Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Freitag, 14. November 2025

Kill Bill: Rache wird auch nach zwei Jahrzehnten immer noch am besten kalt serviert

 



„Look Quentin, here's the thing, man. My Uncle Artie would love this movie. I mean, he would love it. He wouldn't love it at 4 hours.“


Die Gerüchte oder viel mehr nie manifestierten Pläne zur "Whole Bloody Affair" von Kill Bill sind beinahe so alt wie die Filme selbst. Tarantino hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, die Filme als einen Film geschrieben und an einem Stück gedreht zu haben und das Gesamtwerk gerne als einen einzigen Film veröffentlicht hätte. Dies war aber nie wirklich umsetzbar, teilweise war ein vierstündiger Film ja nicht einmal bei Peter Jacksons Herr der Ringe Spielfilmtrilogie im Kino möglich. Anders aber als bei der Ring-Trilogie, wo relativ zügig Langfassungen nachgereicht wurden, ist Tarantinos großer Wunsch, sein blutiges Magnum Opus als einen kompletten Film zu zeigen, nie in Erfüllung gegangen. Zum Unmut vieler Fans, denn im laufe der Jahre sprach Tarantino immer wieder von seinen Plänen, Kill Bill endlich so zu zeigen, wie er sich das immer gewünscht hatte. Und es wäre ja nicht nur dabei geblieben, die beiden Filme zusammenzuschneiden. Diverse Szenenabläufe wären anders gewesen (der Film würde zum Beispiel mit der Braut um Auto starten, die über ihre finsteren Rachepläne in einem Monolog philosophiert und dem Zuschauer haarklein erklärt, was sie vor hat), sämtliche Zensuren für das R-Rating, die in der japanischen Fassung für den japanischen Markt rückgängig gemacht wurden, hätten ebenfalls ihren Weg in den Film gefunden. Die komplette Anime-Szene, die von Production I.G. einige Zeit nach dem Film noch erweitert und fertiggestellt wurde, hätte ihren Weg in den Film gefunden und wer weiß, was Tarantino am Schneidetisch noch alles gefunden hätte.

Um es kurz zu machen: Über 20 Jahre später wird das nun zur Realität. Leider aktuell nur für Zuschauer aus den USA. Aus Liebe zum Kino wird mit einer Laufzeit von fast 5 Stunden diese exklusive und Unrated "Whole Bloody Affair" Fassung mit all den gerade genannten Extras in amerikanischen Kino auf 70mm Filmband laufen. Ein Grund zur Freude, ein Grund, enttäuscht zu sein. Jeder weiß, wie strikt Tarantino hier agieren kann. Die Japan-Fassung von Kill Bill Vol. 1 blieb exklusiv in Japan und die Asia-Fassung von Vol. 2 blieb exklusiv in Asien (Bootlegs und irgendwelche Fan-Edits mal ausgenommen). Die Roadshow-Fassung von The Hateful Eight wurde meines Wissens nie wieder irgendwo gezeigt und auch ein Extended Cut von Once Upon a Time in Hollywood geistert ja auch noch durch die Weltgeschichte. Bleibt sich Quentin Tarantino treu, wird die Wholy Bloody Affair zu Kill Bill eine einmalige Affäre bleiben. Am 05.12 wird die übrigens in amerikanischen Kinos bereits laufen. Stand jetzt ist zu einer Kino- oder Heimkino-Auswertung in Europa noch rein gar nichts bekannt. So nah und letztendlich doch so fern, wie es scheint. Den Film in dieser Fassung im Kino genießen zu dürfen wäre für meine von aktuellen Filmen geschundene Seele eine Art warme Umarmung, die dringend benötigt wird.

Und genau das bringt mich dazu, noch einmal auf 20 Jahre Kill Bill zurückzublicken. Vol. 1 kam 2003 in die Kinos, das 20 jährige Jubiläum ist, technisch gesehen, auf dem besten Weg zum 25. Jubiläum. Aber das hält mich dann doch nicht ab, diese kleine Retrospektive zu schreiben.

Der 4. Film von Quentin Tarantino, so wurde er beworben, war lange Zeit ein Mysterium an sich. Niemand wusste genau, was in diesem Film nun passieren würde, aber der Titel lies viel erahnen. Genau wie bei der Whole Bloody Affair aktuell war das Kino für mich eine unüberwindbare Hürde, da ich 2003 gerade einmal 16 Jahre alt war und sicherlich 2-3 Jahre jünger aussah. Mit seiner verdienten FSK 18 Freigabe für mich also keine Chance, den im Kino sehen zu können. Das sah bei Vol. 2 schon anders aus, da war ich zwar erst 17 und sah mindestens 2-3 Jahre jünger aus, der Film war aber bereits ab 16 Jahren freigegeben, was eine absolut korrekte Altersfreigabe für diesen Teil ist, da Tarantino sich mit blutigen Gewaltorgien hier nahezu komplett zurückgehalten hat. Kill Bill war damals ein Gesprächsthema auf dem Pausenhof und irgendwie hatten wir dann doch alle Teil 1 gesehen, obwohl die wenigstens von uns alt genug waren, ihn wirklich im Kino sehen zu können. 20 Jahre später stellt sich natürlich die Frage, wie gut beide Teile noch mithalten können. Besonders im direkten Vergleich zu Tarantinos Filmen, die danach folgten. Für mich ist es jedoch so, dass Tarantino hier mit diesem Zweiteiler, und das gilt nach wie vor, seinen Höhepunkt als Filmemacher erreicht hat. Theoretisch könnte ich schon sagen, dass er diesen mit seinem Regiedebüt Reservoir Dogs zuvor erreicht hatte und seinen Stil dann in Pulp Fiction ausgebaut hat, aber Kill Bill war dann doch nochmal etwas ganz besonderes. Wie so oft bei Tarantino glänzt Style over Substance - wirklich originell ist die Rachestory per se nicht. Auch darüber hatte Tarantino nie einen Hehl gemacht, dass die Geschichte seine eigene Interpretation von alten japanischen Klassikern mit Meiko Kaji ist. Lady Snowblood und Sasori zum Beispiel. Generell stand das japanische Kino für Vol. 1 Pate während für Vol. 2 der Eastern und der Italo Western hergehalten haben. Dass Vol. 2 der eigentlich deutlich komplexere, rundere Film ist, wird bis heute nicht so gewürdigt, wie es der Film verdient. Besonders dieser starke Kontrast nach dem Japan-Arc ist es, wieso Kill Bill als Filmprojekt so vielschichtig ist. Obwohl Vol. 2 weder ein reiner Eastern noch ein reiner Italo-Western ist, hat Tarantino hier gleich zwei vermeintlich tote Filmgenres in großem Glanz in einer modernen Interpretation zurück auf die große Leinwand gebracht. Tarantino hat es nicht nur geschafft, die Seele dieser Genres einzufangen, er hat es am Ende auch geschafft, seine eigene Geschichte zu einem runden Abschluss zu bringen. Gelungen ist ihm das natürlich mit der immer wieder viel zitierten Liebe zum Film - zum Beispiel Schauspieler aus dieser Ära zurückzubringen wie David Carradine, Sonny Chiba und Gordon Liu oder aber einzigartige Musikstücke von Ennio Morricone wie "L'arena" aus dem Spaghetti-Western "Il Mercenario" einzubauen. Doch in keinem anderen seiner Filme setzte Tarantino seine eigenen Ideen so konsequent um wie in Kill Bill. Insofern wird es spannend zu sehen sein, wie die Whole Bloody Affair als ein kompletter Film funktionieren wird, besonders, wenn man den dann doch schon relativ eigenbrötlerischen zweiten Teil des Gesamtwerks mit einbezieht.

Und so stelle man sich vor, Kill Bill wäre in der heutigen Zeit entstanden. Wir hätten es vermutlich unlängst mit einem Film-Franchise zu tun wie es aktuell bei John Wick und unzähligen anderen Filmen der Fall ist. Es ist Tarantino umso höher anzurechnen, dass er Kill Bill zur damaligen Zeit zu einem popkulturellen Hit gemacht hat, an den man sich heute noch gerne zurückerinnert. Vielleicht heutzutage noch mehr als jemals zuvor. Tarantino hatte in der Vergangenheit oft über die Lore von Kill Bill gesprochen und auch darüber, wie es durchaus hätte Prequels oder auch ein vermeintliches Sequel hätte geben können. Kill Bill Vol. 3 ist nicht weniger sagenumwoben wie die Whole Bloody Affair. Tarantino, der nach seinem nächsten Film ja gerne seine Karriere als Regisseur an den Nagel hängen möchte, wird auf Kill Bill vielleicht nochmal ganz speziell zurückblicken. Das Filmprojekt war die Kumulation von allem, was er bis zu diesem Punkt in seiner Karriere als Filmemacher erreicht hatte. Bereits mit Jackie Brown bewegte er sich aus seiner Komfortzone, doch mit Kill Bill kehrte er nach seiner bis dahin längsten Filmpause mit etwas zurück, was ihm so vermutlich keiner zugetraut hätte. Kill Bill war der beste Beweis dafür, wie Tarantino als Filmemacher gewachsen ist und nicht zu dem Typen wurde, der insbesondere mit Pulp Fiction für immer in den 90ern gefangen war. Vielleicht der wichtigste Film für ihn in seiner Laufbahn als Regisseur. Für uns Filmfans ein schönes Andenken an eine Zeit, in der das Kino noch einen ganz anderen Stellenwert hatte.


Text und Idee: Aufziehvogel 

Mittwoch, 12. November 2025

Eine Rezension durch die Bundesrepublik: Heimat Deutschland

 



Deutschland 2025

Heimat Deutschland - Ein Gefühl, das mehr ist als ein Ort
Bildband mit Texten
Hardcover
Erschienen beim Kunth Verlag


Das Thema "Heimat" ist nicht nur ein Thema, womit ich mich aktuell persönlich befasse. Das Thema Heimat beschäftigt viele Menschen in der ganzen Bundesrepublik. Wie viel Wert und Bedeutung hat dieses Wort für uns noch? In einer Gesellschaft, die sich stets mehr isoliert und abschottet (eine Menge davon sind noch immer Nachwirkungen der Pandemie), dürfte wohl die berechtigte Frage aufkommen, wie wir zu unserer Heimat stehen. Wie sehen wir Deutschland? Als Westfale aus dem Pott, der in den grauen Ballungsgebieten aufgewachsen ist und von viel Fernweh und Reiselust geplagt ist, möchte ich mehr über meine eigene Heimat erfahren. Mit Optionen wie dem Deutschlandticket und generell Online-Schnäppchen im Zugverkehr steht uns die Bundesrepublik offen, erkundet zu werden. Wir sind mobil, nutzen die Angebote, die uns gegeben sind, noch immer viel zu selten.

In dem Bildband "Heimat Deutschland" wollte ich nicht nur ein zeitgemäßes Thema für meinen Blog finden, sondern mir zeitgleich auch persönliche Inspiration suchen, wohin es mich in kommender Zeit vielleicht führen könnte. Und vielleicht ja auch noch eine Antwort auf die Frage zu finden, was Heimat eigentlich bedeutet.




