Ich kann es kaum fassen. Wenn ich nicht komplett jegliches Zeitgefühl verloren habe, so ist es nun beinahe 3 Jahre her als mein verehrter Blogger und Kumpel Julian aka Salvo und ich ein kleines Projekt starteten. Da wir beide verliebt in die kurze Geschichte sind, wieso dann nicht einmal gemeinsam eine schreiben? Aber gemeinsam eine Geschichte zu schreiben ist oftmals komplizierter als es sich anhört. Also einigten wir uns auf ein gemeinsames Thema. Nach einiger Überlegung stimmten wir beide einem Etablissement zu, welches wir alle bestens kennen. Nein, es war nicht das Rotlichtgewerbe, sondern die Hotelbranche. Hotels besitzen ihren ganz eigenen Charme. Ob heruntergekommen oder eleganter Komfort, Zimmer haben immer ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Und bei einem Hotel sind das verdammt viele. Beide Geschichten, die daraus entstanden sind, haben uns gegenseitig gepushed und gleichzeitig motiviert.
Nun schreiben wir bereits das Jahr 2014. Sowohl Salvo als auch der Aufziehvogel haben schon lange keine Kurzgeschichte mehr auf das virtuelle Papier gebracht. Wir stellten uns die Frage (die stellten wir uns allerdings schon im Jahr 2013), ob wir uns noch einmal gegenseitig antreiben könnten. Wir planten weder eine Challenge noch einen Wettbewerb, wir wollten einfach wissen, ob uns die virtuelle Tinte uns ausgegangen ist, oder der Füller noch Saft hat. Da der Aufziehvogel aber nicht unbedingt von der schnellsten Sorte ist, dauerte es etwas länger bis wir dieses Projekt umsetzen konnten.
Bei der Thematik waren wir uns aber recht schnell einig. Diesmal sollten es Bahnhöfe werden. Stephen King und Haruki Murakami haben längst bewiesen das man interessante Geschichten über Bahnhöfe erzählen kann. Also wollten wir uns auch mal an dieses Thema wagen.
Was dabei herausgekommen ist, könnt ihr in zwei mehr oder weniger kurzen Geschichten lesen. Ich will jedoch dem Gast den Vortritt lassen und in diesem Zweiteiler die Geschichte von Salvo zuerst präsentieren.
Unterwassertheater ist eine unglaublich atmosphärische Geschichte die viele Geheimnisse birgt. Ich habe sie gleich zweimal gelesen, um hinter diese Geheimnisse zu kommen. Realismus und surreale Elemente verschmelzen miteinander und formen eine einzigartige Erzählung.
Ich wünsche viel Spaß beim lesen und hoffe, ihr seid auch bei Teil 2 wieder dabei. Die komplette Geschichte wird euch angezeigt, sobald ihr den kompletten Artikel angeklickt habt.
Unterwassertheater
Der Saal verdunkelte sich, die Scheinwerfer sprangen an und der Vorhang öffnete sich. Er legte die Sicht auf die Bühne frei, durch deren Boden ein langes Zuggleis führte, mit Schrauben fest im Boden verankert, die Schienen aus Eisen gegossen und mit Holzschwellen in gleichmäßigen Abstand gebracht. Darunter ein Bett aus Kies.
Kälte füllte den Raum und und umhüllte meinen Körper. Ich befand mich auf der Zuschauertribüne. Saß nur da in einem Sitz in der mittleren Reihe und rührte mich nicht. Die Umgebung kleidete sich in Dunkelheit, nur die Oberfläche des Gleises glitzerte leicht im Scheinwerferlicht. Es war nicht auszumachen, woher das Gleis kam und wohin es führte. Es war nur eine Aneinanderreihung, eine schier endlose Verkettung derselben seelenlosen Holzschwellen, immer und immer wieder.
So saß ich still in meinem Sitz und wartete auf den Beginn der Schauspiels. In meinen Ohren das erwartungsvolle Pochen meines Herzens.
