulicher geworden, aber
das steht ihr echt gut. In dieser Erscheinung müsste sie, sollte sie
mir die Wahrheit gesagt haben, Ende Dreißig sein.
>>Hätte ich mich für die andere Option
entschieden, wäre alles so weitergegangen wie bisher, habe ich
recht?<<
Frau Hangul, ich meine, Hyun, nickt.
>>Ja. Sobald du dein Schicksal nicht akzeptierst,
startet deine Welt neu, und du reist 9 Monate zurück. Dabei erlebt
du nicht immer die gleichen Dinge. Nein, du siehst andere Leute,
führst neue Unterhaltungen, etliche Ereignisse spielen sich anders
ab. Aber am Ende wirst du immer wieder einsam am 24 Dezember 2013 am
Kölner Hauptbahnhof sitzen. Kurz nachdem der neue Tag anbricht,
wachst du wieder im Studentenwohnheim auf, und nimmst die erste
Postkarte in Empfang.<<
Hyuns Worten ist nichts mehr hinzuzufügen. Ein anderes
Ich von mir, mein wahres Ich, steckt nun also in dem Körper eines
Mannes, der sich in seinen Vierzigern befindet. Seit 15 Jahren im
Koma. Eine Information, die man mir anscheinend sehr lange
vorenthalten hat.
>>Verdammte
Carina Picard<<, lache ich und schließe meine Augen dabei. Da
sind sie alle wieder. Meine Erinnerungen. Das war der Abend an dem
ich Carina Picard hätte abschleppen können. Aber es bestand kein
Zweifel darin, dass ich mich dagegen entschied. „Du
solltest einer Frau die Chance geben, zu Wort zu kommen.“
Mehrere male wollte sie mir irgendwas wichtiges an diesem Abend
erzählen, aber ständig unterbrach ich sie. Wieso habe ich das
getan? Seltsam, diese Erinnerung fehlt mir. Als ob jemand diese Datei
gelöscht hat.
Zumindest ein letztes mal will ich Hyun berühren. So
viele Jahre musste ich warten. Ich strecke meinen Arm aus und will
ihre Hand greifen, doch sie zieht sie weg.
>>Es geht nicht. Es war schon zu viel, dich zu
berühren. Ich mag zwar so aussehen wie die echte Hyun-Jin, und ich
mag ihre Erinnerungen beherbergen, aber dennoch bin ich praktisch
nichts als ein böser Geist, der deine Welt zerstört. Ich weiß
nicht was bei einer weiteren Berührung passieren würde.<<
Ich nicke zustimmend. Eine Frage interessiert mich
dennoch.
>>Sag mir, weißt du denn, was die echte Hyun
momentan tut? Wie geht es ihr<<
>>Die Antwort würde dich nur noch trauriger
machen.<<
Ich lächle, und es ist aufrichtig.
>>Hyun, ohne dich würde ich immer noch wie ein
Zombie durch einen Traum wandeln. Es gibt nichts mehr, was mich noch
traurig machen könnte. Ich möchte endlich aus diesem nicht enden
wollenden Alptraum aufwachen. Aber ich möchte noch so viel erfahren.
Verrate mir wenigstens, wie es der echten Hyun geht.<<
>>Leider darf ich dir nichts über die Welt aus
dem Jahr 2029 erzählen. Aber, ja, ich kann dir sagen was die echte
Hyun-Jin tut. Sie hat eine eigene Firma gegründet, und davon sogar
eine Zweigstelle in Seoul eröffnet. Sie ist erfolgreich und verdient
auch eine menge Geld. Unter anderem finanziert sie auch das
Pflegeheim, in dem du gerade liegst, und so ruhig auf deinem
Krankenbett verweilst, als würdest du nur einem leichten Schlaf
nachgehen. Hyun hat einen Mann aus Seoul geheiratet und gemeinsam
haben sie drei Kinder. Zwei davon sind Mädchen.<<
3 Kinder? Da war sie aber ziemlich tüchtig.
>>Verstehe. Vielen Dank für die Informationen.
Eine letzte Frage. Du bist nicht die echte Hyun, aber ein Abbild von
ihr. Wie kommst du in diese Welt?<<
Sie schaut mich verlegen an.