Als ich den randvoll gefüllten Band vor mir hatte, wusste ich noch nicht exakt, was mich genau erwarten würde. Der Verlag selbst bewirbt das gebundene Buch im Großformat selbst als "Bildband". Doch das wäre nur die halbe Wahrheit. Natürlich ist der über 300 Seiten dicke Band ausgestattet mit unzähligen hochauflösenden Bildern. Mal einseitig, mal kleine Bildchen und mal wuchtige Doppelseiten mit Panoramaaufnahmen - die abgedruckten Bilder/Aufnahmen sind herausragend getroffen und man kann kleinste Details erkennen. Womit ich nicht gerechnet habe sind die ausgiebigen Textpassagen. Jeder Teil der Bundesrepublik, ob Norden, Süden, Westen oder Osten, findet in dem Buch seinen Platz. Berichtet wird in den Texten über Sehenswürdigkeiten hin zu interessanten Aufenthaltsorten und historischen Kulturgütern. Die Texte befassen sich mit Dialekten, kleinen Trivias und sogar Kochrezepten. Manchmal wird ein wenig über Gott und die Welt in diesen Textpassagen gesprochen. Jeder einzelne Text im Buch ist passend und liebevoll zu den Bildern und dem jeweiligem Landesteil gestaltet und mit einzigartigen Designs angepasst. In einem Register am Ende bekommt man noch einmal sämtliche Themen auf einem Blick zum nachschlagen serviert.

Ich habe hier anfangs mit einer langen Bilderstrecke gerechnet, nicht aber mit so ausführlichen, interessanten Texten, die teilweise ein richtiger Reiseführer nicht besser hinbekommt. Es ist die Liebe zum Detail, wie gut die einzelnen Textabschnitte recherchiert sind.




Obwohl ich in NRW schon so lange lebe, konnte ich es natürlich nicht lassen, mir den Abschnitt über das Ruhrgebiet als erstes zu Gemüte zu führen. Auch wenn der Bildband wie andere Vertreter seiner Art nun nicht über die Dortmunder Nordstadt oder das Frankfurter Bahnhofsviertel berichtet (und sicherlich auch nicht passend wäre, um es mal zärtlich auszudrücken), so wird überraschend wenig kitschig romantisiert und dick aufgetragen. Der Einstieg über das Ruhrgebiet war für den Band eine überraschend gute Zerreißprobe. In den einzelnen Abschnitten wird die jeweilige Seele eines Ortes sehr gut eingefangen. Dies geschieht auf eine sehr sympathische Art und Weise. Meine Tour durch das Buch war kein einfacher Foto-Tourismus, es war eine mehr als interessante Expedition durch unsere Heimat mit vielen Geheimtipps und sogar weniger bekannten Orten.



Abschließende Gedanken

"Heimat Deutschland" wird seinem Titel mehr als nur gerecht. Der üppige Bildband bringt uns dem ein Stück näher, was in Vergessenheit gerät - unsere Heimat, ganz ohne die unzählig durchgekauten Reise-Klischees. In Deutschland steckt noch immer viel Schönheit, die entdeckt werden möchte. Mit herausragend schönen Bildern und ausführlichen, interessanten Textpassagen nehmen wir Teil an einer kleinen Reise durch die gesamte Bundesrepublik. Der Bildband selbst ist robust und hochwertig gebunden und kann auch als Reisebegleiter mitgenommen werden, sofern im Gepäck noch etwas Platz für ein etwas größeres Buch ist. Und ja, ich bin tatsächlich fündig geworden, was mein nächstes Reiseziel angeht und es ist noch nicht einmal weit entfernt. Die Heimat ist dann häufig auch nicht weit von der eigenen Haustür entfernt, man muss nur etwas über den Tellerrand der eigenen Wohlfühloase schauen. Eine große Empfehlung von mir.


Rezension: Aufziehvogel




Bildrechte: Kunth Verlag, München und den jeweiligen Künstlern

Eine ausführliche Auflistung der Bildrechte findet sich im Buch auf Seite 360

Dienstag, 14. Oktober 2025

Dorothee Elmiger gewinnt Deutschen Buchpreis

 



Ich hatte die nominierten Kandidaten für die diesjährige Vergabe des Deutschen Buchpreises nicht akribisch verfolgt, freute mich aber dennoch sehr für die Schweizerin Dorothee Elmiger, die für ihren Roman "Die Holländerinnen" auf die Shortlist gesetzt wurde und sich in den letzten Wochen auch zur Favoritin für den Preis mauserte. Nachdem sie bereits 2020 für "Aus der Zuckerfabrik" für den Preis auf der Shortlist stand, heimst sie diesen nun rund 5 Jahre später für "Die Holländerinnen" ein. Ein Buch, welches ich bereits kurz in meiner Berichterstattung zu dem mysteriösen Verschwinden der beiden Niederländerinnen Kris Kremers und Lisanne Froon erwähnt hatte: Link führt in neuem Fenster zu einem Artikel auf meinem Blog

Zwar ist das Buch von Dorothee Elmiger fiktional, aber eben durch diesen echten Fall auch mit wahren Tatsachen angehaucht. Ich hatte bisher lediglich Zeit, eine Leseprobe zu lesen und als jemand, der den Schreibstil der Autorin kennt, wusste ich so ungefähr, dass ich mich auf eine besondere Leseerfahrung einstellen kann. Vor über 11 Jahren, also im Jahr 2014, besprach ich hier auf "Am Meer ist es wärmer" ihren zweiten Roman "Schlafgänger" (Besprechung im Blog-Archiv jederzeit aufrufbar) und bin auch so viele Jahre später von diesem noch angetan.

"Die Holländerinnen" wird von der allgemeinen Leserschaft vermutlich nicht weniger "kontrovers" aufgenommen werden wie ihre vorherigen Werke. Doch genau solche literarischen Experimente sind es, die ich mir von der deutschsprachigen Literatur erwarte, innig wünsche. Unsere Sprache kann so viel, doch häufig wird sie besonders in fiktionalen Romanen viel zu selten intelligent und spielerisch genutzt. Insofern hoffe ich, wird die Verleihung des Preises Dorothee Elmiger den Antrieb geben, mit ihrer Literatur genau so weiterzumachen.

Montag, 13. Oktober 2025

Einwurf: Als Netflix mit "The Witcher" sein eigenes Game of Thrones im Programm hatte und sich irgendwie verzockt hat

 




Es war einmal.....

Ok, wo fängt man bei diesem Thema am besten an? Die Idee zu diesem Einwurf ist mir schon vor längerer Zeit gekommen, aber bei diesem Gewirr aus äußerst komplexen Themen rund um den Witcher wie das Ursprungsmaterial, die Videospiele, eine Netflix-Adaption, eigenbrötlerischen Showrunnern, Drehbuchautoren, Netflix als Auftraggeber und einem Hauptdarsteller, der die vermeintliche Hauptfigur prägend dargestellt hat und nun ersetzt werden musste - hin zu dem unrühmlichem Ende der Serie auf Netflix, puh, da kommt einiges zusammen. Und ich kann da auch unmöglich auf alles eingehen. Aber besonders jetzt, so kurz vor dem Start der vierten und vorletzten Witcher-Staffel (30.10), ist es denke ich die Mühen wert, das Thema einmal aufzuarbeiten.

Wenn man wirklich ganz am Anfang starten möchte, dann muss man vermutlich ins Jahr 1986 nach Polen zurückreisen. In diesem Jahr reichte ein bereits 38 jähriger Fantasy-Liebhaber namens Andrzej Sapkowski auf Empfehlung seines Sohnes eine Kurzgeschichte bei einem beliebten polnischen Fantasy-Magazin ein. Der Rest ist für Fans vielleicht Geschichte, für die breite Masse eher weniger, denn die Romane fanden außerhalb von Osteuropa erst mit der Veröffentlichung der Videospiele größere Beachtung und entwickelten sich im Laufe der Jahre von einem Fantasy-Geheimtipp zu einer wahren Größe im Fantasy-Genre. Mit dem Start der Netflix-Adaption im Jahr 2019 witterten viele Verlage ihre Chance. Mit der Bekanntmachung, die TV-Serie werde die Bücher adaptieren, entschieden sich viele Verlage dazu, die komplette die Reihe noch einmal neu zu publizieren. Entweder wurde gleich eine neue Übersetzung angefertigt oder die Bücher wurden in neuem Gewand mit moderner Covergestaltung noch salonfähiger gemacht. Die Abenteuer des Hexers Geralt von Riva und seiner Ziehtochter Ciri sind zum Start der TV-Serie auf ihren Höhepunkt der Popularität angelangt.

Einer der schärfsten Kritiker der Videospiele war schon immer der Schöpfer selbst. Andrzej Sapkowski ist damals beim Verkauf der Nutzungsrechte keinen wirklich guten Deal eingegangen. Bei der Produktion der Videospiele des polnischen Entwicklerstudios CD Project Red hatte er nicht nur wenig Mitspracherecht, auch die finanzielle Vergütung war für den Autor kein gutes Geschäft. Das ist insofern nicht ungewöhnlich, da Videospielentwicklung in Polen damals noch kaum der Rede wert war und niemand mit so einem bahnbrechendem Erfolg gerechnet hat. Im Jahr 2025 allerdings gehört die polnische Gaming-Industrie mit zu den führenden Studios der Welt. Dies ist auch dem mittlerweile 77 Jahre alten Schriftsteller nicht entgangen, wollte gerne ein größeres Stück vom Kuchen und verhandelte neu über die Lizenzrechte, diesmal zu seinen Gunsten. Der Rechtsstreit zog sich lange hin und obwohl die Sache mittlerweile aus der Welt geschafft ist, beklagt Sapkowski sich auch heute noch häufiger darüber, wie die Videospiele mit der etablierten Lore der Bücher umgehen bzw. diese doch falsch interpretieren würden.

Wie einmal sein Fazit zur Serien-Adaption des Streaming-Riesen Netflix ausfallen wird, ist nicht so bekannt, da vermutlich auch Sapkowski noch unter einer NDA-Klausel steht und sich mit Kritik zurückhalten muss. Über die vergangenen Jahre sind die seltenen Interviews aber deutlich zynischer geworden. Er lächelt den Frust weg, besonders, wenn er von der Hilfe spricht, die er den Autoren angeboten habe. Andrzej Sapkowski haben die Showrunner jedoch nie kontaktiert und zu Rate gezogen. Anders als bei George R.R. Martin und Game of Thrones - doch dort kam es ja auch immer wieder zu kreativen Problemen, so lange, bis GRRM sich komplett von den Dreharbeiten und aus der Produktion zurückgezogen hatte (genau so sollte es dann auch ab Staffel 2 von House of the Dragon laufen). Die roten Flaggen der Netflix-Adaption wurden im laufe der Staffeln vielzähliger. Wenn man schon die Hilfe des Schöpfers nicht in Anspruch nimmt, dann wird man zumindest aber auf seinen Hauptdarsteller hören wenn man die lauten Stimmen der Zuschauer und Fans der Bücher und Videospiele schon geschickt ausblendet, oder? Das besagte "Oder" verhallt gerade in einem vielsagendem Echo.


