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Montag, 17. Juli 2023

Rezension: All die Liebenden der Nacht (Mieko Kawakami)

 


Japan 2011 (Deutsche Erstveröffentlichung 2023)

All die Liebenden der Nacht
Originaltitel: Subete mayonaka no koibito tachi
Autorin: Mieko Kawakami
Übersetzerin: Katja Busson
Verlag und Veröffentlichung: DuMont Buchverlag 19.06.2023
Genre: Slice of Life Drama
Format: Hardcover, E-Book


"All die Liebenden der Nacht" ist die neuste Übersetzung aus dem Schaffen der begnadeten japanischen Autorin Mieko Kawakami. Das Buch hat mich die letzten Wochen durch stressige Zeiten begleitet. Nun kann ich endlich darüber schreiben. Eines aber vorweg: Kurz nach der Veröffentlichung des Buches habe ich aufgrund einer Buchbestellung eine größere Buchhandlung in meiner Heimatstadt besucht. Mit Freude habe ich vernommen, dass das Buch von Mieko Kawakami dort einen eigenen kleinen Platz hatte und unter "Top Neuheiten" gelistet war. Eine Anerkennung in der japanischen Literatur, die in deutschen Buchhandlungen eigentlich ausschließlich Haruki Murakami, manchmal auch noch Banana Yoshimoto sowie Keigo Higashino, vorbehalten ist. Mieko Kawakami dürfte sich nun als weiterer Name in deutschen Buchregalen etablieren.

Die Geschichte von "All die Liebenden der Nacht" ist, wie so oft bei Mieko Kawakami, recht schnell erklärt. Der eigentliche Kern der Geschichte ist dafür umso vielschichtiger, komplexer und feinfühliger. Im Zentrum steht hier die vierunddreißigjährige Korrekturleserin Fuyuko. Fuyuko ein schüchternes Mauerblümchen zu nennen, wäre eine maßlose Untertreibung. Fuyuko besitzt keinen Funken Selbstwertgefühl. Mit anderen Worten könnte man genau so gut sagen, Fuyuko hat noch nie richtig gelebt. Sie lebt stattdessen in einem übergroßen Brutkasten, ihr Apartment. Von der Welt hat sie noch nichts gesehen, sie lebt stattdessen für ihre Arbeit, geht nicht feiern, verlässt nur zu speziellen Anlässen außerhalb ihres Jobs die Wohnung - wie zum Beispiel ein nächtlicher Spaziergang an ihrem Geburtstag jedes Jahr an Weihnachten. Als Fuyuko sich mit ihrer neuen Vorgesetzten anfreundet, die ebenfalls korrekturlesende Hijiri, wird Fuyuko so manches bewusst. Im starken Kontrast zur extrovertierten, hübschen Hijiri, sieht sich Fuyuko als nicht mehr als ein Häufchen Elend. Alkohol verträgt Fuyuko eigentlich nicht, doch eines Tages erfährt sie, wie leicht man mit Hilfe des hochprozentigen, flüssigen Selbstbewusstseins durchs Leben kommen kann. Fuyuko driftet ab in die vor sich hin dämmernde Welt berauschenden Alkoholkonsums. Als dieser Überhand nimmt und Fuyuko allmählich die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren scheint, tritt mit dem deutlich älteren Mitsutsuka ein Mann in ihr Leben, der anscheinend genau zur richtigen Zeit auftaucht.

"Die Gestalt, die sich von der Fassade, den Schildern, Wänden und Fenstern des Nebengebäudes dunkel abhob, sah erbärmlich aus. Nicht bedauernswert oder elend, nein, richtig erbärmlich. sah die Frau in der Glascollage aus. Aus ihrem Zopf hatten sich lange Haare gelöst und standen ihr wirr um den Kopf. Sie hatte hängende Schultern, tief liegende Augen und kurze Arme und Beine. Nur der Hals sah unangenehm lang, dürr und sehnig aus. Die Wangen waren so eingefallen, dass sich von der Nase in Richtung Mund tiefe Falten gegraben hatten. Die Frau, die mir entgegensah, war ich. In Strickjacke und verwaschenen Jeans. Vierunddreißig Jahre alt. Allein. Eine erbärmliche Frau, die selbst hier in der Stadt und bei schönstem Wetter nicht wusste, wie man lebt. Die eine Tasche mit Dingen umklammerte, die andere Leute dankend ablehnen oder sofort wieder wegwerfen."