Ich lehnte mich zur Seite, um meinen Sitznachbarn nach dem Inhalt der Aufführung zu fragen, doch die Sitze links und rechts von mir waren leer. Ein leises Knartschen entstand, als ich mich aus dem gepolsterten Sitz begab, um durch den Saal zu schauen. Niemand da. Ich starrte einige Zeit in die Luft, wartete, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen würden. Und je länger ich schaute, umso deutlicher konnte ich die Leere im Saal wahrnehmen, auch wenn ich spürte, dass noch jemand in meiner Nähe war.
Das Schlimmste, was einem in der Dunkelheit passieren kann, ist das Alleine Sein und der Gedanke an die Tatsache, niemanden zu haben, an den man sich wenden kann. Dieses unangenehme Gefühl des Verloren Seins. Ich kenne nur eine Person, die vermutlich nicht so dachte. Marie. Sie war eine Person, die wohl am liebsten in dieser, meiner jetzigen Einsamkeit versunken wäre. Sie war nicht normal, das wusste ich schon, als ich sie in meiner Kindheit kennenlernte.
Ich befand mich damals auf einem Ausflug mit meinen Eltern in einem Aquarium nähe meiner Heimatstadt. Es war in den ersten Schulferien meines Lebens. Ich fand es faszinierend, diesen Tieren des Meeres zuzuschauen, wie sie durch das Wasser glitten oder sich einfach nur treiben ließen. Sie schienen eine innere Ruhe zu besitzen, die ich als Kind bis dahin in keinem anderen Lebewesen sehen konnte, außer vielleicht mir selbst. Ich liebte diese Tiere so sehr, dass ich mir oft vorgestellte, selbst mit ihnen im Wasser zu schwimmen. Keine Luft holen, nicht bewegen, nur treiben lassen. Ich verlor mich gerne mit meinen Gedanken in den Becken, in denen verschiedene kleine Fischgattungen aus den verschiedensten Meeresräumen lebten. Dabei hatte ich besonders die Korallenbecken lieb gewonnen, in denen auch neben diversen anderen auch meine Lieblingsfische, die Anemonenfische schwammen. Sie glitten an mir vorbei, versteckten sich zwischen den Anemonen und kreisten im Aquarium umher. Sie schienen durch meinen Kopf zu schwimmen. Es war wie Hypnose. In genau diesem Zustand befand ich mich, als ich dieses eine Mädchen traf.
Marie, anfangs nur eine Stimme von vielen neben mir, durchbrach die Stille in meinem Kopf mit einem Kichern. In der realen Welt ging es vermutlich in dem Gerede andere Menschen um uns herum unter, doch in meiner eigenen Welt mit den Fischen, war es wie ein massiver Anker, der ein Loch ins Korallenriff riss. Die Fische schwammen aufgeregt umher und mit einem Ruck wurde ich zurück an die Oberfläche gezogen. Das Geräusch klarte auf, wurde heller, bis ich wieder außerhalb des Aquariums stand. Neben mir das kichernde Mädchen. Sie amüsierte sich über etwas, das sich im Becken vor uns ereignete. Ich schaute sie für einen Moment verärgert an, doch folgte mein Blick nur kurze Zeit später ihren, um zu sehen, was sie in eine solch fröhliche Stimmung versetzte.
Es war schwer für mich, dies nachzuvollziehen, doch als ich bemerkte, was ihre Aufmerksamkeit erhascht hatte, durchfuhr mich ein Schock. Es war ein Fisch, der einen anderen aß, oder vielmehr die flockigen Überreste dessen sich im Wasser auflösenden Körpers. Für mich als Kind, empfand ich dieses Ereignis als einen Bruch in meiner Welt, doch war es nur die bittere Realität, die man als Erwachsener, aber nicht wie ich als Kind, bereits wahrgenommen hatte. Und dieses Mädchen neben mir lachte darüber.