Die goldene Ära

Hier wird das Thema rund um die komplette Witcher-Reihe erstmal so richtig komplex. Gehen wir zurück ins Jahr 2019. Ich sah ein Promo-Interview über den offiziellen YouTube Kanal von Netflix, geführt von einer jungen Frau, die, etwas nervös, Andrzej Sapkowski interviewte. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich noch, dass man hier eine etwas unerfahrene Promo-Dame, die für Netflix arbeitet, ins Rennen geschickt hat, um die üblichen Vorbereitungen vor Serienstart abzuarbeiten. Aber in Wahrheit saß da keine Mitarbeiterin aus dem Marketing-Department, sondern die Showrunnerin Lauren Schmidt-Hissrich selbst. Neben ihr, später im Interview gut zu erkennen, lagen auf dem Tisch Taschenbücher der englischen Ausgabe zu Sapkowskis Hexer-Reihe verteilt. Die Bücher waren ausgelesen, stark benutzt, übersät mit Sticky-Notes und anderen Markierungen. Und hier bekam ich auf einmal als Zuschauer ein gutes Gefühl. Diese Frau hat die Bücher verinnerlicht, ist selbst ein Fan und möchte die Romane bestmöglich adaptieren.

Ein Unterfangen, welches in Staffel 1 eigentlich noch gut funktionierte. Die Reihe zu adaptieren ist aufgrund der Fülle an Material und der Chronologie nicht ganz so einfach. Ein Grund, warum die Videospiele nach den Ereignissen der Hauptgeschichte aus den Büchern spielen. Bereits hier tun sich aber teilweise auch die Videospiele schwer - zahlreiche relevante Charaktere aus den Romanen hatten bisher noch keinen Auftritt in den Videospielen. Der große Vorteil aber, den Netflix von Beginn an hatte; die Romanreihe ist seit mehr als 25 Jahren abgeschlossen. Aber auch hier wird es wieder kompliziert, denn erst vergangenes Jahr hat Sapkowski unter großem Erfolg in Polen einen neuen Roman veröffentlicht: "Kreuzweg der Raben". Der Roman wurde kürzlich in zahlreiche weitere Sprachen international veröffentlicht. Hier kommt nun der eigentliche Clou. Sapkowski hat die Reihe unlängst beendet, hat aber vor, sie weite zu schreiben. Sapkowski hat mit der "Hussite Trilogie" bereits zwischen 2002-2006 eine andere Reihe erfolgreich beendet und widmete sich immer mal wieder auch dem Hexer. Es existieren neben der Hauptgeschichte also noch zahlreiche Prequel-Romane sowie ein Dutzend Kurzgeschichten. Hier war von vornherein wohl klar, dass man unmöglich alles adaptieren kann. Aber man hatte mit den 5 Romanen rund um die Hauptgeschichte um Geralt und Ciri die beste Möglichkeit, eine vollständige Geschichte für Netflix zu adaptieren. Ein Luxus, den Game of Thrones bekanntermaßen nie hatte.

Mit Henry Cavill fand man dann auch zugleich seinen Hexer. Jeder, der sich ein wenig mit dem Werdegang des einstigen "Man of Steel" beschäftigt hat, der weiß, es gibt kaum mehr Darsteller wie ihn, die mit mehr Passion und Hingabe an eine Rolle gehen. Um sich auf die Rolle vorzubereiten, las Cavill die Bücher und spielte die Spiele. Er wurde am Set wortwörtlich zu Geralt von Riva, was so weit ging, dass er sich das ein oder andere mal am Set sehr kritisch über die Drehbücher äußerte und lautstark klar machte, dass der Geralt, den er durch die Bücher und Videospiele kennengelernt hat, gerade nicht so handeln würde wie sein Gegenstück in der Serie. Die Showrunner mussten Cavill beschwichtigen und baten ihn hingegen, sich bitte an das Script zu halten. Die Frage, die gestellt werden muss, wie lange lässt sich der vermeintliche Star der Serie so etwas bieten? Da ich nun schon zum zweiten mal von "Vermeintlicher Hauptdarsteller" spreche, hat seinen Sinn und Zweck. Henry Cavill's Geralt wird nämlich im Verlauf der Serie immer mehr zu einer Randfigur. Kommt mir bekannt vor: Phantastische Tierwesen: Ein phantastisches Missverständnis (Link führt zu einem Artikel auf meinem Blog in einem neuen Fenster)

In Staffel 1 sollte all das aber noch gut enden. Der Zusammenhalt zwischen Sapkowski, Cavill und den Showrunnern war zumindest zu dieser Zeit noch zu spüren. Ein Kritikerliebling war die erste Staffel bereits schon damals nicht. Kritisiert wurde hier von der Story hin zum Kostümdesign so einiges. Dennoch, bei den Zuschauern und zu dieser Zeit auch noch bei den meisten Fans der Bücher war die Netflix-Adaption ein Volltreffer und sorgte für Rekorde beim Streaming-Giganten. Zu verdanken hatte man dies vermutlich hauptsächlich der Performance von Henry Cavill. Doch auch andere Figuren konnten in dieser ersten Staffel noch glänzen wie Yennefer, die hier äußerst charismatisch von Anya Chalotra verkörpert wird sowie Lars Mikkelsen (Bruder von Mads Mikkelsen) als zwielichtiger Antagonist Stregobor. Aufrichtigen Fans der Büchern ist hier bereits aufgefallen, dass man sich bei Story-Arcs und Charakterisierung schon viele Freiheiten gelassen hat. Aber man gab sich sichtlich Mühe, aus dem Kurzgeschichtengewirr der beiden Bände "Der letzte Wunsch" und "Das Schwert der Vorsehung" eine kohärente Story zu erzählen. Kritisiert wurden zudem die verworrenen Zeitsprünge der ersten Staffel, aber hier ging es erstmal darum, sich ein solides Grundgerüst in einer komplexen Fantasy-Welt aufzubauen. Das ist eine Mammutaufgabe. Mit Staffel 2 würde man sich dem ersten großen Witcher-Band annähern und versuchen "Das Erbe der Elfen" zu adaptieren. Doch da stand intern bereits fest, dass Lauren Schmidt-Hissrich und ihr Team lieber ihre eigene Version der Geschichte erzählen wollen.


Der schleichende Niedergang

Staffel 2 wurde dann 2 Jahre später unter immer noch viel Antizipation erwartet und konnte, wenn auch nicht mehr auf gleichem Level, immer noch Fans überzeugen. Der Zusammenhalt der Verantwortlichen war nicht mehr ganz groß, aber Henry Cavill bewarb die Staffel über seine Social Media Accounts immer noch intensiv. Hinter den Kulissen brodelte es da bereits mehr. Dass die Serie zu diesem Zeitpunkt fast nur noch von Cavill getragen wurde, war etwas, was die Showrunner nicht einsehen wollten. Kritisiert wurden diesmal nicht nur viele Freiheiten, die man sich gegenüber der Vorlage erlaubt hat, es wurde generell kritisiert, dass die Serie kaum einem nachvollziehbaren Plot verfolgt. Ciri, die Person, die einmal Geralts Platz einnehmen würde, wurde für die Zuschauer immer mehr zum Nerv-Faktor. Ebenfalls ein Grund zur Kritik war, wie anders sich auf einmal etablierte, beliebte Charaktere nun verhielten. Da war es umso unglücklicher, dass nun auch die Netflix Content-Policy so richtig griff und die Serie so "Konform" und "Divers" an modernen ethischen Standards wie möglich angepasst und ausgeschmückt werden musste.

Dies sollte für Staffel 3 dann sehr wichtig werden. Intern wurde das Buchmaterial wohl als "Schund" bezeichnet und somit hatte das zu adaptierende Material einen schweren Stand bei den Produzenten und Writern. Besonders die sogenannte "Toxic Masculinity" der Bücher wurden wohl scharf kritisiert. Dem wirkte man zudem später entgegen, dass in der Serie der Barde, treuer Gefolgsmann von Geralt und Frauenheld Rittersporn sexuell umgepolt wurde - etwas, was in den Büchern nie passiert. 
Vor Staffel 2 erschien bereits mit "Nightmare of the Wolf" ein müder animierter Prequel-Film auf Netflix. Nach Staffel 2 erschien mit der Live-Action Prequel-Miniserie "Blood Origin" die wohl bisher größte Sünde des Franchise, wurde sie von professionellen Kritiken und Fans gleichermaßen in Grund und Boden gestampft. Die Franchise-Risse begangen für Netflix allmählich zu bröckeln. Doch der Zug steuerte hier bereits ohne Bremsung auf eine Mauer zu. In Staffel 3 entschied man sich endgültig dazu, seine eigene Geschichte zu erzählen und die Romane nur noch als Referenzmaterial zu benutzen. Staffel 3 erschien 2023. Der Zusammenhalt zwischen Sapkowski, Cavill und sämtlichen Verantwortlichen von Netflix war nicht mehr existent. Cavill bewarb die Staffel nicht mehr großartig auf seinen Social Media Kanälen und äußerte sich durch die Blume in Interviews kritisch zu der Entwicklung der Serie. Mehr noch als die zweite Staffel verrennt Staffel 3 sich in Plot-Sackgassen. Charakterentwicklung ist kaum noch erkennbar, wichtige Figuren sind entweder verändert oder fehlen komplett. Der Hexer selbst hat weniger Screentime als je zuvor und stattdessen verschwendet man eine komplette Episode damit, wie Ciri alleine durch die Korath Wüste flaniert. Hier sind bereits alle Dämme gebrochen, indem wichtige Character-Arcs aus den Büchern vollständig umgeschrieben wurden. Man könnte mittlerweile meinen, man verfolgt hier eine Fanfiction mit Romantasy-Elementen. Zwar kam Staffel 3 noch immer besser als "Blood Origin" an, aber die Serie hat sich hier unlängst verloren. Was wir hier in Staffel 3 geboten bekommen ist nicht mehr die Adaption von Sapkowskis Fantasy-Reihe, sondern eine Nacherzählung basierend auf den Vorstellungen von Showrunnerin Lauren Schmidt-Hissrich unter der Aufsicht von Netflix. Fast gebetsmühlenartig hatte Hissrich bei der Promophase darum gebeten, der Neuausrichtung eine Chance zu geben. Es sei schlicht und ergreifend nicht machbar, die umfangreichen Bücher umzusetzen. Dass aber genau diese Bücher schon viel früher intern in Ungnade gefallen sind bei den Showrunnern sowie dem Autorenteam, wird hingegen nicht erwähnt. Sapkowski habe mehrmals seine Hilfe bei der Umsetzung des Stoffes angeboten und hatte einige Ideen, wie man den Stoff artgerecht für eine TV-Serie umsetzen könnte. Doch darin bestand nie Interesse, da man lange vorher den Plan verfolgte, sich vom Material der Bücher zu distanzieren und diese nur noch als eine Art Handbuch zu verwenden, wo man sich Ideen herauspickte, die man irgendwie noch für die Serie nutzen konnte.

Am Ende kam es, wie es sich angedeutet hat. Henry Cavill gab kurze Zeit später sein Serien-Aus bekannt. Die wahren Gründe werden vermutlich für immer unbekannt bleiben. Zum einen zertritt sich Cavill zu diesem Zeitpunkt mit seiner langjährigen Managerin (Ex-Ehefrau von Ex-Wrestling-Star The Rock), die ihm immer wieder herausragend schlechte Deals bescherte, wenn man sich Cavills unglückliche Karriere mal so anschaut. Danach hat sich wohl die gesamte Enttäuschung rund um die Entwicklung der Witcher Serie entladen und vermutlich wehte in Cavill noch ein Fünkchen Hoffnung, sich doch nochmal auf Warner und Super Man einzulassen. Aber das ist letztendlich eine andere, nicht weniger komplexe Geschichte. Fakt ist aber, der Mann, der eine strauchelnde Serie auf seinen starken Schultern getragen hat, ist weg. Für Netflix kam dies überraschend und ungünstig.


