Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Donnerstag, 23. März 2017

Rezension: Lebensgeister (Banana Yoshimoto)


(Foto: © Jayne Wexler)




Japan 2011

Lebensgeister
Originaltitel: Sweet Hereafter
Autorin: Banana Yoshimoto
Verlag: Diogenes
Übersetzung: Thomas Eggenberg
Genre: Drama, Slice of Life



"Das benachbarte Apartmenthaus war so dicht an meine >>Villa<< herangebaut, dass sich vor dem seitlichen Fenster meines Zimmers eine Wand befand. Neugierig streckte ich den Kopf hinaus. Schräg gegenüber war ein Fenster. Von dort hörte ich winselnde Schreie, wie von einer Katze. Unwillkürlich dachte ich, jetzt hat dich die Geisterwelt wieder. Ich lauschte mit angehaltenem Atem. Es waren aber nur die Laute eines Paares, das sich miteinander vergnügte. Ob in Wirklichkeit oder in einem Porno, wusste ich nicht. Eine Frau stöhnte und keuchte heftig. Gedankenverloren hörte ich dem Treiben zu und fühlte mich auf einmal einsam. Nicht nur mein inneres Sträuben gegen zu viel körperliche Nähe - auch dass die Schreie keinerlei Lust weckten, ließ in mir meine Verlassenheit umso deutlicher bewusst werden. Nachts allein am Fenster zu stehen und ins Dunkel hinauszustarren - wie traurig ist das denn?, flüsterte ich vor mich hin. Die Traurigkeit schien geradezu physisch in mich einzudringen."
(Lebensgeister: Banana Yoshimoto. Verlag: Diogenes. Übersetzung: Thomas Eggenberg)



Liest man sich die Inhaltsangabe von Banana Yoshimotos verträumten Kurzroman "Lebensgeister" durch, könnte so mancher Leser, unvertraut gegenüber der Autorin und der japanischen Literatur an sich, denken, hier handle es sich um ein Werk welches in die Richtung Paulo Coelho trifft "Ghost - Nachricht von Sam" geht. Doch weder ist "Lebensgeister" entspanntes flanieren auf der Esoterik-Meile, noch wartet in der Mitte des Buches Whoopi Goldberg auf den verunsicherten, vielleicht sogar verstörten Leser und überbringt der nicht minder verdutzten Protagonistin der Geschichte Nachrichten ihres verstorbenen Lovers. Nein, "Lebensgeister" schlägt tatsächlich in eine ganz andere Kerbe. Hier handelt es sich um einen feinen, kurzen Roman, wie er nur aus Japan kommen kann. Oder, noch besser, wie ihn vermutlich nur Banana Yoshimoto schreiben kann. Irgendwo mal wieder angesiedelt zwischen der realen Welt, der Welt des Traumes und der Welt der Toten, da wandelt ihr 2011 in Japan veröffentlichter Roman "Lebensgeister", der in seinem Heimatland unter dem Titel "Sweet Hereafter" bekannt ist. Eine kleine Rarität, dass die Autorin hier einen komplett englischen Titel verwendet hat. "Lebensgeister" berichtet von dem Verlust eines geliebten Menschen, den Start in ein neues Leben und ganz besonders: Fernweh und Sehnsüchte.

Lover Lover Lover

Mit jenem bekannten Song von Leonhard Cohen beginnt die Geschichte. Im Mittelpunkt steht die junge Sayoko, die nach einem Autounfall um ihr Leben kämpft. An einem wunderschönen Sommerabend in Kyoto kommen Sayo und ihr Partner von der Straße ab, ihr Auto überschlägt sich und wird über eine Uferböschung geschleudert. Sayo bemerkt, wie sich eine rostige Eisenstange in ihren Bauch gebohrt hat, sie verliert das Bewusstsein und bucht einen Kurztrip ins Jenseits. Dort angekommen trifft sie sogleich auf ihren geliebten Hund, der vor einigen Jahren verstorben ist. Kurz darauf kommt auch noch Sayos längst verstorbener Opa, ein zu Lebzeiten geselliger und offener Mensch, auf seiner Harley angebraust und nimmt seine Enkelin auf eine kleine Spritztour mit. Sayoko, die sich mit ihrem Ableben unlängst abgefunden hat und allmählich beginnt, sich mit dieser unwirklich schönen Welt zu arrangieren, bekommt von ihrem Großvater jedoch mitgeteilt, ihre Zeit sei noch nicht gekommen und sie müsse zurück in die Welt der Lebenden. Ihr Lebensgefährte jedoch, teilt ihr Großvater seiner Enkelin mit, der habe den schweren Unfall nicht überlebt. Wie aus einem Fiebertraum erwacht Sayoko im Krankenhaus. Von einer schweren Bauchwunde und tiefer Trauer über den Verlust ihres Lebensgefährten gezeichnet, beginnt für die junge Frau ein langer Weg der Rehabilitation in ein neues Leben. Nicht nur ihre körperlichen Wunden müssen heilen, auch ihre mentalen Wunden haben einen langen Weg der Heilung vor sich.