Als sie bemerkte, dass ich das gleiche Geschehen wie sie beobachtete, zeigte sie mit dem Finger in die Richtung des kannibalischen Aktes und machte mich noch einmal auf das Vorgehen aufmerksam. Nur eine Sekunde später zogen mich meine Eltern weiter, ohne zu wissen, was sich gerade in meinem kindlichen Inneren abgespielt hatte. Ich sah Marie erst wieder, als ich nach dem Ende der Ferien wieder in die Schule ging und sie auf dem Schulhof bemerkte. Ich hatte sie nie in der Zeit vor dem Aquariumsbesuch wahrgenommen, doch nun schien sie ein sichtbarer Teil meines Alltags geworden zu sein. In den folgenden Jahren, hatte ich zwar keinen Kontakt mit ihr, doch sah ich sie unter Woche stets während der Schulpausen alleine auf einer Bank sitzen, wie sie andere Kinder beobachtete als sei das, was sich vor ihr abspielte nur ein Film. Manchmal verriet mir ihre Mimik, dass sie etwas amüsierte, doch was dies war, vermochte ich nie genau zu sagen. Nie bemühte sich eines der anderen Kinder, sie anzusprechen. Sie saß immer alleine, doch schien es sie nicht zu stören, sie war gerne für sich. Niemand schien sie zu kennen, deshalb taufte ich sie auf den Namen Marie. Warum genau dieser Name, wusste ich nicht, doch ich hatte das Gefühl, sie brauchte einen Namen, damit sie für mich greifbar wurde, selbst wenn ich mich nie traute sie anzusprechen. Und so vergingen Jahre der Stille zwischen uns, bis ich sie eines frühen Abends im Sommer auf den Gleisen spielen sah.
Ich war fünfzehn und bemerkte anfangs nicht, dass sie das Mädchen war, dass dort auf den Schienen balancierte. Mein Weg von der Schule nach Hause führte mich täglich an diesem einen Bahnübergang vorbei, der meine Heimat mit der Stadt verband. Marie jedoch hatte ich dort noch nie gesehen. Es war ein dämmeriger Sommerabend und ich hatte einen langen Tag an der Schule hinter mir. Ich war müde und war fast während des Gehens eingeschlafen, doch als meine Augen eine Person auf den Gleisen entdeckten, wachte ich plötzlich auf.
Die Schranken standen oben, von daher bestand keine akute Gefahr für Maries Leben, doch allein durch das Bild dieser klein gewachsenen Jugendlichen, die auf den Gleisen tanzte, regte sich Unruhe in mir. Sie balancierte mit beiden Füßen auf einer Schiene, als wäre sie auf einem Schwebebalken. Ab und zu sprang sie herab, nur um wieder aufzuspringen. In ihren Bewegungen wohnte eine Leichtigkeit, die ich bis dahin nur bei Tänzern beobachtet hatte. Ob sie wohl all die Jahre, die ich sie auf dem Schulhof gesehen habe, auch im Kopf getanzt hat? Hier, auf diesen Gleisen? Ich wollte etwas sagen, doch Irgendetwas, das von ihren Bewegungen ausging, schien mich wieder in seinen Bann zu reißen, wie damals die Fische im Aquarium. Marie ließ sich von den Gleisen treiben, glitt mit ihren Füßen sanft über das Eisen. Ein Fisch. Während ich sie beobachtete, schien sie mich nicht wahrzunehmen und balancierte mit gesenktem Blick konzentriert weiter auf dem Gleis entlang. In dem was sie tat, ruhte etwas Verborgenes, das ich bis dahin noch nie in ihr wahrgenommen hatte.
Dann erklangen Glocken. Zuerst dumpf, wie Schallwellen, die durch Wasser streifen. Dann heller, klarer. Mein Blick wandte sich zu den Schranken des Bahnübergangs, die sich langsam nach unten bewegten. Marie schien dies aber nicht zu bemerken. Mein Blick wanderte zwischen dem geschlossenen Übergang und Maries eleganten Gestalt hin und her. Ich spürte einen kalten Wind an meiner Schulter vorbeiziehen. Die Blätter in den Baumkronen gaben ein Rauschen von sich. Der Boden vibrierte und somit auch mein Herz. Mein Blick konzentrierte sich auf Marie, dem Mädchen, das auf den Schienen tanzte. Ich erinnerte mich an den Fisch, der seinen toten Freund aß, und an das Lachen Maries. Ein Leben frisst das andere auf. Ich hörte das Geräusch des anfahrenden Zuges.