Ich habe diese Passage bewusst gewählt, weil sie mich sehr berührt hat. Diese tottraurige Beschreibung dieser jungen Frau, gepaart mit einer weiteren Feststellung Ihrerseits: "..... die selbst hier in der Stadt und bei schönstem Wetter nicht wusste, wie man lebt". Fuyuko selbst hat ihr Problem unlängst erkannt. Ist das Leben, welches sie seit so vielen Jahren ohne Veränderung führt, wirklich lebenswert oder einfach nur eine Ratenzahlung an Gevatter Tod? Ein Leben dazu bestimmt, vor sich hin zu vegetieren. Sämtlicher Impuls, den Fuyuko im Leben erhält und sie Vorfreude für etwas entwickelt, endet schnell im freien Fall zurück in ihre eigene, triste Realität. Aus positiven Impulsen und Euphorie wird Furcht. Fuyuko fühlt sich verloren und einsam, weiß nicht einmal mehr, wie ein gewöhnlicher Schaufensterbummel funktioniert. Hier mag man vielleicht denken, ob Fuyuko nicht eher eine überzeichnete fiktive Figur aus einem Roman ist. Prinzipiell stimmt das, Fuyuko ist ganz und gar fiktiv. Aber sicherlich keine überzeichnete Figur, die nur in "All die Liebenden der Nacht" existiert. Besonders in den Zeiten, in denen wir aktuell leben, grassiert Einsamkeit und das fehlen gesellschaftlicher Kontakte, wie eine weitere Pandemie. Etwas, was wir auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so sehr wahrnehmen und begreifen. Fuyuko ist natürlich ein Extremfall, doch den Platz im eigenen zu finden ist schwerer denn je. Mieko Kawakami schafft es ähnlich wie Haruki Murakami, jedoch auf ihre ganz eigene Art, diese teils traurigen und teils melancholischen Gefühle brillant zu beschreiben. Fuyuko erreicht also den Punkt in ihrem Leben, wo sie zur Flasche greift (in ihrem Falle Bier und Sake). Und wie die meisten von uns es vielleicht kennen, verfehlt der Alkohol seine Wirkung nicht. Wir fühlen uns leichter, mutiger, gelassener. Er lässt uns nicht an den morgigen Tag denken und alle anderen Probleme werden temporär verdrängt. Doch der Dämon ist selten weit entfernt, die Schwelle zum Missbrauch der Substanz immer in greifbarer Nähe.

Doch wie soll eine Person anfangen zu leben, die über 30 Jahre lang nicht gelebt hat? In einem Prospekt über Kulturveranstaltungen ist Fuyuko maßlos überwältigt von den Angeboten, die die Stadt anbietet.

"Überwältigt von der Tatsache, dass es so viele Menschen gab, die in der Lage waren, dieses, wie soll man sagen, Wissen, diese Kultur, diese Bildung zu vermitteln, und noch mehr Menschen, die nachfragten, blieb ich eine Weile regungslos liegen. Die Vorstellung, dass all das Tag für Tag irgendwo in einer Ecke von Shinjuku stattfand, hatte mich regelrecht erschlagen. Seufzend angelte ich mir eine neue Flasche Sake aus dem Kühlschrank, die ich halb im Liegen langsam trank. Sieht aus wie Wasser und hat doch eine so andere Wirkung, dachte ich, während ich mit geschlossenen Augen das Schwerwerden meines Körpers genoss."

Die Japanologin Katja Busson fungiert auch hier nach "Brüste und Eier" sowie "Heaven" wieder als Sprachvermittlerin zwischen den Ländern, die von Ozeanen getrennt sind. Einmal mehr liest sich ihre Übersetzung nicht nur flüssig, sondern wie immer auch gefühlvoll und vertraut. Ich las nun sehr oft, es sei aufgrund des verwendeten Akzents von Mieko Kawakami nicht einfach, ihre Werke zu übersetzen. Da ich einzig und allein die deutsch- und englischsprachigen Übersetzungen beurteilen kann, kann ich nur sagen, dass beide Übersetzer hier einen fantastischen Job abliefern (Anmerkung: Sam Bett lautet der Name des englischsprachigen Übersetzers) und ich niemals etwas kritisieren würde, weil ein fremdsprachiger Dialekt verloren geht. Ich muss aber auch weiterhin sagen, ich würde jederzeit bei Mieko Kawakami die Übersetzungen von Katja Busson der englischen Übersetzung vorziehen. Genau wie Ursula Gräfe bei Haruki Murakami, profitieren die Übersetzungen der Bücher von Mieko Kawakami davon, eine einheitliche deutsche Stimme zu besitzen, die auch noch das nötige Feingefühl mitbringt, eine solch emotionale Geschichte in unsere komplizierte und doch schöne deutsche Sprache zu transportieren.



Abschließende Gedanken

Gibt es noch Hoffnung für Fuyuko? Nun, um das zu erfahren, muss man natürlich "All die Liebenden der Nacht" komplett lesen. Mit dem auftauchen von Mitsutsuka gerät das Leben von Fuyuko in etwas andere Bahnen. Ein paar Worte mehr dazu zu schreiben, würde aber natürlich zu viel vorweg nehmen. Und das ist auch gar nicht nötig. "All die Liebenden der Nacht" profitiert wieder einmal von der auf den Punkt gebrachten Kürze der japanischen Literatur. Mieko Kawakami schreibt kein Wort zu viel oder zu wenig. Sie erschafft eine wundervolle Balance, die die Leser in ihre Geschichte eintauchen lassen. "All die Liebenden der Nacht" ist mit jeder einzelnen Seite ein klassischer Großstadtroman. Versehen mit dem typisch japanischen Twist, der die Geschichte wieder einmal von westlichen Literaturstilen abhebt. Als großer Bewunderer der Autorin (hier kann ich als Blogger schon kaum mehr neutral bleiben) hoffe ich daher, dass die internationale Lizenzierung ihrer Werke fortgesetzt wird. An all die Liebenden der Nacht (und Literaturfreunde an sich), lasst euch diesen Roman nicht entgehen.

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