Mit gerade mal etwas über 150 Seiten ist "Lebensgeister" ein eher kürzeres Lesevergnügen, welches man sich vielleicht besser gut aufteilen sollte. Die Autorin ist sowieso nicht für ausufernd lange Romane bekannt. Der Leser wird nach der Lektüre aber feststellen, diese Geschichte hat keine Seite zu wenig und keine Seite zu viel. Die Geschichte von Sayo folgt nicht unbedingt einem roten Faden. Viel eher erinnert das Buch an eine Dokumentation, in der ein Team von Kameraleuten einer Person über einen Zeitraum von mehreren Tagen folgt und ihr tägliches Leben dokumentiert. Die übernatürlichen Elemente implementiert Banana Yoshimoto so elegant in ihre Geschichte, als würden sie zum ganz normalen Alltag der Menschen gehören. Sayo nimmt ihr Schicksal an und, obwohl sie es befremdlich findet, die Erscheinungen verstorbener Menschen zu sehen, so entwickelt sich relativ schnell eine Routine in ihrem Leben. Geschuldet ist diese Unbekümmertheit unter anderem auch ihrer Nahtoderfahrung.


"In dem Moment, als mir bewusst wurde, dass es auch für mich kein Entkommen gab, dass ich weder entkommen konnte noch wollte, verstand ich zum ersten Mal den Sinn jener Worte: Du hast den Nabel verloren. Die Vertrautheit mit dem Tod ähnelt stark dem Gefühl, das dich nachts in einer Herberge überfällt, am Ziel deiner Reise, mutterseelenallein, und du hast vergessen, woher du eigentlich gekommen bist."(Lebensgeister: Banana Yoshimoto. Verlag: Diogenes. Übersetzung: Thomas Eggenberg)


Die üblichen Themen, die man in den Romanen von Banana Yoshimoto findet (Melancholie, Einsamkeit, Sehnsüchte), die findet man natürlich auch in "Lebensgeister" wieder. Anders aber als in, beispielsweise, "Ihre Nacht", ein Roman, der mir das ein oder andere Problem bereitete, wirkt "Lebensgeister" strukturierter, durchdachter und verzichtet auf komplizierte Beziehungen unter den Charakteren. Was aber nicht bedeutet, dass es in "Lebensgeister" keine interessanten Charaktere gibt. Sayoko selbst war mir auf Anhieb sympathisch. Nach dem Tod ihres Lebensgefährten ist es für sie beinahe noch unmöglich, an eine neue Beziehung zu denken. Dennoch gibt es zwei Männer in ihrem Leben, zu denen sie sich seit dem Tod ihres Partners hingezogen fühlt. Der emotionale Barbesitzer Shingaku mit seinem Okinawa-Temperament, der emotional relativ nah am Wasser gebaut zu sein scheint, und der homosexuelle, ebenfalls Bar-Besitzer, Ataru, mit dem Sayoko praktisch durch einen Zufall Bekanntschaft macht. Anders als es einige Leser aber erwarten würden, entsteht hier keine Dreiecksbeziehung mit viel Drama und Kitsch. Die Charaktere interagieren stattdessen viel natürlicher untereinander. Sie alle wissen, eine Liebesbeziehung zu Sayo könnte ihre Bindung zur jungen Frau komplett zerstören. Genau aus diesen Gründen wirken die Protagonisten der Geschichte menschlich und man kann sich gut in sie hineinversetzen.

Auch die Übersetzung ist einmal mehr eine separate Erwähnung wird. Fand ich die Übersetzung von Thomas Eggenberg in "Ihre Nacht" noch ein wenig befremdlich damals, so habe ich mich, auch rückblickend gesehen, sehr mit den Übersetzungen des Schweizers angefreundet. Nicht nur liest sich die Übersetzung sehr flüssig in einer leicht verständlichen, lockeren Ausdrucksweise, auch sind etliche interessante Anmerkungen des Übersetzers zu Referenzen aus dem Bereich Kultur und Popkultur enthalten, die die Leser durch die Geschichte führen.



Resümee

"Lebensgeister" ist Banana Yoshimotos Liebeserklärung an Kyoto. Man kann ihre Leidenschaft und Verehrung dieser magischen Stadt der Tempel gegenüber auf jeder Seite spüren. Das Schicksal von Sayoko ist eng an diese Stadt gekoppelt. So viele unvergessliche Erinnerungen haften an diese Stadt. Diese Magie hat sich auch automatisch auf mich übertragen. Manche Szenen hatte ich regelrecht bildlich vor mir.

Letztendlich bleibt nicht mehr viel zu schreiben. "Lebensgeister" hat mich in den Stunden, in denen ich in das Buch eintauchte, vollkommen für sich eingenommen und mir bleibt kaum etwas anderes übrig, als mich zu wiederholen: So ein Roman, der kann nur aus Japan kommen. Alles, was die japanische Literatur so einzigartig macht, diese ganze Quintessenz, die ist in "Lebensgeister" enthalten.
Es ist eine Geschichte, die mit Leonard Cohen beginnt und mit dem Eröffnungslied zur Anime-Serie "Takarajima" (die älteren Lesern meines Blogs vermutlich als "Die Schatzinsel" bekannt ist) schließt. Ein wundervolles, rundes Ende, wonach sich selbst so manches Schwergewicht der Weltliteratur noch sehnt.






Mein bester Dank geht an Andrea von "Lohnt das Lesen", die mir "Lebensgeister" zur Verfügung gestellt hat.

1 Kommentar:

  1. Danke für die Verlinkung. :)

    Wie cool, dass Du noch das Schatzinsel Opening eingebunden hast! :D

    Ich hatte auch überlegt, die Übersetzung in meiner Rezension zu loben und die Anmerkungen zu erwähnen. Aber Du konntest das noch besser ausdrücken weil Du den Vergleich zu einer anderen Übersetzung schon hattest.

    Kannst du eigentlich Japanisch lesen? "Amrita" hätte ich noch im Original hier... ;)

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