Da steckte nie ein großer Plan hinter

Ein Traum endet. Was für Netflix und unzählige Beteiligte als erfolgreiches Märchen begann, endete in einem Fiasko. Was als das "Game of Thrones von Netflix" bekannt wurde, ist heute auf einem ähnlichen Meme-Level wie die letzten 2-3 Staffeln von Game of Thrones. Früh genug verkündete Netflix, dass nach den kommenden Staffeln 4-5 die Witcher-Serie auf Netflix ihr Ende finden wird. Geralt von Riva wird in diesen letzten beiden Staffeln durch Liam Hemsworth ersetzt. Ein Erbe, welches weniger eine Herausforderung und Chance für die Karriere ist, als viel mehr ein Schleudersitz ohne wirklichen Pay-Off. Fans beschwichtigen seit Monaten Online, Hemsworth (der in den erstmals gezeigten Teasern und  Trailern zur vierten Staffel ein wenig Ähnlichkeit mit dem jungen Val Kilmer in "Willow" aufweist) nicht Teil von irgendwelchen frustrierten Hetzkampagnen werden zu lassen. Neben einigen "Geralt auf Temu bestellt" Onelinern, hält sich die Kritik gegenüber dem jüngsten der Hemsworth-Sprösslinge zurück. Und das ist auch richtig so. Grundsätzlich ist nichts, was jetzt folgt, mehr zu ändern und zu korrigieren. Wenn überhaupt sollte sich Frust sachlich aber spürbar gegen Netflix und die Showrunner wenden, die hier die Chance hatten, eine gelungene Fantasy-Reihe zum Leben zu erwecken und sämtliche Kritik abgeschüttelt und ignoriert haben. Und dies über Jahre. Dazwischen war eine menge Zeit für Kurskorrektur.

Was Netflix lange Zeit verschwiegen hat: Staffel 4-5 wurden wohl Back-to-Back gedreht. Soll heißen, alle verbliebenen Folgen sind, ähnlich wie bei Squid Game, längst abgedreht und werden hier als separate Staffeln nun vermarktet und veröffentlicht. Insofern dürfte dann auch mit einem zügigen Release der finalen Staffel 5 zu rechnen sein. Denn Netflix möchte die Angelegenheit jetzt auch schnell hinter sich bringen. Laut aktuellen Zahlen, die öffentlich geworden sind, hat Netflix über die Jahre (Nightmare of the Wolf und Blood Origin mitgezählt) über 700 Millionen Dollar in das Witcher-Projekt gesteckt. Eine absurde Summe für ein Streaming-Projekt. Dementsprechend dürfte es nicht wundern, dass das Budget für die letzten beiden Staffeln zurückgefahren wurde. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wohl auch Staffel 4 einen gewissen Erfolg verbuchen wird. Zumindest was die ersten Folgen angeht. Alle wollen nun einmal den neuen Geralt sehen. Danach wird das Interesse wohl immer weiter weichen. Denn, wie schon erwähnt, einen spannenden, großen Plot und ein spannendes Serienfinale, auf das die Serie zusteuert, ist nicht in Sicht. Und das ist letztendlich wohl eine noch größere Sünde, als sich nicht an vorhandenes Buchmaterial zu orientieren, was man hätte adaptieren können. Am Ende sind Netflix und die Showrunner daran gescheitert, nie einen wirklichen Plan gehabt zu haben. Und das ist insofern traurig, da sich in den kommenden Jahren wohl niemand noch einmal an so ein ambitioniertes Projekt aus dem Witcher-Universum wagen wird (die Videospiele ausgenommen). Für Netflix hingegen wird die Witcher-Adaption aber wohl als größter anzunehmender Serien-Fumble der Firmengeschichte eingehen. Und nach der mittelschweren Enttäuschung rund um Squid Game und Sandman beweist Netflix einmal mehr, dass man kein gutes Händchen beweist, eine Serie langfristig zu einem bleibenden Erfolg zu krönen. Die nächste Gelegenheit hat man dann bei Stranger Things, wo die letzten Episoden auch schon zu viele Jahre auf sich warten lassen. Aber hier wird man wohl noch am ehesten die Chance haben, ein versöhnliches Ende mit seinen Zuschauern zu finden.
(Kleiner Nachtrag: Ja, Cobra Kai hat man anständig zu Ende gebracht*)


Toss a coin to your poor Witcher


Autor: Aufziehvogel

Dienstag, 30. September 2025

Review: One Battle After Another

 



One Battle Another

Regie und Drehbuch: Paul Thomas Anderson
Vorlage: Vineland (Thomas Pynchon)
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Sean Penn, Benicio Del Toro, Teyana Taylor, Chase Infiniti
Genre: Drama, Komödie, Satire
Laufzeit: Circa 161 Minuten
Musik: Jonny Greenwood
FSK: Ab 16 


Alle paar Jahre meldet sich Paul Thomas Anderson zurück, weil er uns eine neue Geschichte erzählen möchte. Mit seinem zehnten Spielfilm "One Battle After Another" macht er einmal mehr klar, dass er zu den außergewöhnlichsten zeitgenössischen Regisseuren Hollywoods gehört. Vielleicht einer der letzten Geschichtenerzähler, den es in Tinseltown noch gibt. Umso schwieriger macht es die Lage in den USA, die Menschen zu überreden, sich knapp 3 Stunden ins Kino für einen Film zu setzen, der wie kaum ein anderer Film derzeit die aktuelle Lage der USA mit einem bissigen Galgenhumor wiedergibt. One Battle After Another - Eine Schlacht nach der anderen - gilt wohl auch für das amerikanische Box-Office, wo der Film eindeutig seine härteste Schlacht zu bestreiten hat.

Paul Thomas Anderson ist in keinem Genre so wirklich zu Hause. Er ist vermutlich der einzige Regisseur, der eine Romantic-Comedy mit Adam Sandler in der Hauptrolle drehen kann nur um viele Jahre später zwei Romane von Thomas Pynchon zu adaptieren. Wenn PTA ruft, kommen noch immer die ganz großen Namen. Genau wie einst Sergio Leone sind es die einprägsamen Charaktere, die Anderson entwirft. Sie alle sind auf der Suche nach etwas - Geld, Freiheit, dem Sinn des Lebens - sie alle sind ein bisschen paranoid, kaputt, ängstlich. Haben Verlustängste. All das sind Charaktermerkmale, die auch in One Battle After Another wieder zum Vorschein kommen. Und selten hat Anderson sie gleichzeitig so nah- und unnahbar dargestellt.

Die Geschichte in One Battle After Another handelt von Pat Calhoun (auch Ghetto Pat genannt und gespielt von Leo DiCaprio), der einer linksradikalen Aktivistengruppe namens "French 75" angehört und sich in eine ihrer Anführerinnen, Perfidia Beverly Hills (gespielt von Teyana Taylor), verliebt. Gemeinsam stürmen sie ein vom Militär bewachtes Immigrantenlager und befreien zahlreiche dort inhaftierte Menschen. Das Militär selbst wird gedemütigt, eingesperrt und entmachtet. Alles vor den Augen des stolzen Commanding Officer Steven J. Lockjaw, der sich wiederum ebenfalls unsterblich in Perfidia verliebt. Einige Zeit nach diesem Ereignis vergeht, Pat und Perfidia erwarten eine Tochter und versuchen es als Familie. Perfidia ist für dieses Leben jedoch nicht gemacht und macht stattdessen weiter mit French 75 und wird geschnappt. Nicht nur ist damit die bröckelnde Familienidylle hin, im laufe der Jahre wird Pat als Alleinerziehender Familienvater zu einem drogenabhängigen paranoiden Mann, der immerzu meint, die Vergangenheit könnte ihn und seine mittlerweile 16 Jahre alte Tochter wieder einholen.

In One Battle After Another müssen allen voran kleine Schlachten geschlagen werden. Ghetto Pat wird keine Verschnaufpause gegönnt. Besonders beeindruckend ist einmal mehr die Weitsicht von Paul Thomas Anderson. One Battle After Another ist ein amerikanisches Märchen. Ungefähr so läuft der Film ab. Sean Penn als völlig geistig umnachteter Colonel ist so herrlich überzeichnet, er könnte ein Disney-Bösewicht der alten Schule sein. Zwar sichtlich gealtert aber immer noch mit drahtiger Statur, überragt Penn's Darbietung als Colonel Lockjaw sich selbst. Herausragend stellt er diese Figur so lächerlich und zeitgleich furchteinflößend wie nur möglich dar. Und dann ist da ja auch noch Sensei Sergio St. Carlos (Benicio Del Toro), der Karatelehrer von Pat's Tochter, der zufällig auch noch so ein kleines "Latino-Ding" nebenbei am laufen hat. Nicht nur stiehlt Del Toro hier beinahe allen die Show, sein Zusammenspiel mit DiCaprio weckte bei mir auch wohlige Erinnerungen an Raul Duke und Dr. Gonzo aus "Fear and Loathing in Las Vegas".

Zum zweiten mal wagt sich Anderson hier an einen Thomas Pynchon Roman. Dies klappte bei "Inherent Vice" (ein Film, den ich persönlich absolut herausragend finde) noch nicht so ganz. Zu speziell, viel zu kompliziert und selbst für einen Pynchon-Roman war das schwere Kost. One Battle After Another macht es da ein wenig anders: Nicht nur basiert der Film sowieso schon auf den etwas zugänglicheren Roman "Vineland", die Adaption selbst nimmt es im adaptieren nicht so ernst und Anderson zieht stattdessen lieber einzelne Plot-Points aus dem Roman anstatt ihn wie Inherent Vice aufrichtig adaptieren zu wollen. Und das tut dem Film gut, denn es ist und bleibt nahezu unmöglich, irgendwas von Pynchon respektvoll zu adaptieren.

Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt, als in Baktan Cross die Hölle losbricht. Chaos auf den Straßen. Ein ständiger Szenenwechsel, der einem aber gar nicht so vorkommt und alles viel mehr wie ein einziger großer Take abläuft. Eine Melodie, nur wenige Töne hat sie, begleitet von einem nervösen Klimpern auf einem Klavier, begleitet dieses Chaos und die Figuren auf ihrer Tour de Force durch die Anarchie. Wenn man all das verfolgt hat, kommt einem der letzte Teil des Film vielleicht fast schon handzahm, ein wenig in die Länge gezogen vor. Hier hätte man etwas straffen können, da besonders viele Szenen in der Wüste dabei sind, die kaum etwas zum eigentlich flotten Pacing des Films beitragen. Doch auch im finalen Showdown wird noch eine Schlacht ausgetragen. Sie ist persönlicher, emotionaler. Es ist nach der turbulenten Filmmitte nur schwerer, sich auf den deutlich ruhigeren Tonfall des Films danach wieder einlassen zu können.