>>Ich habe zwar auch meine eigenen Gedanken, aber
größtenteils bin ich die Manifestation der Gedanken aus der
Vergangenheit und Gegenwart von dir und Hyun-Jin. Es sind die
Erinnerungen von dir an Hyun-Jin aus eurer Kindheit, und Hyun-Jins
jetzige Erinnerungen, die dich, obwohl du im tiefsten Koma liegst,
dennoch erreicht haben. Sie hat dir häufig aus Moonraker vorgelesen.
Es war diese Geste aus eurer Kindheit, die sie niemals vergessen
wird.<<
Noch einmal muss ich schlucken. Aber ich habe nun genug
gehört.
>>Ok. Verrate mir, wie ich diesen Alptraum endlich
beenden kann.<<
>>Gerne. Die Voraussetzungen hast du alle bereits
erfüllt. Wenn du endgültig bereit bist, schließe deine Augen. Dann
werde ich diesen Zug verlassen. Du allerdings wirst sitzen bleiben,
deine Augen geschlossen halten und bis zur Endstation fahren. Du
wirst allmählich müde werden und deinen wohlverdienten Schlaf
finden. Eine lange Zeit ist vergangen, Damian, Zeit, diesen
anscheinend nicht enden wollenden Alptraum zu beenden.<<
>>Ich bin bereit<<, sage ich zu Hyun und
schaue sie noch einmal an. Speichere dieses Bild auf eine externe
Festplatte mit der Hoffnung, sie noch einmal irgendwann
wiederzusehen. Sie steht auf, macht sich zum Abschied bereit, will
mich mit ihrer Hand noch einmal berühren, lässt von diesem Gedanken
aber ab, weil sie die Konsequenzen nicht kennt und verlässt mit
einem hoffnungsvollen Gesichtsausdruck das Abteil. Und auch ich halte
mich an die Regeln. Ich schließe meine Augen. Der Zug nimmt
allmählich an Fahrt auf. Ich bemerke ein leichtes ruckeln, doch es
fühlt sich angenehm an. Ich werde schläfrig, kann kaum noch klare
Gedanken fassen. Immer schneller fährt der Zug zu einer mir
unbekannten Destination. Noch immer muss ich an die Postkarten von
Frau Hangul denken. Wer sie wohl war? Und wieso schreibt sie so mit
mir, als würde ich sie schon Jahre kennen? Doch bevor ich mir
darüber Gedanken machen kann, bin ich in einen tiefen Schlaf
gefallen.
25
Dezember 20XX
Ich schrecke auf. Es kommt mir vor als wache ich aus
einem Traum auf, der viele Jahre andauerte. Ich fühle mich schlapp,
völlig mitgenommen. Dabei sollte ich doch eigentlich erfrischt sein.
Ich habe Probleme, mich aufzurichten. Meine Knochen fühlen sich hart
wie Blei an. Der Raum ist relativ dunkel, ich erkenne kaum etwas. Auf
meiner Bettdecke erblicken meine noch immer in Schlaf getränkten
Augen etwas. Es sieht aus wie eine Karte, ja, eine Postkarte. Ich
strecke meinen Arm zu ihr aus und mit aller Kraft, die ich gerade
besitze, greife ich mir die Postkarte. Sie ist völlig weiß,
lediglich ein kleiner Text ist darauf geschrieben. Ich versuche, die
Poststempel zu erkennen. Einer scheint aus Deutschland zu stammen,
doch die anderen kann ich nicht zuordnen. Diese Postkarte scheint
viele Länder gesehen zu haben. Der Text. Was steht da bloß drauf?
James? James..... kehrt. Der Text, irgendwie kommt er mir so bekannt
vor. Ja, nun erkenne ich, was da steht. „James Bond kehrt zurück
in: Kommunistische Grüße aus Berlin“.
Ich muss lachen, weiß aber nicht einmal, wieso. Ich
lege die Postkarte zurück auf die Bettdecke und muss mich nun erst
einmal sammeln. Ich bin sicher, dass ich dem Inhalt dieser Postkarte
nachgehen werde, aber erst einmal muss ich es schaffen, dieses Bett
zu verlassen. Sieht ganz so aus als müssten auch Geheimagenten erst
einmal kleine Dinge verrichten, bevor sie sich den großen widmen
können.
Ende
Autor: Aufziehvogel
Autor: Aufziehvogel
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