Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Samstag, 12. Februar 2011

Kenzaburo Oe, Stolz der Toten: Ein modernes Märchen über die Abgründe der Gesellschaft



Die Oe Rezensionen 1

Autor: Kenzaburo Oe
Originaltitel: Shisha no ogori
Erscheinungsjahr: 1958 (Japan), 1969 (Deutschland), Fischer Verlag
Übersetzung: Margarete Donath, Itsuko Gelbrich
Genre: Drama, Gesellschaftskritik

Die nachfolgende Besprechung enthält Spoiler.

"Jetzt standen ein Professor und zwei Studenten am Seziertisch im Raum mit der alten Wanne. Als ich hinzutreten wollte, machte der Professor eine zurückweisende Geste. Sie standen an der Wanne und schauten auf den Operationstisch, auf dem die frische Leiche eines etwa zwölfjährigen Mädchens lag. Ihre Beine waren mir gegenüber breit geöffnet, und einer der Studenten injizierte dort nach Anweisung des Professors Farbstoff und Formalin, um das Blut zu konservieren. Als sich der Student, der sich vor der Leiche niedergekauert hatte, mit der Spritze in der Hand erhob, sah ich offen vor mir das Geschlecht des Mädchens, das bis dahin von dem weißbekittelten Rücken des Studenten bedeckt war. Es schien munter, taufrisch und voller Leben, durchaus gesund und kräftig. Ich fühlte mich davon angezogen und betrachtete es fast liebevoll. Es erregte mich." -Der Student

Zwei Studenten haben sich freiwillig dazu bereit erklärt einen recht bizarren Nebenjob anzunehmen. In der düsteren Pathologie einer Universitätsklinik müssen sie Leichen von einem Becken ins andere transportieren, damit diese auch weiterhin konserviert werden können. Nicht nur unter den Studenten herrscht eine angespannte Stimmung. Auch mit ihrem Arbeitgeber, einem raffgierigen Medizinprofessor scheint etwas nicht zu stimmen. Am Ende ihrer Arbeit erwartet die zwei Studenten nicht die Entlohnung für ihre Arbeit, sondern lediglich eine Erfahrung um die sie bereichert wurden. Wie unendlich tief die menschlichten Abgründe doch sein können.

Kenzaburo Oe's Werke sind kein leichter Stoff. Stolz der Toten ist nicht nur eine sehr düstere Geschichte, sie stammt auch einer düsteren Zeit. Sie wurde im Japan der Nachkriegszeit geschrieben. Verfasst hat Oe diese gerade mal 78 Seiten lange Erzählung mit 23 Jahren.

Wie so oft in Oe's Geschichten gibt es keine Helden. Alle drei Protagnoisten, der Student, die Studentin und der Medizinprofessor sind alle auf ihre eigene Weise verdorben. Ein Student der sich dabei ertappt wie ihn die Leiche eines minderjährigen Mädchens erregt, eine Studentin die sich durch diesen Job die Kosten für die Abtreibung ihres ungeborenen Kindes verdienen will, ein geldgieriger Medizinprofessor der auf Moral und Respekt vor den Toten völlig verzichtet.

Oe erzählt die Geschichte mit einer solchen Intensität das mir ständig ein Schauder über den Rücken lief. Er beschreibt den Umgang der Studenten mit den Toten so detailiert das sämtliche Horrorfilme dagegen ein echter Kindergeburtstag sind. Dabei wird Oe aber nicht einmal geschmacklos. Er bleibt sachlich und schreibt in einem wahrlich ruhigen und angenehmen Stil. Erzählt wird die Geschichte von dem jungen Studenten. Selbstverständlich in der Ich-Erzähler Form.
Als Leser bekommt man die düstere Grundstimmung förmlich zu spüren. Es ist als würde man direkt an den Geschehnissen teilhaben. Kaum zu glauben das Leichen zu Forschungszwecken und Übung für Medizienstudenten auch Heute noch auf eine solche Weise gelagert werden. Natürlich verwendet man nun zeitgenössische Methoden dafür. Vom Kern her hat sich jedoch nicht viel verändert.

Am Ende stellt sich heraus das die Arbeit der Studenten durch einen Fehler des arroganten Medizienprofessors völlig sinnlos war. Der Ausgang der Geschichte bleibt ungewiss.
Ich las Stolz der Toten während meiner Zeit als Zivildienstleistender. Auch wenn ich eine komplett andere Tätigkeit ausgeführt habe, habe ich meine eigene Situation oft mit dieser Geschichte verglichen. Ich machte mir Gedanken über den Sinn meiner Arbeit. Und mir wurde recht schnell klar das ich tatsächlich mit dem was ich tue, einen Zweck erfüllt habe. Ich wurde gebraucht. Ich arbeitete in einem Team wo jeder aufeinander angewiesen war. Praktisch das komplette Gegenteil von Oe's trostloser Vision. Doch während dieser Zeit musste ich feststellen, das ich vielleicht nicht weniger verdorben bin als die Protagonisten dieser Geschichte. Doch vermutlich trifft das auch auf 90% unserer Gesellschaft zu. Wir alle erwischen uns einmal dabei wie wir moralisch nicht wirklich korrekt handeln, oder den ein oder anderen verruchten Gedankengang hegen. Kenzaburo Oe macht uns dies auf eine wirklich beeindruckende Weise klar. Er durchleuchtet praktisch die menschliche Psyche. Wir leben in einem ständigen Kontext zwischen Gut und Böse. Wir selbst haben aber die Möglichkeit diese Stimmungen zu kontrollieren und ausgewogen damit umzugehen.

Kenzaburo Oe's Stolz der Toten ist eine faszinierende Kurzgeschichte die mich sehr zum nachdenken eingeladen hat. Auch Heute noch, 53 Jahre später, ist die Erzählung modern. Wer einen starken Magen besitzt sollte einen Blick wagen. Leichte Kost ist Stolz der Toten bestimmt nicht. Aber es ist eine außergewöhnliche literarische Erfahrung.



Wertung: Fünf Dante (Sehr gut)

2 Kommentare:

  1. Von dem Buch habe ich noch nie gehört und bisher auch nur "Reißt die Knospen ab..." von Oe gelesen, aber das hört sich nicht nur düster, sondern auch sehr interessant an!
    Vielen Dank für die Rezension und liebe Grüße,
    Ada

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  2. Mir wird gar nicht angezeigt wenn mir mal jemand einen Kommentar schreibt >.<

    Danke für deinen Kommentar =)
    Also falls du die Erzählung noch nicht gelesen hast, ich kann sie wirklich empfehlen. Hat mir damals echt spaß gemacht. Falls man das Wort überhaupt dafür verwenden kann.

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