Und um es kurz und knackig zu machen: One Battle After Another ist politisch angehaucht. Viel mehr sogar noch ist es eine aktuelle Stimmungslage der USA. Doch Anderson gelingt es, all das auf eine nicht penetrante Art zu verpacken. Den Film nicht in irgendwelchen Ideologien abdriften zu lassen. Als auf einmal der sogenannte "Christmas Adventurers Club", eine geheime Vereinigung reicher, weißer Männer (sogenannte White Supremacists) ins Spiel kommt, weiß man, worauf man sich bei One Battle After Another einlassen muss. Nichts ist heilig. Niemand ist sicher. Nicht einmal die Mitglieder in dieser Vereinigung. Getreu dem Motto, wer nicht mit am Tisch sitzt, der landet auf der Speisekarte. Gefressen oder gefressen werden - One Battle After Another.



Fazit:

Paul Thomas Anderson macht weiter genau das, worauf er Bock hat. One Battle After Another ist erneut eine Liebeserklärung von Anderson an das strauchelnde Kino. Nicht jeder wird Andersons modernes Märchen mögen. Dafür piekst der Film vielleicht auch manchmal zu sehr da, wo es weh tut. Bildgewaltig und herausragend geschauspielert (was auch für die Newcomerin Chase Infinity gilt, die hier als Pats Tochter Willa/Charlene überzeugt), gibt es außer einem vielleicht etwas zu großzügig angelegten Showdown nichts, was ich dem Film auch nur ansatzweise vorwerfen könnte. One Battle After Another ist ein Film, der einzig und alleine für die große Leinwand gemacht ist. Er erinnert uns daran, warum es Kinos gibt, warum wir diese mittlerweile völlig überteuerten Lichtspielhäuser mal gerne besucht haben.

Und vielleicht ist dann da doch noch eine einzige, weitere Sünde, die dieser Film begeht: Ein weiterer Paul Thomas Anderson Film ohne Philip Seymour Hoffman. Er war leider wieder unpässlich, wird es wohl auch für immer bleiben. Das wäre ein Film nach seinem Geschmack gewesen und er hätte ihn sehr wahrscheinlich geliebt. Auf dieser doch wehmütigen Note endet die Besprechung dann auch. Auf einer hohen Note aber: Bitte anschauen. Auf der großen Leinwand. Am besten im O-Ton.




Review: Aufziehvogel

Donnerstag, 25. September 2025

Der ungeklärte Fall von Kris Kremers und Lisanne Froon Teil 2: Verschollen in Panama (Rezension)

 



Verschollen in Panama: Die wahre Tragödie vom Pianista Trail

Verschollen in Panama
Autoren: Christian Hardinghaus, Annette Nenner
Verlag: Selbstverlag (Self-Publishing)
Genre: True-Crime, Mystery


Das war so nicht geplant. Klingt nun wie die Fehlermeldung, wenn eine beliebte Seite, die man gerne im Internet besuchen würde, mal wieder nicht erreichbar ist. In meinem Falle geht es hier um meine kleine True-Crime Reihe um das mysteriöse verschwinden der beiden jungen niederländischen Frauen Kris Kremers und Lisanne Froon, die im Jahr 2014 bei einer für dortige Verhältnisse alltäglichen Wanderung verloren gegangen und, wie Knochenfunde bewiesen haben, dort ihr Leben lassen mussten. Meine Besprechung zu dem Buch "Verschollen in Panama" war bereits vor einigen Monaten geplant. Aber vieles kommt wie immer anders, besonders, als man denkt.

Der Fall ist in True-Crime Communities seit seiner Bekanntmachung ein Dauerthema, medial war der Fall aber lediglich in den Niederlanden und in Panama wirklich relevant. Woher kommt also nun auf einmal ein so gestiegenes Interesse dem Fall von Kris und Lisanne gegenüber? Nun, zum einen liegt das natürlich daran, dass wir heute, man mag es ja kaum glauben, deutlich besser vernetzt sind als noch vor über 10 Jahren. Die Tragödie um die beiden jungen Frauen und die vielen Ungereimtheiten bei der Ermittlung waren Futter für unzählige True-Crime Kanäle auf YouTube sowie diverser Podcasts. Doch es war ein Podcast, der diesem Fall eine Frische verliehen hat, die einen Dominoeffekt mit sich brachte: Lost in Panama, ein Zusammenspiel der beiden Journalisten Mariana Atencio und Jeremy Kryt. Letzterer ist mit dem Fall sehr gut vertraut, gehörte er zu den ersten englischsprachigen Journalisten, die den Fall prominent besprochen haben. Und dieser Podcast war, obwohl ich mit dem Fall seit einigen Jahren vertraut bin, auch eine meiner Anlaufstellen. Besprochen habe ich diesen Podcast im April: Lost in Panama - Podcast Review (Link öffnet neues Fenster, ihr bleibt auf meinem Blog)

In meiner Besprechung habe ich den Podcast für gelungene Production-Values, großartiger Soundkulisse und generell dafür gelobt, diesem Cold-Case wieder neues Leben eingehaucht zu haben - gleichzeitig aber auch stark für eine extrem reißerische Berichterstattung kritisiert, die damit anfängt, wahllos Menschen an den Pranger zu stellen und damit endet, irgendwelche Gerüchte, die man vom Hörensagen aufgeschnappt hat, als blutrünstige, grafische Tatsachen im Podcast unterzubringen. Ein zweischneidiges Schwert und man muss für sich als Hörer abwiegen, wie man selbst zu den Inhalten im siebenteiligen Podcast steht und damit umgeht.

Der April ist hier bei Veröffentlichungsdaten, wie auch bei meinem Podcast-Review, nicht zufällig gewählt. Es war das Unglück, welches sich am 01.04.2014 ereignete. Und so ist das Veröffentlichungsdatum des hier besprochenen Buches zweier deutscher Autoren natürlich auch nicht zufällig gewählt. Am 01.04.2024, exakt 10 Jahre nach dem Unglück von Kris und Lisanne, veröffentlichten in gemeinsamer Sache der Historiker Christian Hardinghaus und die studierte Germanistin und Weltenbummlerin Annette Nenner ihr eigenes Buch zu diesem Fall. Der Titel ist dabei so einprägsam wie ein wenig verwunderlich, haben sie ihr eigenes Buch doch nach jenem Podcast benannt, den sie in ihrem Werk auf fast jeder einzelnen Seite einmal kritisieren. Verschollen in Panama: Die wahre Tragödie vom Pianista Trail.

Vorab muss ich sagen, völlig unvoreingenommen an das Buch herangegangen zu sein. Ich las gemischte Meinungen zum Buch, die weit auseinandergingen. Rezensionen, die das Buch von Christian und Annette feierten und andere, die es deutlich kritischer sahen. Ich selbst sehe mich wohl irgendwo in der Mitte und denke mir, dass man gute Arbeit geleistet hat, den Fall einmal gründlich aufzuarbeiten und ein paar Missverständnisse aus der Welt zu schaffen, zeitgleich es aber auch versäumt hat, sich durch viele unglückliche Entscheidungen fast schon selbst im Wege steht, diesen Fall weiterzubringen, geschweige den beiden jungen Frauen aus den Niederlanden den nötigen Respekt zu zollen. Doch alles nach der Reihe.

Verschollen in Panama besticht besonders im ersten Teil des Buches durch eine klare Sprache, eine sachliche Aufarbeitung der Geschehnisse und einem gelungenen Schreibstil. Deutsche Nüchternheit könnte man dazu sagen, im positiven Sinne. Ich konnte den Kindle nicht aus der Hand legen, denn noch nie zuvor habe ich in so einem Detailgrad über so viele Hintergründe und allen voran Details zu den Anfängen der Reise von Kris und Lisanne erfahren. Von der Abreise und der emotionalen Verabschiedung der Eltern hin zu dem malerischen Aufenthalt in Bocas del Toro hin zu ihrem verhängnisvollen ersten Tag in Boquete, wo einfach alles schief gehen sollte. Hier zeigt das Buch seine wahren Stärken und ungefähr das war es, was ich mir gewünscht habe. Eine nüchterne Aufarbeitung der Geschehnisse, vielleicht ein wenig garniert mit eigenen Theorien und Recherchen. Besonders die Zwischenkapitel mit Annette, die vor Ort in Boquete anwesend war und ihr Reiselogbuch mit den Lesern teilt, fand ich bis zu einem gewissen Punkt sehr stimmig.

Doch bereits sehr früh fielen mir Dinge auf, die mir weniger gefallen haben. Immer wieder werden Nadelstiche und Giftpfeile der Autoren zu anderen Berichterstattern gesendet. Sei es die niederländischen Autoren Marja West und Jürgen Snoeren, die immer wieder in fast jedem Kapitel eine volle Breitseite zu spüren bekommen, wie auch die Behörden sowie die ermittelnde Staatsanwältin aus Panama und, nicht zu vergessen, Mariana Atencios und Jeremy Kryt. Zuerst war ich fein damit, dass hier Dinge korrigiert und richtiggestellt werden, allen voran auch mal ein wenig schärfer kritisiert werden. Immerhin war ich selbst der gleichen Meinung, dass der Podcast zu viele Grenzen des guten Geschmacks überschritten hat. Doch nach einer Weile wurden die ständigen Anfeindungen gegenüber den Journalistenkollegen ermüdend und befremdlich, besonders, weil es in einem geschriebenen Buch natürlich keine Gegenwehr derer gibt, die man gerade kritisiert. Irgendwann nervte es mich und ich rollte tatsächlich während des lesens mit den Augen. Chris Hardinghaus und Annette Nenner nehmen am Ende Bezug auf diese Anfeindungen und erklären diese so:

[...]Unseren Lesern wird nicht entgangen sein, dass wir als Journalisten enttäuscht sind von den Arbeiten unserer Vorgänger West/Snoeren und Kryt/Atencio. Unsere Enttäuschung ist natürlich nicht persönlicher oder abspenstiger Natur. Da ihre Publikationen aber eine äußerst hohe Reichweite haben, ist uns nichts anderes übrig geblieben, als die daraus abgeleiteten Versäumnisse und Falschinformationen darzulegen. [...]

Für mich liest sich das nach sehr seltsamen Rechtfertigungen, immerhin muss es ja der Podcast oder eine andere kritisierte Berichterstattung gewesen sein, der die beiden Autoren erstmal auf die Idee brachte, sich dem Fall selbst anzunehmen. Man hätte sich einem separaten Kapitel widmen können, diese vermeintlichen Falschinformationen richtigzustellen. Stattdessen genießt man es viel zu sehr, andere Journalistenkollegen hier an den Pranger zu stellen. Etwas, was man ja selbst unbedingt vermeiden wollte, indem man die Ungerechtigkeit dem armen Tourguide Feliciano reinwaschen wollte, zeitgleich diesen als Heiligen porträtiert und mit dem Tourguide Plinio (der sich, meiner Meinung nach, Annette absolut vorbildlich gegenüber verhalten hat) sich einen neuen Candyman sucht, den man sich ja mal näher anschauen sollte. Meine eigene Meinung: Lasst die Tourguides, die hier einen harten Job erledigen und westliche Touristen durch die Gegend führen, einfach allesamt in Frieden. Hier wurden bereits zu viele Menschen in irgendetwas hineingezogen, womit sie offensichtlich nichts zu tun haben.