„Marie!“
Ich hatte noch nie zuvor ihren Namen gesagt, auch wenn er nur in meiner Fantasie existierte. Nun hallte er durch die Dunkelheit im Saal, hinweg über die leeren Sitze und löste sich langsam auf. Für einen Moment stand ich noch unbeweglich auf der Stelle und schaute zu den Gleisen auf der Bühne. Ich fühlte die Kälte des Eisens unter meinen Füßen, auch wenn ich mir sicher war, dass ich es mir nur einbildete. Dann ließ ich meinen Körper in den Sitz zurück sinken, meinen Blick immer noch nach vorne gerichtet. Ich hatte Marie damals wirklich gesehen. Ich hatte sie auch damals gerufen und mich in dem Anblick ihres Wesens auf den Gleisen verloren. Wahrhaftig. Der Erinnerung an diesen Augenblick haftete eine angenehme Wärme an, auch wenn an ihr der Hauch des Todes haftete. Für einen Augenblick schloss ich wieder meine Augen.
Marie starb damals nicht.
Sie sprang rechtzeitig ab und schaute dem Zug bei der Weiterfahrt zu, der nur eine Armlänge von ihr entfernt vorbeirauschte. Ihre Haare wehten ihr durch das Gesicht und senkten sich, als die Wagons an ihr vorbeigezogen waren. Das Rauschen der Blätter in den Bäumen legte sich und für einen Moment schien wieder Ruhe in die Umgebung und meinem Körper eingekehrt zu sein. Da bemerkte sie mich und lächelte mir zu. Ich hob meine Hand, als ob ich sie begrüßen wollte. Ich wusste nicht, warum ich ausgerechnet diese Geste vollzog, aber mein Körper tat es einfach, auch wenn ich wusste, dass sie der Situation nicht angemessen war. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Da platzte plötzlich ein Lachen aus ihrem Mund. So frei und unbeschwert, als könnte sie kein Wasser trüben. Ich schaute sie nur an, meine Hand in der Höhe, als würde ich eine alte Freundin grüßen. Für einen Augenblick schien es mir so, als hätten wir gerade dem Leben einen Streich gespielt. Marie lachte weiter und ich stimmte mit ein.
Lächerlich. Ein besseres Wort fiel mir dafür nicht ein.
Am folgenden Tag hatte ich an meinem Briefkasten einen Zettel kleben. Als ich ihn las, wusste ich, dass er nur von einer Person stammen konnte.
Du kannst ja doch lachen, hätte ich nicht gedacht. Treff mich um Mitternacht am Bahnhof.
Ich ging in mein Zimmer und legte den Zettel auf meinen Schreibtisch. Staubflocken wirbelten auf und tanzten durch die Luft. Die Uhr zeigte neun Uhr und das Licht der untergehenden Sonne tauchte meine Tapete in ein warmes Rot. Für einen Augenblick zögerte ich. Angst umkreiste mein Herz. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde, aber ein Bedürfnis in mir wollte Marie wiedersehen, wollte sie wieder auf den Gleisen tanzen sehen. Ich versuchte es zu unterdrücken, aber ich schaffte es nicht. Draußen raschelten erneut die Blätter.
Um zwölf Uhr stand ich an dem Bahnhof meines Heimatdorfes, der lediglich aus einem Wartehäuschen und zwei Bahnsteigen bestand, von denen aus man nur in zwei Richtung fahren konnte. Ost oder West. Ich setzte mich auf eine Bank in der Mitte der Halteplattform in Richtung Stadt und schaute auf den gegenüberliegende Steig. Niemand da. Der letzte Zug war bereits gefahren. Erst, wenn die Sonne wieder aufginge, würde der nächste Zug fahren. Während dem Gedanken daran, dass ich an einem Bahnhof alleine wartete, an dem kein Zug mehr fuhr, überkam mich plötzlich die Frage nach dem Sinn meines Aufenthaltes. Zweifel, ob ich hätte kommen sollen, machten sich in mir breit. Warum war mir Maries Anblick nur so wichtig? Sie hatte mich zwar all die Jahre in der Schule begleitet, aber ich hatte nie Kontakt mit ihr. Ich hatte ihr nichts zu sagen, sie mir nur etwas zu zeigen. Sie wollte mich zum Lachen bringen. So stand es jedenfalls in ihrer Nachricht. Warum ihr das so wichtig war, war für mich nicht nachvollziehbar. Ich dachte an unseren ersten Kontakt im Aquarium und atmete tief ein. Damals war ich wütend gewesen und wusste mich in meinem kindlichen Dasein nicht angemessen zu verhalten. Ich hatte nichts getan, nichts gesagt. Genauso wie immer. Mir wurde bewusst, dass ich mich in all den Jahren eigentlich nicht verändert hatte. Auch als ich Marie auf den Gleisen balancieren gesehen hatte. Vollkommen ahnungslos und in Gedanken versunken, hatte ich dagestanden in meiner eigenen Welt versunken und wäre beinahe Zeuge geworden, wie jemand ums Leben gekommen wäre.