Die eigenen Theorien von Chris Hardinghaus und Annette Nenner widersprechen sich gerne häufiger. Mal liest man, der Ausflug zum Pianista sei von den jungen Frauen längerfristig geplant gewesen. Nur zwei Seiten später liest man hingegen wieder, dass das sehr wahrscheinlich doch eine sehr spontan getroffene Entscheidung war, allen voran geboren aus der Enttäuschung, nicht wie geplant den Ferienjob in der Aura Grundschule antreten zu können.

Zu oft entgleisen leider die eigenen Theorien und Recherchen, ruht sich stattdessen auf Lorbeeren aus, Akteneinsicht zu besitzen. Interessant hingegen fand ich die Recherche um das mittlerweile legendäre, unscharfe Schwimmfoto, welches Kris und Lisanne mit einer lokalen Jugendgang zeigen soll. Durch eine Befragung von Annette kommt hier jedoch zu Tage, dass auf den besagten Fotos keine der beiden Niederländerinnen zu sehen ist sondern viel mehr der unter mysteriösen Umständen verstorbene junge Mann Osmane und ein paar Freunde. Auch hier fehlen zwar absolut klärende Beweise, jedoch hat die Berichterstattung um das sogenannte Schwimmfoto noch mit die meiste Substanz von den eigenen Recherchen der beiden Autoren.

Da die Autoren Verfechter einer Verbrechenstheorie sind, möchte man am Ende noch etwas bringen, worauf niemand zuvor gekommen ist: Der rote Pickup-Truck. Gegen Ende des Buches möchte man seine eigene Recherche um diesen besagten roten Pickup-Truck schmackhaft machen und verhaspelt sich dabei nach wenigen Seiten durch irgendwelche Zeugenaussagen bereits in eine Sackgasse. Für mich führt die Verbrechenstheorie rund um den roten Pickup Truck ins Nichts und ist für mich an dieser Stelle auch nicht relevant genug, weiter auf dieses Kapitel einzugehen.

Auch hier, gegen Ende dieser Besprechung des Buches, möchte ich nochmal erwähnen, kein Anhänger irgendeiner Theorie zu sein. Gerne wird im Netz über die sogenannte "Lost" und "Foulplay" Theorie debattiert. Beides wäre denkbar. Vielleicht sind sogar beide Möglichkeiten eingetroffen. Aber für mich ist davon nichts greifbar und würde mich somit niemals einem Lager anschließen. Man darf letztendlich nicht vergessen, hierbei handelt es sich nicht um ein Spiel oder einen Wettbewerb, sondern um die Aufklärung eines Cold-Case.



Abschließende Gedanken

Egal ob als Podcast, Non-Fiction Buch oder Internetforen - der mysteriöse Fall rund um Kris Kremers und Lisanne Froon bewegt Menschen weltweit. Doch die Faszination scheint noch deutlich weiter zugehen. So stand dieser Fall Pate für den neusten Roman von Dorothee Elmiger der ganz schlicht "Die Hölländerinnen" lautet (sicherlich eine Anspielung auf die in Panama gebräuchliche Bezeichnung "Holandesas" im Zusammenhang mit diesem Fall). Ein fiktionaler Roman, der es nun sogar auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft hat und ich sicherlich demnächst hier auch noch besprechen werde.

"Verschollen in Panama" von Christian Hardinghaus und Annette Nenner ist eine weitere Interpretation des Falles. Nicht fiktional sondern als Non-Fiction Werk. Auch wenn beide Autoren ihre Aufarbeitung als die gründlichste verkaufen wollen, so bleibt vieles im Rahmen der eigenen Interpretationen und Auslegungen beider Autoren. Zieht man ständige Seitenhiebe gegen andere Journalisten ab, erhält man hier immer noch ein gut geschriebenes, teilweise exzellent recherchiertes True-Crime Buch geboten. Aber nach so einem starken Auftakt habe ich mir hier mehr erwartet. Mehr sachliche Aufarbeitung, weniger Emotionalität. Aber auch meine eigene Meinung zum Buch ist, wie zu dem Fall selbst, natürlich rein persönlich und subjektiv. Generell würde ich das Buch dem Podcast von Atencio und Kryt in allen Belangen vorziehen. Aber die gleichen Spielregeln wie beim letzten mal gelten auch für "Verschollen in Panama": Das Buch ist nur eine Meinung von sehr vielen zu dem gleichen Thema. Das solltet ihr als Leser immer beachten.


Rezension: Aufziehvogel
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Mehr zum Fall inklusive Bildmaterial über viele der hier angesprochenen Bilder und Situationen findet man gut kuratiert bei der niederländischen Bloggerin Scarlet R.

Link führt in einem neuen Fenster auf eine externe Website: Koude Kaas

Freitag, 22. August 2025

Rezension: Das gelbe Haus (Mieko Kawakami)

 




Japan

Das gelbe Haus
Originaltitel: Kiiroi Ie
Autorin: Mieko Kawakami
Übersetzerin: Katja Busson
Veröffentlichung: 12.08.2025
Genre: Drama, Mystery, Coming of Age



"Grundsätzlich war meine Mutter mit mir lieber in Gesellschaft als allein. Oft hingen wir mit Hostessen aus ihrer Bar herum, alten Freunden oder Leuten, die sie durch ihre Kunden kennengelernt hatte; immer, wenn wir allein waren, fühlte ich mich gehemmt. Wenn ich in der Schule war, schlief meine Mutter; gegen Mittag stand sie auf, am frühen Abend schminkte sie sich und ging zur Arbeit, und mitten in der Nacht kam sie zurück. Wir lebten praktisch aneinander vorbei."


Japanische Literatur erlebt besonders in Europa derzeit eine Hochphase, die es so vielleicht noch nicht gegeben hat. Dies liegt nicht nur an japanischen Schwergewichten wie Haruki Murakami. In den letzten Jahren haben allen voran sogenannte "Cozy-Books", wo es um magische kleine Orte wie zum Beispiel Buchhandlungen und Cafés geht, wo Menschen zu ihrer inneren Glückseligkeit finden, die Gunst der Leser in einer stressigen Zeit gewonnen. Dass der sogenannte "BookTok-Trend" hier eine Rolle spielte, die Popularität dieser Bücher noch etwas in die höhe zu treiben, ist auch kein Geheimnis. Zur Folge hatte dies jedoch einen angenehmen Schneeballeffekt; Literatur aus Japan, mittlerweile auch aus Südkorea, sind fester Bestandteil unserer Buchhandlungen geworden. Mit stetig neuen Veröffentlichungen ist da auch kein Ende in Sicht.

Doch japanische Literatur sind eben nicht nur Murakami und Stories über gemütliche Rückzugsorte, sondern auch viel mehr. Allen voran auch weiblich. Und so ist es keine Überraschung, dass der Name Kawakami derzeit in zweifacher Besetzung große Erfolge feiert. Zum einen die routinierte Autorin Hiromi Kawakami, die aktuell besonders in englischsprachigen Gebieten mit ihren Werken große Aufmerksamkeit generiert und eine etwas jüngere Generation, aber mit nicht weniger beeindruckenden Geschichten, Mieko Kawakami. Während Hiromi Kawamai auch auf dem deutschen Buchmarkt schon seit vielen Jahren ein Name ist, hat sich die 48 Jahre alte Mieko Kawakami in den vergangenen Jahren als eine international anerkannte Schriftstellerin etabliert.

"Das gelbe Haus" ist nach "Brüste und Eier", "Heaven" sowie "All die Liebenden der Nacht" der bereits vierte Roman, den der DuMont Buchverlag von der Gewinnerin des Akutagawa-Preises von 2008 veröffentlicht hat. Das besondere hieran, es ist auch der derzeit aktuellste Roman der Autorin (zuvor hatte man immer etwas ältere Romane von ihr übersetzt). Das erste, was mir direkt aufgefallen ist, ist der Umfang des Romans. Mit über 500 Seiten ist der Roman deutlich schwerer als vergangene Übersetzungen. "Brüste und Eier" ist zwar auch im Umfang üppiger, hier muss man aber mit einberechnen, dass es sich hier prinzipiell um zwei Novellen handelt, die die Autorin vor einigen Jahren zu einem Gesamtwerk geformt hat.

Im Zentrum von "Das gelbe Haus" steht die Ich-Erzählerin Hana, mittlerweile Anfang 40, die durch Zufall auf einen Artikel stößt, mehr eine Fußnote als alles andere, der sie schockiert zurücklässt. Berichtet wird dort von einer sechzigjährigen Frau namens Kimiko Yoshikawa, der der Prozess in mehreren Anklagepunkten gemacht wird, darunter Misshandlung und Freiheitsberaubung. Hana ist sich sofort sicher, es handelt sich hier um ihre Kimiko. Eine Frau, die im Leben von Hana einstmals eine wichtige Rolle spielte. Kontakt zu Kimiko hatte Hana seit vielen Jahren nicht, sie hat die Frau erfolgreich aus ihrem Leben gelöscht. Doch aus Furcht, dass die Vergangenheit Hana einholen könnte und Kimiko pikante Details über Hana sowie ein paar anderer Mädchen ausplaudern könnte, muss sie noch einmal Menschen um sich herum mobilisieren, die bestenfalls nur noch als Geister der Vergangenheit in ihrem Leben durchgehen.

Dem Leser wird schnell klar, dass die Farbe "Gelb" hier eine besonders symbolische Rolle einnehmen wird. Wieso ich die Geschichte auch dem Genre "Mystery" zuordne, liegt daran, dass direkt zu Beginn des Buches viele Fragen aufgeworfen werden: Wer ist Kimiko? Was hat sie getan? Auf welche schiefen Bahnen sind Hana und die anderen Mädchen in ihrer Jugend geraten? Es sind Fragen, die sich im Verlaufe der Geschichte beantworten werden und dazu sind die Erinnerungen der erwachsenen Hana und die der siebzehnjährigen Hana nötig. Sehr gekonnt verwebt Mieko Kawakami das Coming of Age Drama eines Mädchens aus einem sozialschwachen Haushalt mit einer glaubhaften Mystery-Geschichte, die durchweg spannend bleibt, neue Fragen aufwirft und dadurch zu einem Pageturner wird. Der übliche Stil von Kawakami, sämtliche Szenen ausführlich zu beschreiben, fehlt auch in ihrem aktuellsten Roman nicht. Ihre Beschreibungen von Räumen, Dingen und Menschen werden lebendig - man hat die Szene genau vor sich. All das muss für die Übersetzerin Katja Busson eine Herausforderung gewesen sein, da ich immer wieder lese, wie schwer es sei, den Osaka-Dialekt von Kawakami in eine andere Sprache zu übertragen. Doch wie immer liest sich die Übersetzung flüssig und detailreich. Für bestimmte Begriffe gibt es zudem am Ende des Buches einen kleinen Glossar.

"Das Geld verschaffte mir Freiraum. Es erlaubte mir nachzudenken. Es erlaubte mir zu schlafen. Es erlaubte mir, krank zu werden. Es erlaubte mir zu warten. Andere Menschen brauchten sich diese >>Erlaubnisse<< vielleicht nicht zu beschaffen. Bis zu einem gewissen Grad hatten die meisten sie wahrscheinlich schon immer. Aber nicht Kimiko und ich. Ich wusste, dass ich niemandem erzählen konnte, was ich tat. Deswegen konnte ich ja so oft vor Angst nicht schlafen. Wenn das rauskam, war ich geliefert!"



Abschließende Gedanken

Was bedeutet es, geliebt zu werden? Sich geborgen zu fühlen? Sich zugehörig zu fühlen? Ein sorgenfreies Leben zu führen? Und wie schmal ist der Grad, abzurutschen? Die falschen Menschen kennenzulernen und immer tiefer in ein Milieu zu entgleiten, wo man eigentlich nie landen wollte. Das sind Themen, mit denen sich Mieko Kawakami in ihrem neuen Roman befasst, der diesmal etwas länger ist, aber auf keiner Seite langatmig. Sie erzählt genau das, was sie erzählen möchte. Die Geschichte rund um Hana und Kimiko ist ein Puzzlestück, welches sich nur zu einem Bild zusammenfügt, wenn man jede einzelne Seite gelesen hat. Wie man das Motiv am Ende betrachtet, bleibt dem Leser überlassen. Einmal mehr beweist die japanische Autorin, dass sie mittlerweile unverzichtbar geworden ist. Nicht nur für die japanische Literatur, sondern für die Weltliteratur an sich. Große Literatur muss sich genau so lesen.



Rezension: Aufziehvogel

Samstag, 21. Juni 2025

Review: 28 Years Later

 




Dieses Review enthält moderate Spoiler zum hier besprochenen Film sowie dessen Vorgängern


28 Years Later

Regie: Danny Boyle
Drehbuch: Alex Garland
Darsteller: Aaron Taylor-Johnson, Jodie Comer, Ralph Fiennes, Alfie Williams
Genre: Horror, Drama
Laufzeit: Circa 115 Minuten
Musik: Young Fathers
FSK: Ab 18



"Sei dir deiner Sterblichkeit bewusst"


Die bekannte lateinische Phrase Memento Mori spielt neben Themen wie Elternschaft eine zentrale Rolle in 28 Years Later, der erste neue Film aus dem britischen Zombie-Franchise seit sage und schreibe 18 Jahren und insgesamt 23 Jahre nach dem Erstling. In dieser für uns Menschen recht langen Zeitspanne haben wir neben neuen Kriegen und Verwüstung dann auch leider schon eine echte Pandemie miterlebt und kämpfen gefühlt noch immer mit einigen Nachwirkungen. 28 Years Later, erstmals wieder unter der Regie von Danny Boyle und geschrieben von Alex Garland (28 Days Later, Ex Machina, Annihilation) setzt da an ganz anderen Stellschrauben an. Wie lebt es sich in einer Welt, in der immer noch ein tödliches Virus grassiert? Wie adaptiert man sich in dieser Welt? Eine vermeintliche Antwort in dieser Filmreihe gibt es dort nun nach 28 Jahren.

Bereits im Vorfeld hat der Debüt-Trailer vor einigen Monaten für reichlich Diskussionen und zahlreiche Spekulationen gesorgt. In einem beklemmenden Trailer, der von einem Gedicht des britischen Autors Rudyard Kipling begleitet wird (hier vorgetragen vom amerikanischen Theaterschauspieler Taylor Holmes 1878-1959), wurden Fan-Theorien angeheizt, wie der Film die Reihe nun fortsetzen würde. Und nein, besagter Zombie im Trailer war letztendlich nicht Jim aus 28 Days Later. Die Ähnlichkeit wird wohl dennoch nicht rein zufällig gewählt worden sein. Dies ist noch einmal weniger verwundernd, da auch Jim-Darsteller Cillian Murphy (immerhin die Rolle, die in weltweit bekannt machte damals) mit an der Produktion von 28 Years Later beteiligt war. Auch auf die Frage, ob es einen finsteren Kult gibt, der die Toten verehrt, wird es eine Antwort geben, die vielleicht ein wenig ernüchternder ist als das, was man sich nach dem Trailer vorgestellt hat. In Wahrheit hat der Trailer wirklich sehr wenig von dem Film preisgegeben. Mit 28 Years Later ist hingegen ein größtenteils außergewöhnlicher Exkurs in eine fremde, neue Welt entstanden. Ein Film, der das macht, worauf er Lust hat und die Zuschauer mitnimmt auf diese beklemmende, bedrückende, zeitgleich aber auch wunderschöne Reise in eine postapokalyptische Welt.

Gleichzeitig wird aber auch eine Frage beantwortet, die den Vorgänger 28 Weeks Later betrifft. Endete der Film damit, dass das Wut-Virus sich bis nach Frankreich ausgebreitet hat. Diesen Punkt haben Boyle und Garland gemeinsam gestrichen und widerrufen. Weder Boyle noch Garland waren mit Ausnahme kleinerer Feinheiten an 28 Weeks Later beteiligt und hatten somit keine kreativen Freiheiten. Boyle, der als Regisseur unpässlich war da er an Sunshine beschäftigt war, wählte persönlich den spanischen Regisseur Juan Carlos Fresnadillo aus während Garland einige Instruktionen für den Verlauf der Story gab. Boyle äußerte sich zuletzt, der Charme der Reihe würde darin liegen, dass die Geschehnisse komplett im Raum Vereinigtes Königreich spielen würden und was die beiden Vorgänger eindrucksvoll bewiesen hätten. Weder Boyle noch Garland sahen einen Reiz darin, die Story auf andere Teile der Welt auszuweiten und dafür bin ich sehr dankbar, denn ich gehörte bereits damals zu denen, die den Paris-Twist am Ende des zweiten Films nicht wirklich begrüßt hatten. Etwaige Anschlussprobleme hat 28 Years Later dadurch keine, da es für den Film kaum eine Rolle spielt, inwieweit das Virus noch irgendwo anders auf der Welt wütet und wie man es international bekämpft, ob an einem Heilmittel gearbeitet wird (ein weiteres Details aus dem Vorgänger, welches gestrichen wurde, eine natürliche Immunität gegen das Virus) und wieso das Vereinigte Königreich nicht einfach zu einem kompletten Sperrgebiet wird. Man hält sich hier bewusst bedeckt, serviert keine wissenschaftlichen Analysen und verschwendet somit auch keine wertvolle Spielzeit.

Stattdessen geht 28 Years Later wieder zurück zu den Wurzeln der Reihe. War der zweite Teil deutlich actionorientierter, das Ausmaß der Katastrophe bereits globaler geprägt, kehrt 28 Years Later zurück zu den kleineren Einzelschicksalen. In diesem Film dargestellt durch eine kleine Kommune auf einer schottischen Insel, die ihre völlig eigene Parallelgesellschaft gegründet hat. Im Fokus steht hier die Familie rund um Jamie (Aaron Taylor-Johnson), seiner Frau Isla (Jodie Comer) sowie ihr zwölfjähriger Sohn Spike (Alfie Williams). Das derzeitige Familienverhältnis ist angespannt. Isla, geistig völlig verwirrt und anscheinend schwer krank, hat sie nur noch selten klare Momente und ist bettlägerig. Somit dreht sich vorerst ein großer Teil der Geschichte um Jamie und Spike, der seinen Sohn nun das erste mal zum Festland mitnehmen möchte, eine Art Ritual, die Jungs im Teenageralter in dieser Kommune leisten müssen, um später als erwachsene für die Beschaffung von u.a. Rohstoffen zu sorgen. Gemeinsam mit Jamie macht sich Spike, jünger als andere Kinder, die diesen Schritt gehen müssen, auf zum gefährlichen Festland.

Genau schon so wie beim Erstling ist der Plot per se überschaubar komplex und wirkt wenig anspruchsvoll. Viel wichtiger und interessanter sind einmal mehr die zwischenmenschlichen Interaktionen der Charaktere untereinander. Insbesondere das Verhältnis zwischen Spike und seinem Vater und später zu seiner Mutter, zu der er einen deutlich größeren Draht zu haben scheint. Wer hier eine exakte "The Last of Us" Kopie erwartet, wird schnell eines besseren belehrt werden. 28 Days Later ist kein Island-Hopping-Abenteuer zwischen Vater und Sohn, es mündet stattdessen in eine deutlich andere Richtung. Hier möchte ich dann auch einfach nicht zu viel vorwegnehmen. Ist das Schauspiel von Johnson wie auch Comer auf einem enorm hohen Niveau, so darf man sich im späteren Verlauf noch auf eine herausragende Darbietung von Ralph Fiennes freuen.

Stilistisch ist der Film kaum vergleichbar mit 28 Weeks Later. Ähnlich wie 28 Days Later ist 28 Years Later experimentell, jedoch experimentell auf seine eigene Art. Der Film spielt mit vielen Ideen, hier sei jetzt schon gesagt, nicht jede Idee funktioniert aber man ist nicht scheu, so viel wie möglich auszuprobieren und fast immer ist dies lohnenswert für den Film als ganzes wie auch für die Zuschauer. Was nicht bedeutet, dass der Film nicht anecken wird. Dies müssen Boyle und Garland wieder einmal eingeplant haben, denn konventionell ist kein Begriff, mit dem man 28 Years Later beschreiben könnte. Wir erleben hier typische Danny Boyle Momente, die in seinen besten Momenten an Trainspotting erinnern. Gleichzeitig bekommen wir, was den abstrakten, teils surrealen Part des Films angeht, aber auch einiges von Alex Garlands Werken zu sehen. Allen voran den überraschend gelungenen Annihilation.

Mit brillanter Musikuntermalung der Musikgruppe Young Fathers werden wir als Zuschauer auf eine seltsam beklemmende, zeitgleich wunderschöne Reise mitgenommen. Die Landschaftsaufnahmen sind zu jeder Zeit passend, immer mit passender Musik untermalt und erwecken Gefühle von Einsamkeit, Melancholie und Furcht. Und die lauert überall in diesem Film. Überall kreucht und fleucht es, wir nehmen die Geräusche wahr und sehen anschließend grauenhafte Gestalten über den Boden robben oder bizarre Bodybuilder-Infizierte, die wirken, als kämmen sie gerade vom Gewichtheben aus dem Fitnessstudio. Und dabei geizt auch 28 Years Later einmal mehr nicht mit blutigen Effekten, die die hohe Altersfreigabe mehr als einmal rechtfertigen. Die Effekte arten im Gegensatz zum Vorgänger nicht in Splatter-Orgien aus, gehen dafür aber deutlich mehr ins Detail.

In seltenen Momenten verliert der Film dann aber auch mal sein eigentliches Ziel aus den Augen und tröpfelt ein wenig vor sich hin oder aber die Handlungen der Charaktere sind schwer nachvollziehbar. Besonders Momente, wie es einem zwölfjährigen Jungen gelingt, eine gesamte Kommune, stets in Alarmbereitschaft, zu übertölpeln um anschließend wenige Minuten später mit seiner kranken, geistig verwirrten Mutter auf das Festland zu flüchten, obwohl er lediglich einmal zuvor dort war. Dies wirkt unglaubwürdig und vor allem des Filmes unwürdig. Dies sind aber seltene Momente. Fast durchgehend macht 28 Years Later jedoch das beste aus seiner knapp zweistündigen Laufzeit.