Während ich mich wieder einmal in meinen Gedanken verkroch, starrte ich in das Waldgebiet auf der anderen Seite des Bahnsteigs. Nur ein paar Lampen beleuchteten ein Coca Cola Werbeschild.
Life tastes good.
Ich saß immer noch alleine auf der Bank und wartete in der Kühle dieser Sommernacht auf das Mädchen, dass ich eigentlich nicht kannte.
Ich war eingeschlafen und wachte erst wieder auf, als mir jemand auf die Schulter tippte. Nach dem Öffnen meiner Augen, blickte ich in das Gesicht von Marie, auf dem sich ein Anflug von einem Lächeln abzeichnete. Irgendetwas schien sie zu amüsieren. Hinter ihr leuchteten die Scheinwerfer. Das grelle Licht umgab ihr Gesicht wie eine helle Aura. Obwohl mir kalt war, schien von ihr eine leichte Wärme auszugehen. Es war still.
„Marie?“
Sie antwortete nicht sofort und sah mir nur in die Augen.
„Da kannst du vielleicht Recht haben. Deinen Namen weiß ich nicht, aber ich kenne dich vom Sehen.“ Ihr Lächeln wurde größer.
„Warum sind wir hier?“, fragte ich.
„Ich wollte dir etwas zeigen, dass dich bestimmt zum Lachen bringt. Du lachst ja so wenig.“ Sie drehte sich zur Seite und zeigte auf das Gleis in der Mitte der Bühne. „Komm mit.“
Sie nahm mich an die Hand und zog mich mit sich. Mir war noch etwas schwindelig zu Mute, weshalb ich mich nur langsam durch die schmalen Sitzreihen bewegen konnte. Marie aber schritt mit festem Schritt voran. Sie leitete mich zu dem Ort, den ich bisher nur von Weitem wahrgenommen hatte. Der einzige Ort, der in diesem Saal beleuchtet war und von dem ich mich bisher aus einem mir unbekanntem Grund fern gehalten hatte. Wir gingen die Treppen hinunter, während unsere Fußschritte die Stille aus dem Theater trieben.
„Was soll das alles?“
„Das wirst du gleich sehen.“ Marie stellte sich mit den Füßen auf eine Schiene vom Gleis und balancierte ein paar Meter auf diesem entlang. Ich beobachtete ihren schmalen Rücken und folgte ihre bedächtigen, doch verspielten Schritten. Ihr Körper erfüllte eine Eleganz, die auf mich beruhigend wirkte. Allein für diesen Anblick war ich gekommen.
Plötzlich stoppte sie und drehte sich zu mir um.
„Nun komm.“
Ich schaute sie nur an.
„Spring auf. Mach's mir nach.“
Ich winkte ab und bewegte mich nicht. Das Betrachten ihrer Bewegungen bereitete mir mehr Freude, als selbst dieses Erlebnis, das sie erfuhr, nachzuahmen.
„Hörst du mir nicht zu?“ Sie rollte die Augen, sprang ab und kam auf mich zu. Sie nahm mich an die Hüften und stieß mich in Richtung Gleis. „Mach doch auch mal was. Lachen zum Beispiel. Davon träumst du doch die ganze Zeit, oder? Nur dazustehen bringt dich nicht weiter.“
Um nicht über das Gleis zu stolpern, musste ich notgedrungen meinen Fuß heben und darauf steigen.