Die Kritik bringt mich aber zeitgleich auch ins grübeln. Wir alle wissen mittlerweile, dass es sich hier um einen Zweiteiler handelt. Teil 2 soll wohl bereits abgedreht sein und wird unter der Regie von Nia DaCosta unter Aufsicht von Boyle und Garland entstehen. DaCosta gilt besonders durch ihre Regiearbeit an "The Marvels" als nicht unumstritten, konnte sich aber zuvor einen Namen mit ihrer Neuinterpretation von Candyman machen. Wieso ich hier anfange zu grübeln, ist, wäre 28 Years Later vielleicht eine noch bessere TV-Serie geworden? Es hätte sich im heutigen Zeitalter angeboten. Aber besonders mangels eigenem Streaming-Dienstes dürfte die Option für Sony wohl eher unattraktiv gewesen sein. Generell ist es eine Überraschung, dass Sony den Film in seiner jetzigen experimentellen Form so durchgewunken hat, während ein Film im Stile des zweiten Teils vielleicht noch deutlich mehr Leute in die Kinos gelockt hätte. Und hier mache ich mir jetzt schon Sorgen, ob die Geschichte überhaupt noch Potential für den kommenden zweiten Teil "The Bone Temple" hat, oder ob dem Konzept die Luft ausgehen wird in Filmform. Bereits in diesem Teil bekommt man zu Beginn und den höchst fragwürdigen letzten 5 Minuten einen kleinen Vorgeschmack auf den Titelgebenden "Bone Temple". Auch in einer Zeit, wo es direkte Fortsetzungen im Kino grundsätzlich schwer haben, wird die Herausforderung für 28 Years Later als Filmprojekt sicherlich nicht einfacher. Trotz meiner Bedenken möchte ich zu gerne sehen, wie die Fortsetzung diese Herausforderung meistern wird. Dennoch bleibe ich dabei, dass das Medium TV-Serie für 28 Years Later verführerisch attraktiv gewesen wäre. Die gut geschriebenen Charaktere und Darsteller hätten es nicht nur zugelassen, in diesem Format hätte es auch nochmal deutlich mehr Spielraum für Charaktertiefe geben können.



Fazit

Ich gehe nicht mehr häufig ins Kino. Die Filme werden sorgfältig ausgewählt und dann möchte ich im besten Szenario etwas außergewöhnliches sehen. Dies bekommt man bei Danny Boyle häufig und nur selten weiß man bei ihm, was man überhaupt bekommt (James Bond bekommen wir von Danny Boyle zum Beispiel nicht, auch wenn die Kombi Boyle und Aaron Taylor-Johnson verdammt gut ist). 28 Years Later erfüllt all meine Kriterien für einen außergewöhnlichen Film. Ein Genre-Mix aus Horror, Drama und ein wenig Exploitation, versucht sich der Film in vielerlei Dingen. Wie erwähnt funktioniert nicht immer alles davon, aber das ist auch gar nicht das Ziel eines solchen Films. In einem durchgekauten Genre schaffen es Boyle und Garland nach dem Erstling erneut, die Magie noch einmal neu zu entfachen. Noch einmal etwas anderes zu machen als all die anderen. Was für Romero Diary of the Dead wie auch Survival of the Dead war, ist 28 Years Later für sein ganz eigenes Franchise. Nicht jedem wird das gefallen. Vielleicht wird es für einige auch Liebe auf dem zweiten Blick. Aber ganz sicher wird 28 Years Later für die Mehrheit ein Filmerlebnis sein, welches in Erinnerung bleiben wird. Eine fast schon spirituelle Tour de Force, ein angenehmer wie beklemmender Fiebertraum, der seine Zuschauer absorbiert und bis zum Abspann (oder eben den letzten 5 Minuten) nicht mehr loslässt. Meine Bedenken für die direkte Fortsetzung bleiben aber bestehen, sofern man hier nicht noch irgendwelche ungeahnten Tricks auf Lager haben sollte.

Montag, 28. April 2025

Podcast Review: Mein Universum/Mein Glaube (Rainer Winkler)

 




Aus dem Jahr 2025


Mein Universum/Mein Glaube
Genre: Schöpfungsgeschichte, Fantasy, Philosophie, Slice of Life
Host: Rainer Winkler
Produktion: N.v.
Verfügbarkeit: Spotify
Sprache: Deutsch
Episodenzahl: Aktuell 3 Episoden + Einleitung
Laufzeit: Zwischen 15-30 Minuten



Hörempfehlung eines Freundes, der mich nach meiner ehrlichen Meinung fragte, weil ich gerne Podcasts höre. Die Hörempfehlung, die nie eine ernstgemeinte Hörempfehlung war, wurde zur Mutprobe. Eine Challenge, die ich angenommen habe, weil ich meine noch verfügbare Konzentration und Auffassungsgabe testen wollte. Nach Beendigung der 3 Episoden und der kurzen Einleitung blieb ich verdutzt sowie ratlos über das zurück, was ich mir da gerade angehört habe.

Erstmal musste ich mich mit der Materie vertraut machen, worin ich nie großartig involviert war. Aber wer ein bisschen Online unterwegs ist, weiß, dass Rainer Winkler eher unter dem Pseudonym Drachenlord zu finden ist. Ehemalige kontroverse deutsche YouTube Persönlichkeit, zeitgleich aber auch, darf ich in diesem Review nicht verschweigen, verurteilter Straftäter. Egal, was mir vom Drachenlord mal zugeflogen kam, positiv war das nie. Nun aber genug zu der Person Rainer Winkler. In dieser Besprechung möchte ich mich dem Künstler Rainer Winkler widmen, der hier eine Art neues, religiös angehauchtes Kunstprojekt entworfen hat, welches aus einem Podcast und einem Blog besteht. Immer wieder redet Winkler im Podcast davon - dem Blog. Er verweist auf ihn, um das Gesamtwerk zu verstehen, seine Ideen nachvollziehen zu können. Besagten Blog habe ich mir angesehen und kann bestätigen, er trägt nichts zum zusätzlichem Verständnis des Podcast bei, verwirrt eher und die dort präsentierten Inhalte sind nicht nur mehr als fragwürdig, sondern so heikel, dass ich erst gar nicht zu diesem Blog verlinken werde. Es steht jedem Leser natürlich frei, danach zu suchen.

Das Kuriosum an diesem Podcast: Sowohl die Einleitung als auch die ersten beiden Episoden des Podcast "Mein Universum/Mein Glaube" wurden nicht von Winkler selbst, sondern von der KI Männerstimme "Hans" vertont, die hier ihr bestes gibt, das verworrene Script des Hosts wiederzugeben. Erst in Episode 3 gibt sich Winkler als Host mit seiner eigenen Stimme zu erkennen, kündigte aber an, dass das nicht zur Gewohnheit werde. Die letzte veröffentlichte Folge stammt von Ende März und niemand weiß, ob er dieses Projekt überhaupt fortsetzen wird. Und überhaupt macht es keinen großen Unterschied, welche Episode man hört, denn jede aufgenommene Episode läuft nach dem exakt selben Muster ab.

Lediglich in Episode 1 geht der Host etwas auf das Thema ein und was ihn zu dieser Idee bewogen hat. Hier muss vielleicht für den Kontext erwähnt werden, laut meinen eigenen Recherchen plante Winkler vor einiger Zeit, eine eigene Kommune, die sogenannte "Kommune der Freiheit" zu gründen, wo jedes Mitglied so leben darf, wie es ihm gefällt. Aus dem Torso dieser Idee scheint er nun diesen Podcast sowie den besagten Blog entworfen zu haben. Aber: Die tatsächliche Idee für das Projekt lieferte Winkler der Kult-Klassiker "Last Action Hero" von John McTiernan und mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle. Wer jetzt verwirrt ist, hat allen Grund dazu. Was genau der Host hier nun plant, bleibt einem komplett verborgen. Auf eine Art möchte man glauben, Winkler kreiert hier gerade das Szenario für ein Pen & Paper Rollenspiel. Fast schon penibel genau erklärt er in allen 3 Episoden Regeln für sein geschaffenes Universum und stellt auf seinem Blog Fantasie-Figuren vor, die aus zahlreichen Mythologien stammen oder er sich selbst ausgedacht hat. In Winklers Universum, in das man wiedergeboren werden kann, mehrmals, unzählige Male, sei angeblich jeder Willkommen.

Und die zündende Idee dafür war ein Actionfilm mit Arnie? Ja! Obwohl der Host in jeder einzelnen Episoden in wirre Isekai-Phantasien abdriftet (ein Begriff aus der Anime-Szene), scheint der besagte Film mit Schwarzenegger aber der Ideengeber gewesen zu sein. Alles geht davon aus: "Was wäre, wenn eine fiktive Figur gar nicht fiktiv ist sondern jede fiktive Figur ein eigenes Leben hat und somit wirklich existiert?" Dabei verstrickt sich Winkler in religiöse Themen, Ungerechtigkeit auf der Welt, Schöpfungsgeschichte und anderen "wichtig-relevanten" Themen. Immer wieder driftet er zwischen diesen Themen ab, springt hin und her - dabei verwandelt sich jedes noch so kleine Fünkchen Kohärenz des Scripts für eine Podcast-Episode in einen verworrenen, surrealen Albtraum. Besonders die philosophisch angehauchten Gedankengänge sind entweder nicht nachvollziehbar oder von einer kindlichen Naivität geprägt, dass man meinen könnte, diese Gedankengänge würden von einem Grundschüler stammen, der nun die zweite Klasse besucht.

In Episode 3 fängt Rainer Winkler dann mit unsicherer Stimme an zu reden. Konnte man der KI Männerstimme Hans noch halbwegs folgen, da sie klar redet, bebt Winklers eigene Stimme vor Nervosität, ist durch einen starken fränkischen Dialekt schwer zu verstehen und immer wieder verhaspelt sich der Host von einer Zeilen zur nächsten. Noch immer ist aber nicht klar, was er hier präsentieren möchte. Rainer Winklers eigenes Universum soll eine Welt nach dem Tod werden, in der jeder Platz hat. Man darf sich aussuchen, als welches Wesen man wiedergeboren werden möchte. Über alles thronen zudem unsterbliche Götter, die natürlich nicht zur Auswahl stehen bei einer Wiedergeburt eines normalen Menschen. Weniger überraschend ist aber, dass der Schöpfer, also Rainer Winkler, exklusive Privilegien hat. Was im Podcast als Sammelsurium an philosophischen Ideen beginnt (zum Beispiel, "Leben wir in einer Simulation" oder "Sind wir der Traum eines schlafenden Riesen?"), driftet später immer weiter in etwas ab, was man schon als Fantasy-Sekte deklarieren kann. Alles, was ich zu Winklers gescheiterten "Kommune der Freiheit" in Erfahrung bringen konnte, scheint er hier in diesem Podcast-Fiebertraum unterzubringen.


Resümee

Auch in Episode 3 und mit Kontext auf den besagten Blog wird nie so ganz klar, wie Rainer Winkler sein geschaffenes Universum umsetzen möchte. Wüsste man nicht genau, welche Person dahintersteckt, könnte man meinen, man habe es hier mit einem kryptischen Online-ARG zu tun und zur Entschlüsselung des Rätsels werden die klügsten Köpfe benötigt. Aber das ist nicht der Fall. Was man hier in etwas über 60 Minuten Spielzeit geboten bekommt sind realitätsferne, geistig wertlose Ergüsse, die keinen Sinn ergeben. Nicht einmal aus rein hypothetischer Sicht. Das einzige, was ich hier sehe, ist anscheinend eine Gefährdung der geistigen Gesundheit durch den Film "Last Action Hero", der in Deutschland bereits ab 12 Jahren freigegeben ist.

Möge es bitte bei diesen 3 Episoden bleiben.