„Na also!“
Ich stand nun mit beiden Füßen auf der Eisenschiene und war um ein paar Zentimeter gewachsen. Von hier aus sah der Saal noch leerer aus, obwohl mir klar war, dass diese Höhe für mich keinen Unterschied machen sollte. Das Licht blendete mich und ich konnte nicht mehr sagen, ob nun Zuschauer auf den Rängen saßen oder nicht. Dennoch besaß ich das Gefühl von etwas Fremden beobachtet zu werden.
„Nun konzentriere dich.“ Maries Stimme klang streng, aber auch zufrieden. Vermutlich freute sie sich, dass ich es endlich geschafft hatte, mich auf das Gleis zu begeben. Sie war wie eine übereifrige Mutter, die ihrem ängstlichen Kind etwas beibringen möchte.
Sie hielt mich nun an einer Hand und ging einen Schritt vorwärts. Ich ging mit ihr und fühlte ein Kribbeln im Bauch. Es war die Angst vor dem Sturz, aber auch ein ähnliches Hochgefühl, das dem der Schwerelosigkeit ähneln mochte. Ich war wieder Kind. Aber nicht das nachdenkliche, in seiner Fantasiewelt untergetauchte, sondern das lebendige, aktive, das sich etwas traute, auch wenn es nur das Balancieren entlang einer kleinen Erhöhung war. Ich vergaß, dass es Gleisen waren, auf denen auch Züge entlangfuhren.
Marie ließ mich los und überließ mich mir selbst. Sie lief vor und stellte sich auf dieselbe Schiene, auf der ich mich befand. Mit langsamen Schritten kam sie mir entgegen und lächelte mir ins Gesicht. Auch ich merkte, wie sich ein Lächeln auf meinen Lippen bildete. Für einige Sekunden genoss ich unseren gemeinsamen Moment, bis ein Rascheln aus der Ferne erklang. Kurz darauf das Pfeifen des Windes. Eine kühle Brise streifte meinen Nacken. Mein Lächeln schwand und auf einmal fiel es mir schwerer mein Gleichgewicht zu halten, doch schaffte ich es, nicht hinunterzufallen.
„Nicht abspringen, okay?“ Marie lächelte mir zu.
Ich wusste, dass sich hinter mir etwas bewegte. Das etwas kam.
„Wenn du jetzt abspringst, war alles für die Katz. Du musst noch ein bisschen warten.“
Ich blieb stehen.
Die kühle Brise wurde stärker und vom Untergrund ging eine leichte Vibration aus. Das Rascheln wurde stärker. Ich wusste nicht, warum ich immer noch stehen blieb. Nur weil Marie es mir sagte? Nein, es war ein Wille, der sich in mir verfestigt hatte. Maries Lächeln vergrößerte sich. Die Freude in ihrem Gesicht war unverkennbar. Sie hatte jemanden gefunden, der genauso verrückt war wie sie. Vor meinen Augen tauchte ein Anemonenfisch mit einer schwarzen Musterung auf. Er schwamm auf mich zu, drehte sich auf der Suche nach etwas Unbekannten mehrmals um sich selbst, stoppte und schaute mich an. Für einen Moment wurde es still in mir. Dann schwamm er weg. Luftblasen erschienen und stiegen vor meinen Augen nach oben. Leichtigkeit erfüllte mich. Ich hörte die Glocken des Bahnübergangs und das Rauschen der Blätter in den Baumkronen. Hinter mir kam der Zug. Ich sah Marie in die Augen und lächelte. Sie lächelte zurück. Dann sprangen wir.
Ich öffnete die Augen und blickte auf das schlecht beleuchtete Werbeschild. Life tastes good. Der Wind spielte mit meinen Haaren. Immer noch alleine. Ich erhob mich von der Bank und ging ein Stück nach vorne in Richtung Abgrund, da wo die Gleisen entlangführten. Dort setzte ich mich an die Kante des Bahnsteigs und ließ die Beine hinabbaumeln. Mein Blick senkte sich auf den Grund und wanderte die Gleisen entlang. So lang, bis diese in der Dunkelheit verschwanden. Am ihrem Ende tanzte eine menschliche Gestalt im Schatten des Mondes. Sehnsucht füllte mein Herz wie Wasser ein Aquarium. Ich sprang hinab und stieg auf die Gleisen. Dann erlosch das Licht der Scheinwerfer und der Vorhang schloss sich.
Ende
Autor: Salvo
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